Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

01 2012

Die Ressourcenkrise und ihr Verhältnis zu den globalen Auswirkungen der Wissensökonomie

Lina Dokuzović

Übersetzt von Nina Höchtl und Birgit Mennel

Die Finanzkrise hat sich global niedergeschlagen, was „die Krise“ von den hoch kapitalisierten Weltgegenden bis hin zu den sogenannten „Entwicklungsländern“ zu einem Begriff werden ließ. Ebenso wie der Kapitalismus durchdringt auch die Krise alle Lebensbereiche. Doch während es in der Krise der „entwickelten“ Welt hauptsächlich um Finanzkapital, Subprime-Kredite und Banken geht, verbirgt sich hinter diesen immateriellen Vermögenswerten eine sehr reale Krise materieller Ressourcen; diese Wirklichkeit bedeutet einen Verlust von Existenzgrundlagen weltweit. Um die Finanzkrise zu verstehen, muss sie in einen Zusammenhang mit der gegenwärtigen Phase des globalen Kapitalismus gestellt werden; das heißt, sie ist in Verbindung damit zu sehen, wie sich der globale Kapitalismus angesichts knapper materieller Ressourcen wie fossile Brennstoffe, sauberes Wasser oder fruchtbare Böden anpasst und neu erfindet.

Mit der uneingeschränkten Deregulierung der Märkte und der geringen Beachtung, die den Effekten einer solchen Deregulierung geschenkt wird, erschöpfen sich langsam auch jene materiellen Ressourcen[1], die noch nicht ihren Spitzenwert erreicht haben; dies legitimiert einen ganzen Komplex von umfassenden finanziellen Einschnitten und ist außerdem eine Rechtfertigung für den politischen und ökonomischen Fokus auf jene Technologien und Innovationen, die für neue Nutzungsmethoden von Energieerzeugung, Transportsystemen, Wasser und Nahrung benötigt werden. All das soll von jenem Wissen befördert und entwickelt werden, das in den Räumen der Wissensökonomie produziert und gehütet wird. Neben Europa versuchen auch die USA, Australien und der Maghreb,[2] wettbewerbsfähige Wissensökonomien aufzubauen – ihnen gelten die Krise als Ursache und die Räume der Hochschule als Allheilmittel gegen die „Krankheit“ der Krise. Diese Wissensökonomien sollen beide Seiten der Krise adressieren: Sie sollen zum einen die finanzielle und technologische Innovation einer profitorientierten Produktion stärken und zum anderen konkrete Ressourcen nutzbarmachen und die dementsprechende Planung entwickeln – und all das während sie unter dem Banner der „Bildungskrise“ formiert und reformiert werden.

In der Moderne galt Wissen als Vermögenswert des Staates; in den gegenwärtigen Verhältnissen wird es indes zu einem Aktivposten des Supranationalen. Einerseits spielen die Universitäten nicht nur eine bedeutende Rolle bei der Produktion von Profit durch zunehmend deregulierte Studiengebühren, die zur Verschuldung der Studierenden führen; andererseits haben sie auch eine Funktion im Rahmen der expansiven Sparmaßnahmen, die einen globalen Wettbewerb schaffen, der von Einzelpersonen bis hin zu Abteilungen, von Instituten bis zu Universitäten sowie vom City Branding bis zum Nation Branding reicht und die supranationale Entwicklung vorantreibt. Eine über das Finanzkapital hinausreichende Krise wird indes auf der letztgenannten Ebene sichtbar. Der Europäische Hochschulraum (EHR), Europas wettbewerbsfähiger Raum der Wissensökonomie, hat einen Ort geschaffen, in dem Forschung und technologische Entwicklung (FTE) zum Schutz von Innovation und Ressourcen die Schlüsselfaktoren sind für die Aufrechterhaltung einer wirtschaftlichen und politischen Bastion. Diese Politiken dienen als Rechtfertigung für die aggressive Kontrolle der Bewegung von Menschen und der Innovationen, die diese mit sich bringen mögen –mit unterschiedlichen Graden der Vertreibung und Dislozierung als Ergebnis dieser Aufteilungen. Gegenwärtige Wissenspolitiken – heute als Räume von Komplizenschaft sowie von Konflikt und Solidarität – werden somit zu einem wichtigen Ort für die Untersuchung eines weitreichenderen Netzes globaler Politiken. Dieser Aufsatz zeichnet somit die Geschichte wissenspolitischer Agenden nach, um sich kämpferischen Perspektiven zu nähern und das Wissen sowohl aus der Sicht der formalen Forschung darzustellen wie auch aus der Perspektive jener Kämpfe um Wissen, an denen ich beteiligt war.


Die „Bildungskrise und die Verlagerung ins Supranationale

Die Unterzeichnung der Bologna-Erklärung im Jahr 1999 führte zu einer einzigartigen Partnerschaft zwischen einzelnen Nationalstaaten und privaten Aktionären. Diese Partnerschaft sollte sich auf einer supranationalen Ebene niederschlagen und als Bologna-Prozess die bisher umfassendste, globalisierte Reformwelle für den Hochschulbereich markieren. Der EHR wie auch die Reformen des Bologna Prozesses, die zur Etablierung dieses Raum führten, verlagerten nationale und transnationale Bildungspolitiken merklich auf eine supranationale Ebene. Die Spuren dieses Prozesses lassen sich indes bis lange vor der Gründung der EU zu frühen europäischen supranationalen Formierungen zurückverfolgen. Diese Geschichte ist von entscheidender Bedeutung für ein Verständnis der Struktur der europäischen Wissensökonomie und ihrer weitverbreiteten Folgen heute. Ich werde daher zunächst jenem Prozess nachspüren, in dem die gegenwärtige Universität in Verbindung mit diesen territorialen Verlagerungen ausgeformt wurde; im Anschluss daran werde ich einer anderen Zeitlinie folgen und aufzeigen, wie Wissenspolitiken in Krisenzeiten (re)formiert wurden, um einen supranationalen Wettbewerb zu befördern.

