Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

11 2016

Flugzeuglärm

Faïza Guène

Übersetzt von Birgit Mennel

translators
languages

Sagt man nicht von einer Gefahr, sie schwebe über unseren Köpfen?

Die Gefahr schwebt tatsächlich, sie schwebt wie ein Flugzeug, das die Arroganz hat, abzuheben.

Und der nicht enden wollende Lärm der Triebwerke lässt einen nicht los. 

Dieser Lärm ist nach 25 Tagen Schubhaft so vertraut geworden, dass er fast erkennen könnte, um welche Fluglinie es sich handelt, so vertraut, dass er die Anzahl der im Inneren befindlichen Passagiere genau angeben könnte, dass er sogar wissen könnte, ob ein Passagier den Sicherheitsgurt nicht angelegt hat, und dass er erraten könnte, in welcher Reihe das weinende Baby ist.

Dieser Lärm wird die Filmmusik eines Scheiterns. Neun Jahre auf französischem Territorium. Neun Jahre für nichts. Das wiederholt er oft. Neun Jahre verpuffen in der Luft, genauso wie die Flugzeuge.

Ich bevorzuge zweifellos Vögel gegenüber Flugzeugen. Es genügt ihnen, ihre faszinierenden Choreographien zu wiederholen. Stundenlang könnte ich diesen unprätentiös herumwirbelnden Vogelschwärmen zusehen. Ohne Überdruss tanzen sie am stürmischen oder ruhigen Himmel, die Vögel tanzen, aber sie nehmen uns nicht weg, was wir lieben.

Den Flugzeuglärm höre auch ich, am Telefon, wenn er mit mir zu sprechen versucht, wenn seine Stimme nicht zittert, wenn die Verbindung es zulässt, wenn er in Stimmung ist, mir weiszumachen, sich weiszumachen, dass er bald frei sein wird, dass er wie vorher draußen, neben mir gehen wird.

Es reicht, dass er mit jemandem spricht, dass ein Sowieso freigelassen wird, dass die Ankunft neuer Migrant_innen angekündigt wird, für die Platz geschaffen werden muss, dass der Anwalt sagt, es gebe eine neue Chance, und sei sie auch noch so klein, das reicht schon, es braucht nichts, um noch ein bisschen zu hoffen.

Ich kann mich nicht davon abhalten, die Augen gen Himmel zu richten, um einige Sekunden lang dem unaufhörlichen Ballett von Abflügen und Landeanflügen beizuwohnen. Der Himmel ist weit. Das Abschiebezentrum von Mesnil Amelot befindet sich hinter Roissy, neben dem Flughafen, zu nahe an der Raserei der Motoren und ihrem ohrenbetäubenden Lärm.

Wenn ich ihn besuche, parke ich weit entfernt – wozu der Antiterrorplan Vigipirate zwingt –, sodass ich an Mauern und Gittern entlanglaufen muss, wo bissige Hunde hervorspringen, so wie man sie sich diese vorstellte, gespannte und aggressive Hofhunde, deren einziges Ziel es ist, mich anzubellen, wenn ich vorübergehe und mich zum Zusammenzucken zu bringen.

Oft gehe ich verlangsamt durch das Gewicht einer Tasche mit frischer Kleidung diese Straße entlang, die, wie um mich daran zu erinnern, dass der Herbst langsam Einzug hält, mit Bäumen gesäumt ist, deren Blätter sich rot färben. Denn ich vergesse, dass die Tage vorübergehen, momentan ähneln sie einander, so wie sich die Besuche, die Leibesvisitationen, das Abtasten, die Roben der Anwälte und die Enttäuschungen darüber ähneln, dass alle unsere Einsprüche abgelehnt werden. Die Musik der Flugzeuge ist betäubend.

Letztlich ist es trotzdem kein Verbrechen. Keine Papiere. Das ist trotzdem nicht so schlimm. Wir vergaßen diese Papiergeschichte. Wir dachten nicht mehr oft daran. Wir vergaßen es, weil wir gut lebten, weil wir trotzdem lebten. Wir vergaßen, dass die Jobs nicht offiziell waren, dass wir Angst vor einer Kontrolle hatten, dass der Urlaub im Ausland ohne ihn stattfand, wir vergaßen, dass Algerien schon lang her war. Und dass ihm eigentlich nicht Papiere fehlten, sondern die Augen seiner Mutter und vor allem der Stolz, den er darin lesen würde, am Tag, an dem wir gemeinsam hinfahren würden, nach unserer standesamtlichen Heirat. Denn wir sagten uns, dies würde alles lösen. Wir glaubten, es sei nur eine Frage der Zeit. Wir hatten ein Datum: Der 1. Oktober, es musste der 1. Oktober um 15.00 Uhr sein, der Anfang des Monats, der Anfang von allem, von einem anderen Leben. Wir hatten auch Eheringe gekauft, einen Anzug, ein Kleid und die Kleidung für unsere kleine Brautjungfer, die bald sechs Jahre wird und der es nicht gefällt, zu hören: „Er kann nicht nach Hause kommen, weil er keine Papiere hat“.