Der Bologna-Prozess wurde an der Universität von Bologna – die als erste „Europäische Forschungsuniversität“ und als „Mutter aller Universitäten“ gilt – von den MinisterInnen für Hochschulbildung unterzeichnet werden. Die Universität von Bologna wurde 1088 als ein Symbol der nationalen Einheit Italiens gegründet; sie begründete ein universitäres Modell, das sich im Gegensatz zum früheren, auf römisch-katholischen Kirchenschulen basierenden mittelalterlichen Universitätsmodell auf Wissenschaft und Forschung konzentrieren sollte. Dieser Fokus auf die Forschung erlebte mit der Etablierung der „modernen Universität”[3] einen weiteren Höhenpunkt. [3]

Mit dem Anbruch der Moderne entstand auch der Nationalstaat und es kam zur Formierung der modernen Universität.[4] Die Grundlagen der modernen Universität sollten mit dem Modell von Humboldt gelegt werden; diese wurde 1810 in Berlin als bewusst politisches Projekt zur Schaffung einer expansiven Wissensproduktion gegründet. Die Rolle von Forschung und Naturwissenschaften sollte mit ihrem zentralen Grundsatz einer „Vereinigung von Lehre und Forschung in der Arbeit der jeweiligen Studierenden oder Wissenschaftler_innen”[5] zu einem Vorbild für den Rest Europas werden. Dies hatte einen merklich veränderten Begriff von Wissensproduktion zur Folge, der frühkapitalistische Vorstellungen von individueller Freiheit ebenso anpries wie die Verbundenheit der Einzelnen, wenn es darum ging, den „Wissensreichtum“ des Nationalstaats zu vermehren.

Auf die Etablierung der modernen Universität sowie ihrer Beziehung zur Nation folgte ein langer Reformprozess, der die Ziele der modernen Universität auf eine transnationale und supranationale Ebene verlagerte. Im Jahr 2010, dem zweihundertjährigen Geburtstag der modernen Universität, wurde das europäische supranationale Modell für Hochschulbildung, der EHR, während einer auf die Budapest-Wien Konferenz folgenden Feier in Wien „eröffnet“. Der Europäische Hochschulraum wurde durch den Bologna-Prozess implementiert, um, wie man sagt, gegen die gegenwärtige „Bildungskrise“[6] Abhilfe zu schaffen. Diese Redensart ist insofern von Bedeutung als ihre Entschlüsselung ein Schlaglicht auf eine Geschichte von Bildungspolitiken wirft, das zur Klärung der damit zusammenhängenden Verfassung der „Krise” heute beiträgt. Dies vorliegende Analyse wird daher in weiterer Folge jene Reformen umreißen, die in Verbindung mit diesen „Krisen“ umgesetzt wurden, um die Entfaltung eines supernationalen Wettbewerbs zu befördern.

Der Begriff „Bildungskrise” wurde auf politischer Ebene erstmals mit der Einführung des US-amerikanischen Verteidigungs- und Bildungsgesetzes von 1958 verwendet. Es leitete einen Prozess ein, in dem Bildungspolitiken im Rahmen eines transnationalen Wettbewerbs zur Begründung des Status einer Supermacht zum Einsatz kamen. Dieser Prozess sollte später – im Zuge der Entwicklung eines supranationalen Wissensraums – eine bedeutende Rolle spielen. Das oben erwähnte Gesetz bildete die Grundlage für private Investitionen auf allen Ebenen des Bildungssystems zur Förderung technologischer Entwicklungen, indem der wissenschaftlichen und mathematischen Forschung mehr Augenmerk geschenkt und der Bildungsprozess von der Kindheit bis nach der Promotion beschleunigt wurde. Das als „Soforthilfe“ deklarierte Gesetz verminderte erstmals die Bundesaufsicht; es ermöglichte einen Boom von zinsgünstigen Krediten und schuf die Grundlage für eine Homogenisierung der Lehrpläne. Es sollte eine Struktur festlegen, welche die spätere Reformpolitik in den USA ermöglichte und sich als Modell für Bildungsreformen im Ausland anbot.[7]

Ursprünglich war die Implementierung dieser „Soforthilfe“ indes eine Reaktion auf die Inbetriebnahme der Sputnik im Jahr 1958 durch die UdSSR. In den USA erfolgten 1958 zwei wichtige Reformprozesse als Reaktion auf die Sputnik-Krise sowie als Mittel, um in den Wettlauf ins All einzusteigen und dadurch während des Kalten Krieges als Supermacht eine Vormachtstellung zu erlangen.[8] Der erste Prozess erfolgte in der Bildung; der andere als die gleichzeitig stattfindende drastische Umwandlung des bisher kleinen National Advisory Committee for Aeronautics (NACA) in eine der weltweit größten Forschungseinrichtungen, die National Aeronautics and Space Administration (NASA). Die technologischen Entwicklungen im Zuge des Wettlaufs ins All darf nicht unterschätzt werden. Sie charakterisiert jene Ära, in der es den USA gelang, sich nach dem zweiten Weltkrieg wieder als technologische Macht sowie als wirtschaftliche und politische Supermacht zu etablieren. Bis heute liefert die in der NASA durchgeführte Forschung einige der bedeutendsten FTE in den Bereichen Transport und Kernenergienutzung.

Für ein vom Krieg zerrissenes Europa war der Prozess der Umstrukturierung und der wirtschaftlichen, politischen und technologischen Stärkung nach dem 2. Weltkrieg von großer Bedeutung. 1958 sollte auch in Europa ein umfassender Reformprozess erfolgen. In diesem Jahr traten die Römischen Verträge in Kraft, die von Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Westdeutschland unterzeichnet wurden. Diese Verträge führten zur Gründung von zwei internationalen Organisationen, die auf dem Prinzip des Supranationalismus basierten: der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM), die beide nach dem Vorbild des früheren und ersten supranationalen Modells, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), entwickelt wurden. Die EGKS, die den „Krieg nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ machen sollte, hatte es sich zum Ziel gesetzt, ein einheitliches Westeuropa zu schaffen, in dem der Zugang zur Kohle- und Stahlproduktion auf einem gemeinsamen geschützten Markt erfolgte. Es war wesentlich, die Kohle- und Stahlindustrie zu schützen, da sie für die Munitionsherstellung notwendig war. Die EGKS musste auch die erhöhte Produktion sicherstellen, die für die europäischen Ambitionen in Afrika notwendig war. [9] Die EGKS weitete sich als supranationale Organisation in die EWG und die EURATOM aus, die auf der Sicherung von Ressourcen und der frühzeitig liberalisierten Strukturen zur Beseitigung von Handelsbarrieren für Rohstoffe, Waren und Dienstleistungen basierten; diese beiden Verträge bildeten später die Grundlage für den Vertrag von Maastricht, den Gründungsvertrag der EU. Bislang haben alle Verträge der EU die Römischen Verträge erweitert. Darüber hinaus fallen alle aktuellen die Kernenergie betreffenden Fragen unter den ursprünglichen EURATOM-Vertrag.

Während die EWG zur EU ausgebaut wurde, existieren die ursprünglichen Ziele der EURATOM heute als International Thermonuclear Experimental Reactor (ITER), ein Kernfusionsreaktor in Cadarache in Frankreich. Ebenso wie die EWG parallel zur EURATOM gegründet wurde, um die Vorherrschaft der europäischen Kerntechnik voranzutreiben, werden nunmehr auch der ITER und die dafür notwendige Forschungs- und Technologieentwicklung durch die gleichzeitig stattfindende Entwicklung und Erweiterung der EU unterstützt. Es wird erwartet, dass der ITER bis 2050 die treibende Kraft für Energie in Europa sein wird. [10]  Der ITER und die dort durchgeführte nukleare Entwicklung arbeiten eng mit der Europäischen Weltraumorganisation zusammen; es handelt sich dabei um die wesentlichsten Schwerpunkte des europäischen Forschungsraums (EFR), der sich teilweise mit dem EHR überschneidet. [11] Angesichts der Tatsache, dass die Abschlussfeierlichkeiten anlässlich der Eröffnung des ersten formell installierten supranationalen, wissensbasierten Raums in der Wiener Hofburg stattfanden, einem historischen Symbol des europäischen imperialen Expansionismus, ist es sicherlich beachtenswert, dass Wien auch den Sitz der Europäischen Atomenergiebehörde innehat.[12]


Transnationale Entwicklung

Obgleich Wissen und technologische Entwicklungen eine wichtige Rolle in der Stärkung der Weltsupermächte spielten, zog die zweite „Bildungskrise“[13] eine Welle von Reformen nach sich, die außerhalb dieser Gebiete, nämlich im globalen Süden implementiert werden sollten; diese Krise trat in eben jenem Moment ein, als erklärt wurde, dass die natürlichen Ressourcen beschränkt seien, also im Zuge der Öl- und Schuldenkrise sowie der Stagflation der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. Diese neue Welle von im Namen der „Entwicklung“ stattfindenden Reformen wurde von Nationen und multinationalen Finanzinstitutionen, die während des Kalten Krieges gestärkt worden waren, in entlegenen postkolonialen Nationen losgetreten. Dies erfolgte zu einer Zeit, als sich die Ökonomien „entwickelter“ Länder vor neue Herausforderungen gestellt sahen, wohingegen die meisten Krisen ihren materiellen Ausgangpunkt in den sogenannten „Entwicklungsländern“ bzw. in den „unterentwickelten“ Ländern des globalen Südens hatten.

Damit das durch den Krieg verwüstete Europa zu einem wirklichen Konkurrenten aufgebaut werden konnte, entwickelten die USA das Bretton-Woods-System, das zur Etablierung der Weltbank sowie des Internationalen Währungsfonds (IWF) führte. Trotz der technologischen Überlegenheit der USA, die dem Wettlauf ins All und dem Wettrüsten im Kalten Krieg geschuldet war, entwickelten sich im Zuge des wirtschaftlichen und politischen Umstrukturierungsprozesses in Europa gemeinsame Interessen in Bezug auf die Nutzbarmachung natürlicher Ressourcen und die Öffnung der Märkte in den entlegenen Regionen des globalen Südens. Viele dieser postkolonialen Nationen begannen in ihren eigenen Umstrukturierungsprozessen kommunistische oder sozialistische Tendenzen auszubilden. Ein spezifische Paket von Reformpolitiken, das sich in Form von Entwicklungshilfe niederschlug, bildete indes die Grundlage für die Öffnung der Märkte, die in den 1980ern als Strukturanpassungsprogramme (SAP) implementiert wurden; diese Öffnung war eher an den Richtlinien der Weltbank und des IWF orientiert, denn an den Direktiven des Sozialismus. Diese Reformen führten zu einer zunehmenden Privatisierung und Deregulierung von Wirtschaft und Rechtsansprüchen sowie zur Lockerung der Barrieren für ausländische Investitionen. Die Bildungsreform spielte in den SAP eine zentrale Rolle.

Die Auswirkungen der systematischen Privatisierung aller Rechtsansprüche – wie etwa Bildung, Gesundheit, Transport, Beschäftigung oder sogar Land und Wasser –,  die mit den SAP ihren Niederschlag fanden, sind bis heute in starkem Ausmaß spürbar; dies ist einem finanziell selektiven Zugang zu Gesundheit, Bildung und Land ebenso geschuldet wie einem komplexen Netz von lokaler Korruption, die durch diesen Prozess befördert wurde. George Caffentzis stellt fest, dass „die Folgen der SAP bereits 1986 nur allzu offensichtlich waren. Die Sozialausgaben in den subsaharischen afrikanischen Ländern (einschließlich der Bildungsaufwendungen) sanken zwischen 1980 und 1985 um 26%. Statistiken zeigten, dass die Einschreiberaten [an den Bildungsinstitutionen] in vielen Ländern zum ersten Mal in ihrer Geschichte rückläufig waren.“[14] Diese drastischen Maßnahmen führten also zu einer größeren Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten, was sich in steigenden Kosten für Bildungs- und Forschungseinrichtungen für die Eliten auf der einen Seite niederschlug und in einer wachsenden Masse von ungelernten ArbeiterInnen auf der anderen. Den zahlreichen Protesten gegen die SAP an den Universitäten, die auf die Reformen folgten, wurde mit harter Polizeirepression und mit Tötungen begegnet. Eine Hinterlassenschaft davon war die ständige Präsenz von Polizei oder Armee auf dem Campus oder im Umfeld der Universitätsgelände; zudem wurden die Klassen regelmäßig mit InformantInnen infiltriert, während die staatliche Finanzierung der Universitäten unter dem Vorwand eines Abbaus der Repression eingestellt wurde. [15] Caffentzis kommt zu dem Schluss, dass: „[…] die zentrale Rolle des afrikanischen Staates darin besteht, die für die Umsetzung der SAP erforderliche repressive Kraft zur Verfügung zu stellen.“[16]