Sie nennt ihn Abi, das heißt „Papa“, das ist nicht nichts und in den letzten Monaten, war er es, den sie aufweckte, um ihr Wasser zu bringen, wenn sie durstig war. Als dies das erste Mal geschah, war ich bewegt, das hieß viel für uns.

Meiner Tochter wird ein zweiter Papa genommen, aus einem Grund, den ihr kein Erwachsener der Welt als gerecht verkaufen kann. Denn es ist nicht gerecht, eine Familie zu entzweien, die Zeit gebraucht hat, um sich (neu) zu entwerfen.

„Mama? Wann kommt Abi zurück?“

Ich weiß nicht, bald, es ist nicht sicher, vielleicht nicht, es kann sein, dass er abgeschoben wird, wenn du in der Schule bist, sodass du dich nicht mal von ihm verabschieden kannst. Es kann sein, dass du, weil du eine kleine Träumerin bist, gerade dann mit deinen Augen der weißen Linie am nebeligen Oktober-Himmel folgst, die das Flugzeug zieht, in dem sich dein „Abi“, mit angelegten Handschellen und von Polizist_innen eskortiert, befindet.

Er lehnt diese entwürdigende Weise an den Ort zurückgebracht zu werden, von dem die französische Verwaltung behauptet, er sei „sein Zuhause“, ab, weil er weiß, dass sein Zuhause für uns drei ganz klar „bei uns“ ist, das Haus, in dem wir seit zwei Jahren glücklich waren.

Unsere Heirat hätte am 1. Oktober stattfinden sollen. Er wurde am 28. September kontrolliert. Zwei Tage vorher. Kaum zwei Tage. Schicksal. Wirklich, ich komme auf nichts anderes. Ich hätte auch Ironie sagen können, aber das trifft es nicht wirklich, weil die wahre Ironie die war, als er mit den Polizist_innen am Polizeirevier von Saint-Denis, im Polizeigewahrsam, von diesem kommenden Glück gesprochen hat, von diesem Datum, von der kommenden Heirat. Er hat davon erzählt, weil er sicher war, dass das helfen würde.

Also offensichtlich hat ein Telefonanruf bei der Präfektur und dann ein Anruf im Rathaus gereicht, um es zu verifizieren.

Es ist also bestätigt, er hat die Wahrheit gesagt, diese Heirat muss wohl stattfinden und in diesem Heiratsakt finden sich wohl auch seine Identitätsdokumente, sein algerischer Personalausweis, alles, was es erlauben wird, ihn offiziell zu identifizieren, sich für einen Passierschein ans algerische Konsulat zu wenden, um ihn in ein Flugzeug zu setzen, um an seiner statt zu entscheiden, wo sein „Zuhause“ ist.

Er hat naiverweise von der Heirat gesprochen, damit sie verstehen, damit sie wissen. Denn alle wissen, alle verstehen, dass man Menschen, die sich lieben, nicht trennt.

Verrückt ist, dass er noch nie in seinem Leben in ein Flugzeug gestiegen ist. Er ist vor neuen Jahren legal in Frankreich angekommen, Oran-Marseille, mit einer großen Fähre. Vielleicht ist im Lärm der Wellen mehr Mitgefühl zu hören, als im Lärm der Flugzeuge.

Faïza Guène ist eine französische Autorin und Drehbuchautorin. Sie hat diesen Text über das Los ihres Partners, der zwei Tage vor ihrer am 1. Oktober vorgesehenen Heirat verhaftet wurde, auf Bondy Blog veröffentlicht. Ihr Partner hielt sich seit neun Jahren ohne Papiere in Frankreich auf, wurde kontrolliert und in ein Abschiebegefängnis gebracht. Er wird vermutlich ausgewiesen und nach Algerien abgeschoben werden.