Die Strukturanpassungsprogramme ebneten erfolgreich den Weg und waren ein Testgelände für künftige Reformpakete in der Hochschulbildung in anderen Teilen der Welt. Sie stellten unter Beweis, dass mit höherem Bildungsgrad auch die soziale Rendite und, was noch bedeutender ist, die Rendite im privaten Sektor steigt. Die Weltbankforschung behauptet zudem, dass Sparmaßnahmen „die Wettbewerbsfähigkeit steigern“, und zwar nicht nur zwischen individuellen WissenschaftlerInnen oder ArbeiterInnen. Sie erhöhen die Attraktivität für ausländische Investitionen in jene ArbeiterInnen, die auf dem internationalen Markt zu den niedrigsten Preisen tätig sind. [17] Caffentzis erläutert die Folgen dieser Politik so:

„Die afrikanische Jugend ebenso wie ihre AltersgenossInnen in allen anderen Teilen der Welt, hält Bildung für den Schlüssel zu einem besser abgesicherten Leben und zu einer besseren Zukunft; sie bringen daher große Opfer für ihre Bildung. [.…] Wie aber sollen Familien und Gemeinschaften [für Bildung] zahlen können, wenn die Löhne unter dem Existenzminimum eingefroren werden und wenn sich die Weltbank und der IWF auf eine weitere Reduktion der Arbeitskosten eingeschworen haben? Ein Kreditsystem, das einer großen Gruppe von Studierenden Darlehen gewährt, kann nur dann funktionieren, wenn die Reallöhne im Verhältnis zum gegenwärtigen Niveau stark angehoben werden. Der eigentliche Zweck der SAP besteht jedoch darin, die Arbeitskosten zu senken, um die Wettbewerbsfähigkeit afrikanischer ArbeiterInnen auf dem internationalen Arbeitsmarkt zu steigern. Dies bedeutet, dass über einen langen Zeitraum hinweg – wenn überhaupt jemals – nicht mit einem Steigen der Reallöhne gerechnet werden kann, wenn man berücksichtigt, dass die Weltbank und der IWF allen anderen Schuldnernationen der Dritten Welt – von Asien bis Lateinamerika – mitteilen, dass sie die Löhne ihrer ArbeiterInnen senken müssen, wenn sie Auslandsinvestitionen anziehen wollen.[18]

Im Anschluss an das durch diese Reformen festgelegte ursprüngliche Rahmenwerk wurde später – unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks – in Osteuropa ein spezifisches Bündel von Strukturanpassungsprogrammen implementiert, das man Washington Consenus nennt. Auch dieses Maßnahmenbündel sollte die Region für Kapitalisierung und Auslandsinvestitionen öffnen und durch weitreichende Privatisierungen und Homogenisierungen die Rolle des Staates im Hinblick auf die Ökonomie schmälern. Es ist indes bedeutsam, dass Bildungsreformen und andere auf Homogenisierung abzielende Transitionsprozesse hier nicht nur ein Mittel waren, um die Eignung zur EU-Integration zu überprüfen sondern auch als Zuckerbrot und Peitsche zum Einsatz kommen. So wurde etwa der Bologna-Prozess in den EU-Beitrittsländern sehr viel früher umgesetzt als in vielen EU-Ländern.

Die Implementierung von Strukturanpassungsprogrammen spielte eine Schlüsselrolle, wenn es darum ging, einen Umgang mit ungleichen Prozessen der „Entwicklung“ zu finden. Während diese Reformen auf der einen Seite als präzise Maßeinheit für den jeweiligen „Entwicklungsstand“ verwendet wurden, drosseln sie die Entwicklung gleichzeitig ihren eigenen Standards entsprechend. Diese Reformen sind Ausdruck einer Doppelmoral von Integration und Segregation, die an Sichtbarkeit gewinnt, wenn diese Prozesse auf einer supranationalen Ebene analysiert werden: So fördert die Europäische Union zum Beispiel die Mobilität von Gütern, Kapital, Dienstleistungen und BürgerInnen, während sie gleichzeitig  die gegen Migration errichteten, mörderischen Grenzregime beibehält, die durch bilaterale Abkommen, wie etwa Dublin II oder jene Verträge zwischen Italien und Libyen geregelt werden, die jetzt in ähnlicher Weise auch in Tunesien implementiert werden sollen.[19]  Da die Nationen als Kontrollfilter für die Umsetzung und Aufrechterhaltung supranationaler Politiken dienen, sind die Politiken transnationaler Beziehungen nicht repräsentativer Ausdruck einer globalen Solidarität; vielmehr sind sie eine Strategie der effizienten Maximierung von Vermögenswerten in befestigten, supranationalen Räumen. Derweilen werden die Unterschiede zwischen supranationalen oder globalen Krisen so präsentiert, dass sie als unabhängige Phänomene erscheinen, die von den einzelnen Nationen „geheilt“ werden müssen, während eine umfassende, in sich verzahnte Krise ausgeblendet wird.


Displacement

Die Aufteilung von Krisen geht Hand in Hand mit einer ungleichen „Entwicklung“ und wird durch globalisierte Vertreibungsprozesse unsichtbar gemacht. Neue Strategien zur Überwindung der Krise werden vorgeschlagen. Die Strukturen der Wissensökonomien spielen für die Schaffung und Regulierung dieser Kluft eine bedeutende Rolle: Im Zusammenhang mit Sparmaßnahmen und Privatisierungen werden sie zu einem Ort der Komplizenschaft und der Kämpfe. Die Verdrängung nimmt indes eine Bedeutung an, die weit darüber hinausreicht, ein Werkzeug für die Inblicknahme eines Zusammenhangs zwischen den Krisen zu sein. Sie zu untersuchen ist eine der wichtigsten Aufgaben einer Analyse der zerstörerischen Folgen von globalisierter Kapitalisierung und „Entwicklung“ heute.

Es gibt mehrere Punkte, von denen Vertreibung heute ins Auge gefasst werden kann: Armut/Gentrifizierung, Entwicklung, Migration, Braindrain/Wissen, Ressourcen und Existenzgrundlagen. In den metropolitanen Zentren wird all das durch Gentrifizierung an die Peripherien gedrängt, was das angestrebte Bild der Metropole und ihrer Produktionsformen sichtbar beeinträchtigt; ein Beispiel dafür sind ehemalige Industriestädte, die im Zuge einer Immaterialisierung der Arbeit sowie im Verlauf von „Entwicklungs“-Prozessen verlassen oder als Slums angeeignet wurden. Dieser Prozess greift mehr und mehr um sich und setzt eine globale Arbeitsteilung mit schärferen Grenzziehungen um verschönerte Städte oder supranationale Gebiete durch. Die einzelnen Nationen übernehmen in der transnationalen Aufteilung von Ausbeutung und Krise die Rolle von Filterungsmechanismen.

Wir sind gegenwärtig ZeugInnen globaler Migrationsphänomenen. Mobilität im Rahmen von Arbeit und Studium wird in den Medien als wünschenswert dargestellt. Gleichzeitig wird versucht, die undokumentierten ArbeiterInnen, Vertriebenen, Ausgelöschten und Sans Papiers, die eine spezifisch ökonomische Schicht bedienen, zu vertreiben und sie aus den verschönerten und befestigten Landschaften zu tilgen. Die daraus resultierende Marginalisierung und Isolation lassen Ghettos und Slums entstehen, schwächen die Solidarität, dienen als Rechtfertigung für Diskriminierungen und zerreißen das soziale Gewebe selbst.

Erfolg und Versagen werden – auf globaler Ebene – unter dem Deckmantel der Meritokratie vorangetrieben; diese behauptet fair zu sein, unter der Voraussetzung, dass jedes Individuum auf dem freien Markt gleiche Chancen hat, und sie befürwortet, dass jene, die hart arbeiten, im Wohlstand leben, während die, die „nicht so produktiv“ sind oder „nicht mithalten können“ das System belasten und bekommen, was sie verdienen. Diese vorgefasste Meinung geht bis zum Wiederkäuen von Vorurteilen gegen MigrantInnen, die einer nicht anerkannten, illegalen oder gar keiner Arbeit nachgehen, und denen der Staat eine Arbeitserlaubnis verweigert. Dieser Prozess der Meritokratisierung erstreckt sich auch auf das „Entwicklungs“-Ranking -zwischen Nationen bzw. auf die Festlegung, ob eine Person oder ihr Dorf die affirmative Maßnahme verdienen, die sie vielleicht mit einem Wasserhahn versorgt. Der ökonomische „Fortschritt“ und die wirtschaftliche „Entwicklung“ des Kapitalismus tauschen – darin einer Währung ähnlich – die Freiheit, die Rechte und die Existenzgrundlage eines Individuums gegen die eines anderen; [20] dies ermöglicht, dass die Definition des „Anderen“ diesen Prozess über regulative Vorrichtungen zu seiner Aufrechterhaltung begünstigt und vereinfacht.

Das Verwalten von knappen Ressourcen oder fossilen Brennstoffen zählt – wegen ihres hohen Energieverbrauchs – eindeutig zu den Prioritäten der „entwickelten Welt“. Dieser steigende Energiekonsum ebenso wie der Platz an der Spitze der Leiter der „Entwicklung“ wird indes von den „Entwicklungsländern“ bezahlt: 75% der historischen toxischen Emissionen, die für die gegenwärtige Klimakrise verantwortlich sind, werden von 20% der Welt produziert; aber bis zu 80% der Auswirkungen der Klimakrise schlagen sich in den „Entwicklungsländern“ nieder. [21] Die hohen Emissionen der entwickelten Länder limitieren buchstäblich den atmosphärischen Raum, der den „Entwicklungsländern“ zur Verfügung steht. [22]

Der Klimawandel ist die Kehrseite der Energiekrise; die zunehmende Knappheit dient heute als Rechtfertigung für Militarisierung und Landraub. Ein aktuelles Zitat in der Washington Post verdeutlicht diesen Trend: das Ackerland Äthiopiens gilt als „gefragteste Ware auf dem Markt“.[23] Dieser „Trend” besteht darin, dass Land und Ressourcen aufgekauft und die fruchtbaren Böden, Ernteerträge, Frischwasserdepots oder Kraftwerke und Dämme von Privatmilizen bewacht werden, falls die staatliche Repression nicht ausreichen sollte. Das hat die Vertreibung ganzer Gemeinden und die Zerstörung der Ökosysteme ebenso zur Folge wie globale oder planetare Konsequenzen.

Um auf die eingangs erwähnte beliebte Annahme zurückzukommen, dass die Finanzkrise global in einer Trickle-Down-Struktur nachhallt: Wenn die weithin akzeptierte Beziehung von „Ursache“ und„Wirkung“ invertiert würde, dann würden das Finanzkapital und seine Defizite als immaterielle Reaktionen einer flexiblen Ökonomie angesichts begrenzter natürlicher Ressourcen sichtbar werden. Das Ressourcenlimit wie auch das Unvermögen des Kapitals, sich ohne Zerstörung zu reproduzieren, wären Kern und Ausdruck des instabilen, zerstörerischen Kapitals und nicht die Lösung für diese Instabilität und Destruktion. Der Verlust von Existenzgrundlagen sowie die Umweltprobleme weltweit wären nicht unvermeidlicher Bestandteil der Krisenlösung, sondern eine grundlegende Kraft, die nicht länger einfach verdrängt oder übergangen werden kann. Da diese Struktur laufend nach Methoden zur Vermeidung von Krisen sucht – beispielsweise durch die Verlagerung hin zu immaterieller Arbeit, Bildungspolitiken und Displacement – ist das System selbst die Krise.


Wissenssolidarität

Bildung und Wissensproduktion sind heute bedeutende Schauplätze gesellschaftlicher Transformationen. Sie sind einerseits die Grundlage einer wichtigen Maschinerie zur Reproduktion dieser Transformationen; andererseits tragen sie dazu bei, die Masse auf ungelernte ArbeiterInnen zu reduzieren. Der Kampf gegen die Kommodifizierung von Wissen oder gegen Bildungsreformen spielt eine entscheidende Rolle, da er einen Angriff auf einen heute sehr tiefgreifenden Prozess darstellt. Die Dekonstruktion und Untersuchung der Überlappungen, die zwischen einer globalen Arbeitsteilung und dem Zugang zu Wissen bestehen, ist ein entscheidender Schritt nicht nur für ein Verständnis von Komplizenschaft und Verantwortung, sondern auch für den Aufbau einer übergreifenden Solidarität im Kampf gegen globale Formen der Unterdrückung. Wenn eine Umkehr in der gängigen Wahrnehmung der Krise erfolgt und Wissen als entscheidender Faktor für die Umsetzung von jenen Politiken verstanden wird, die damit in Beziehung stehen, dann müssen wir dem Wissen eine andere Bedeutung beimessen, um es auch als fundamentale Triebkraft zu verstehen.

In den letzten Jahren entwickelten sich im Zusammenhang mit Wissen weltweit verschiedene Bewegungen: Die heftigen Universitätsproteste von 2008–2010 in Europa etwa wurden durch die Reformen des Bologna-Prozesses entfacht. Schon seit Jahrzehnten wird gegen die SAP sowie gegen die Neoliberalisierung der Universität aufbegehrt. Dort, wo – wie in den USA und Großbritannien – hohe Studiengebühren und Kreditstrukturen in Kraft sind, kam es zu einer weitverbreiteten Auflehnung gegen Verschuldung und Sparmaßnahmen. Diese Kämpfe haben an Größe, Heftigkeit und Fokus gewonnen; die gegenseitigen Bezugnahmen sowie die Kommunikation reichen über nationale Grenzen hinaus. Dies verdankt sich der Tatsache, dass der Zusammenhang zwischen den Bedingungen, denen erwerbslose AkademikerInnen oder ArbeiterInnen, deren Arbeit offizielle nicht anerkannt wird, unterworfen sind, stärkere Berücksichtigung findet.

Der Trend zu transnationalen Treffen, Konferenzen und Protestaktionen, wie etwa der Protest und die Blockade im Zuge eines Gegengipfels, der 2010 als Reaktion auf die Eröffnungsfeierlichkeiten des Europäischen Hochschulraums in Wien stattfand, haben sich auf andere Orte des Kampfs ausgedehnt. Obwohl die jüngsten Universitätsproteste deutlich weniger Medienaufmerksamkeit bekamen als andere Aufstände der Folgejahre, und obwohl viele diese Proteste gegen die unvermeidliche Umsetzung des Bologna-Prozesses bzw. gegen die Kommerzialisierung der Hochschulbildung als gescheitert betrachten – was vielleicht der minimalen, aber trostlosen medialen Darstellung geschuldet ist –, ist es wichtig zu verstehen, dass dieser Prozess noch nicht zu Ende ist. Er hat sich einfach verlagert. Diese Kämpfe dürfen nicht einfach beiseite geschoben oder vergessen werden. Es wurden viele wertvolle Erfahrungen gemacht; und diese müssen als bewegliche, lebendige Kraft betrachtet werden.

Im Februar 2011 wurde in Paris ein transnationales Treffen mit dem Titel „Universitätskämpfe gegen Sparmaßnahmen“ organisiert, das sich um Kämpfe im Bildungsbereich drehte. [24] Es fand kurz nach der Revolution in Tunesien statt. Diese spielte eine große Rolle, und zwar nicht nur in den Medien, sondern auch, was Fragen der Solidarität und Veränderungen im Kampf anging. Noch ehe das Treffen stattfand, wurden mehrere tunesische AktivistInnen, die anlässlich dieses Treffens nach Paris reisten, an der EU-Grenze aufgehalten und konnten daher nicht teilnehmen. Darauf folgten Proteste, an denen sich auch einige tunesische Studierende beteiligten. Sie verfassten eine Deklaration, in der betont wurde, wie wichtig es sei, die Kämpfe, auf denen das Treffen basierte im Zusammenhang mit den tunesischen Aufständen zu sehen, die sich über den ganzen Maghreb ausbreiteten. Sie forderten im Anschluss daran die Vereinigung der Kämpfe im gesamten Mittelmeerraum. Vom 29. September bis zum 2. Oktober 2011 „trafen sich Studierende, prekäre ArbeiterInnen, Arbeitslose, und AktivistInnen aus Europa und Nordafrika im Rahmen des transnationalen Treffens ‚Réseau de luttes‘ in Tunesien, […] um Wissen zu teilen und einen Prozess gemeinsamer Kämpfe zu initiieren.“ Die dort verfasste Erklärung stellte folgende Forderung auf:

„Die Kämpfe, die in den letzten Monaten über Nordafrika hinweg gefegt sind, haben den ganzen Globus adressiert. […] Im Kontext der globalen Wirtschaftskrise gibt es viele Parallelen, wenn es um die Gründe geht, warum wir in Europa kämpfen und warum Ben Ali und Mubarak gestürzt wurden. […] Wir revoltieren gegen das gegenwärtige Elend und wollen neue soziale Beziehungen aufbauen, die aus den Prozessen der Befreiung und der Wiederaneignung unseres kollektiven Reichtums hervorgehen. Diese Kämpfe schaffen gemeinsame Räume, welche die Macht fortwährend zu fragmentieren und zu unterdrücken versucht.“[25]

Da die Aufstände im Maghreb in den Medien sehr aufmerksam verfolgt wurden, waren sie Impulsgeber für andere Besetzungen und Bewegungen weltweit. Es kam zu etlichen Besetzungen von öffentlichen Räumen sowie zu Belagerungen und Besetzungen von Finanzzentren von der Wall Street bis zu „Boj Za“ in Ljubljana. Am 15. Oktober 2011 fand ein globaler Aktionstag statt, der eine bis dato unvergleichbare Größe und breite Beteiligung erreichte. [26] Obwohl die mediale Aufmerksamkeit für das Timing und die Eskalation der verschiedenen Kämpfe sicherlich eine Rolle spielte, gingen die Formen der Kommunikation sowie des In-Beziehung-Tretens aus einem langen Prozess von gegenseitigem Lernen und Miteinander-Kommunizieren hervor. Die Verlagerung hin zu transnationalen Kampfformen steigerte das Bewusstsein dafür, wie verschiedene Themen in einem gemeinsamen Kampf miteinander verknüpft sind. Wohl ist es zu einer Verschiebung gekommen, aber diese war in vielen Fällen keine bewusste, sondern eine Gegenreaktion auf die gemeinsame Verfasstheit [commonality] der Bedingungen, unter denen wir leben.

Die globale Verflechtung der Krise muss dafür genutzt werden, unsere Kämpfe auszuweiten. Denn die Repräsentation der Krise als voneinander unabhängige Krisen ist ebenso wirksam wie die Fragmentierung der Kämpfe. Der Kampf gegen die unternehmerische Universität ist Teil des Kampfes gegen die Banken. Der Kampf gegen die Banken ist Teil des Kampfes gegen Landnahme. Es gilt die Komplexität dieser Themen zu erfassen, und die internationale Gemeinschaft muss sich darauf einlassen, eine Verständigung zu erzielen über die gemeinsame Verfasstheit, die Komplizenschaft oder Differenzierung und Kompliziertheit der globalen Beziehungen heute. Da viele der Politiken, angetrieben durch „die Krise“, Eingriffe in die Wissensproduktion als dem Kern der Krise vornehmen, obliegt es unserer Verantwortung als KulturarbeiterInnen, AktivistInnen und Intellektuelle, in diese sehr reale, soziale Krise zu intervenieren und zu verstehen, auf welche Weise die globalen Prozesse der Vertreibung und Dislozierung den Planeten verändern. Nur so können wir herausfinden, wo die wirkliche „Bildungskrise“ eigentlich sitzt.

Es ist in gewisser Weise prekär zu sagen, die Finanzkrise oder die wirtschaftlichen Umstände stünden im Zentrum eines expansiven Kampfes. Es gibt keinen effektiven Kampf, der die Vorstellungen von Wettbewerb in einer Struktur vervielfältigt, die sich nicht einmal selbst auf faire Weise zu reproduzieren vermag. Dies führt zu einer Fragmentierung der mannigfaltigen Kämpfe, wie gut diese auch miteinander verbunden sein mögen. In einer Struktur, in der die Krise die Ursache und die Wissensökonomie die Wirkung ist, müssen wir uns in einem auf Wissen basierenden Kampf vereinen um jene Wissensformen zu verstehen, deren Grundlage der Kampf ist und um einen Kampf zu schaffen, der auf einem gemeinsamem Wissen basiert;[27] wir müssen lernen, wie man Sparmaßnahmen und staatliche Repression überleben – und nicht, wie man sie reformieren – kann, und zwar durch die Organisation von Plena, die Veröffentlichung von Erklärungen, durch das Schaffen menschlicher Mikrofone und autonomer Bildungskollektive; nur so können wir aus diesem Wissen heraus Gemeinschaften und gemeinsame Strukturen wieder aufbauen. Wie also würde sich ein Kampf darstellen, der nicht als eine Reaktion auf die wirtschaftliche und politische Repression artikuliert würde, sondern aus dem nicht anerkannten gemeinsamen Wissen von inhaltlich übergreifenden, grenzüberschreitenden Kämpfen hervorginge? Was wäre, wenn das Wissen über Grund und Boden für den Kampf gegen den Klimawandel verwendet würde; wenn das Wissen der Migration im Kampf gegen Grenzen zum Einsatz kämen; wenn das Wissen um Vertreibung und Displacement für die Umverteilung von Wohlstand und das Wissen über Privatisierung und Austerität für den Aufbau von gemeinsamen autonomen Räumen verwendet würde, damit aus dem Kampf gelernt werden kann? Und was wäre, wenn sich dieses nicht anerkannte Wissen mit dem anerkannten Wissen zu einem die Bereiche durchziehenden Werkzeug der Selbstermächtigung verbinden würde?

 



[1] Vgl. bspw. Richard Heinberg, Peak Everything: Waking Up to the Century of Declines, Gabriola Island: New Society Publishers 2007.

[3] „Walter Rüegg, Kap. 1 „Themes“, in: Hilde De Ridder-Simoens (Hg.), A History of the University in Europe Volume 1: Universities in the Middle Ages, Cambridge: Cambridge University Press 2003, S. 3–34, hier: S. 5.

[4] Dies bezieht sich auf die klassische Definition der Moderne als jener Ära, in der die Kapitalisierung und der Nationalstaat begründet wurden. Es bezieht sich nicht sehr, auf die sehr umstrittenen Diskurse zu einer Vielzahl von zeitlich und räumlich differierenden Modernen jenseits der klassisch westlichen Definition.

[5] Robert Anderson, „The Idea of a University Today“ in: History & Policy, März 2010; http://www.historyandpolicy.org/papers/policy-paper-98.html.

[6] Dies darf nicht mit der Formulierung „Krise der Universität“ verwechselt werden, wie sie beispielsweise edu-factory aus der Perspektive des Kampfes verwendet; vgl. www.edu-factory.org/edu15/webjournal/n0/webjournal.pdf

[7] John L. Rudolph, Scientists in the Classroom: The Cold War Reconstruction of American Science, New York: Palgrave 2002, S. 168–175.

[8] Ibid.

[9] Vgl.  Schuman-Plan, „Die Erklärung vom 9. Mai 1950; http://www.robert-schuman.eu/declaration_9mai.php.

[10] Vgl. „Q&A: EU Energy Plans“, BBC, 9. März 2007; http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/europe/4783996.stm.

[11] Der EFR ist ein System von wissenschaftlichen Forschungsprogrammen, in dem die Ressourcen der EU integriert werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Forschungseinrichtungen zu steigern. Der EFR und der EHR sind in vielerlei Hinsicht miteinander verbunden. Obwohl ihre Ausrichtungen differieren, zielen sie mit ihrer Herangehensweise im Wesentlichen auf denselben Bereich ab. Die Rahmenprogramme (RP) sind Förderprogramme der EU zur die Unterstützung des EFR. Zentrales Ziel der RP ist die nukleare Entwicklung, die sich auf den ITER konzentriert; vgl. diesbezüglich etwa: Europäische Kommission, „RP7: Die Antworten von morgen beginnen schon heute“; http://ec.europa.eu/research/fp7/pdf/fp7-factsheets_de.pdf.

[12] Die Hofburg und ihre Beziehung zur österreichisch-ungarischen Monarchie ist insofern von Bedeutung, als sie nicht Sinnbild des Imperialismus einer europäischen Macht ist, sondern eine „europäische imperiale Expansion“ kennzeichnet, die einen wesentlichen Teil Europas abdeckte und sehr eng mit der heutigen EU-Erweiterung korreliert.

 

Für eine detailliertere Analyse der Struktur des EHR und seiner Peripherien sowie des in Wien abgehaltenen „Gegengipfels“ mit Vorträgen, Demonstrationen und einer Blockade vgl,: Lina Dokuzović und Eduard Freudmann, „Fortified Knowledge: From Supranational Governance to Translocal Resistance“, in: Marina Gržinić (Hg.), Worlds & Knowledges Otherwise, Jg. 3, Ausgabe 2: On Europe, Education, Global Capitalism and Ideology, Juli 2010; http://trinity.duke.edu/globalstudies/wp-content/uploads/2010/09/DokuzovicFreudmannGrzinicWKO3.2.pdf.

[13] Ousseina Alidou, George Caffentzis, Silvia Federici (Hg.), A Thousand Flowers: Social Struggles Against Structural Adjustment in African Universities, New Jersey: Africa World Press 2000, S. XII.

[14] George Caffentzis, „The World Bank and Education in Africa“, in: Ousseina Alidou, George Caffentzis, Silvia Federici (HG.), A Thousand Flowers, op. cit., S. 4.

[15] Vgl. Ibid., S. 3–18.

[16] Ibid., S. 16

[17] „ForscherInnen der Weltbank haben auch darauf hingewiesen, dass sich die soziale Rendite der Investitionen in die Grundschule auf insgesamt 28% und die in den tertiären Sektor auf 13% belief. Noch einmal, die soziale Rendite von öffentlichen Investitionen betrug 13%, während die Rendite von privaten Hochschulinvestitionen 32% betrug“; ibid S. 5

[18]  Ibid. S. 10

[19] Vgl. etwa Emanuela Paoletti, „More Oil, Less Migrants“, in: Pambazuka News, Ausgabe 463, Dezember 2009 (http://www.pambazuka.org/en/category/features/61239); vgl. außerdem die von drei anti-rassistischen Netzwerken verfasste Erklärung „Freedom not Frontex“ (http://no-racism.net/article/3725/).

[20] Die Analyse der „Entwicklung“ im indischen Regierungsbezirk Singrauli kann ein  abschreckendes Beispiel für die Umsetzung solcher Maßnahmen sein. In einem Bericht des Innenministeriums heißt es: „Für Familien könnte kein Traum schmerzhafter sein, als dem Ort entrissen zu werden, an dem sie seit Generationen gelebt haben, und an einen Ort zu ziehen, wo sie völlige Fremde sind. Nichts mag ärgerlicher sein, als die Umstellung auf eine Berufung, der die Familie vorher nicht nachgegangen ist. Doch die Entwurzelung ist notwendig, da das von der Familie bewohnte Land einem Entwicklungsprojekt dient, das dem Land und den Menschen im Allgemeinen Fortschritt und Wohlstand verspricht. Die vertriebenen Familien bringen folglich ein Opfer zum Wohle der Gemeinschaft und des gesamten Landes. Die oustees [Verdrängten] erdulden Entbehrung und Not und sehen einer ungewissen Zukunft entgegen, damit andere glücklich leben können und möglicherweise wirtschaftlich besser gestellt sind“; in: Cost of Development: The Effect of Big Gigantic Projects in Singrauli, Srijan Lokhit Samiti, Singrauli, Indien.

[21] Vgl. Teng Fei, „Historical Responsibility: From a Perspective of Per Capita Cumulative Emissions“, Tsinghua University 2009; unfccc2.meta-fusion.com/kongresse/090601_SB30_Bonn/downl/090604china.pdf

[22] Vgl. Plurinational State of Bolivia, „Climate Debt: The Basis of Fair and Effective Solution to Climate Change“, Presentation to Technical Briefing on Historical Responsibility, United Nations Framework Convention on Climate Change, S. 5; http://unfccc.int/files/meetings/ad_hoc_working_groups/lca/application/pdf/4_bolivia.pdf  

[23] „Land to the Grabber: The Rise of Neo-Gebbar System“, 24. November 2009; http://gadaa.com/oduu/1719/2009/11/24/ethiopia-land-to-the-grabber-the-rise-of-the-neo-gebbar-system/, wo auf folgenden Artikel der Washington Post Bezug genommen wird: http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2009/11/22/AR2009112201478.html; zum direkten Zusammenhang zwischen Hochschulbildung und Landnahme vgl: Claire Provost & John Vidal, „US Universities in Africa Land Grab“ (http://www.guardian.co.uk/world/2011/jun/08/us-universities-africa-land-grab).

[27] Dies sind nur einige der Forderungen von Lokavidya Jan Andolan (People's Knowledge Movement - Bewegung des Wissens der Menschen) gemacht werden; vlg.: http://vidyaashram.org/; http://lokavidyajanandolan.blogspot.com/.