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01 2011

Sieben Propositionen zur Unmöglichkeit der Isolation

oder: Der Radikale Empirismus des Netzwerks

Erin Manning

Übersetzt von Christoph Brunner

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1. Gedanken und Dinge sind eins [1]

„Konkrete Gedanken sind aus demselben Stoff wie Gegenstände.“[2]

Beginne mit der Sorge für das Netzwerk und seine Prozessmodalitäten. Verstehe Sorge als das, wofür und wodurch Denken aktiviert wird. Denke Sorge für ein Ereignis als Terminus, durch welchen der Prozess der Teilnahme Form anzunehmen beginnt. Bedenke, dass Prozess und Denken schwer gewissenhaft auseinanderzuhalten sind. Erforsche, wie Denken selbst zu einem Netzwerk wird. Beachte, dass Dinge nicht so stabil sind, wie sie scheinen.

Nimm William James’ Beispiel: den Füllfederhalter.

„Dieser Füllfederhalter […] ist zunächst nur ein kahles Das, ein Gegebenes – Faktum, Erscheinung, Inhalt oder welche andere neutrale oder mehrdeutige Bezeichnung Sie auch immer zu verwenden bevorzugen. […] Um nun entweder als physischer Füllfederhalter oder als individuelle Wahrnehmung eines Füllfederhalters klassifiziert zu werden, muss diese […] Erfahrung eine Funktion übernehmen, und das kann nur in einer komplexeren Welt geschehen. Insoweit sie in jener Welt ein beständiger Faktor ist, Tinte enthält, Papier beschriftet und der Führung einer Hand folgt, ist sie ein physischer Füllfederhalter. Insoweit sie […] unbeständig ist, den Bewegungen meiner Augen entsprechend erscheint und wieder verschwindet, sich aufgrund dessen verändert, was ich meine Einbildungskraft nenne, und mit nachfolgenden Erfahrungen in einem Zusammenhang steht, denen zufolge sie (in der Vergangenheit) ‚gewesen ist’, ist sie die geistige Wahrnehmung eines Füllfederhalters. Solche Eigenheiten sind es, die wir meinen, wenn wir uns in einem Füllfederhalter ‚bewusst’ sind.“[3]

In einem Füllfederhalter? „In“, weil es eine Füllfederhalterhaftigkeit ist, die sich in dieser Instanz um das Zusammenkommen des Ereignisses sorgt. „In“, da für James bei der Verwirklichung von Erfahrung und Experiment keine Vorrangstellung des menschlichen Subjekts vorliegt.

‚Sich um ein Ereignis sorgen’ weist darauf hin, dass das Ereignis als Kraft wirkt, durch die Gedanken-Dinge Form annehmen. Dieses Form-Annehmen erscheint an der Klippe, an der Gedanken und Dinge in einer Erfahrung des ‚Noch-Nicht’ aufeinander prallen. Was erscheint: Weder ein Füllfederhalter-an-sich (als schon konstituiertes Objekt), noch ein Gedanke-an-sich (als Gedanke an den Füllfederhalter). Das Ereignis: eine neue Variation des Füllfederhalterns.

Beziehungen von Gedanken-Dingen werden oft in web-basierten Netzwerken als Wechselwirkung zwischen Mensch und Computer verortet. Dies stabilisiert nicht nur die Termini in sich selbst, sondern auch das Potenzial ihrer Konvergenz. Wenn er hierarchisch unterteilt wird, steht es außer Frage, wo ein Prozess beginnt und endet: im Menschen. Mit James wird diese Hierarchie unterwandert. Wissende/r und Gewusstes sind nicht an den vorhersehbaren Extremen einer gegebenen Beziehung angesiedelt. Wissende/r und Gewusstes sind gemeinsam im und durch das Ereignis konstituiert. Dies ist gemeint, wenn man bewusst in einem Netzwerk ist.

Wenn Wissende/r und Gewusstes von ihren vorhersagbaren Gesichtspunkten abweichen, verändert sich die Idee des Netzwerks dramatisch. Der/die Wissende ist das Subjekt des Ereignisses, das Gewusste bezeichnet die sich verändernde Qualität von Objektheit. Der/die Wissende ist eine emergente Reihe von Bedingungen in Bezug auf eine Serie von Propositionen. Diese Beziehung nimmt keine vorhersehbare Konfiguration an. Was ein/e Wissende/r ist, wird möglicherweise in einer anderen Anordnung der Kriterien gewusst werden. In James’ Beispiel beschreibt das Füllfederhalterereignis die Erfahrung, wie der Füllfederhalter als Ding Gedanke wird und umgekehrt.

Es handelt sich hierbei um einen additiven Prozess. Üblicherweise wird Denken direkt mit Bewusstsein gleichgesetzt. Um Bewusstsein von Erfahrung zu trennen, wird das Denken vom Bewusstsein subtrahiert. Das Bewusstsein wird ‚draußen’ belassen, auf das Ereignis hineinschauend. Für James ist Bewusstsein ein Aspekt von Erfahrung. „Ich bin der Meinung, dass Erfahrung keine […] innere Duplizität aufweist; ihre Trennung in Bewusstsein und Inhalt geschieht nicht durch Subtraktion, sondern durch Addition.“[4] Subtrahieren würde heißen, das Bewusstsein zu einem Apriori werden zu lassen – man würde es außerhalb und jenseits von Erfahrung platzieren. Solch eine Platzierung verankert das Bewusstsein fest im Menschlichen und neutralisiert die Raumzeit der Erfahrung, indem sie dieser immer eine sekundäre Rolle zuweist. Wie im kantischen Denken wirkt das Bewusstsein dann auf eine schon konstituierte Anordnung von Beziehungen in einem stabilen Konzept von Raumzeit. Ein hinzugefügtes Bewusstsein lässt das Bewusstsein zu einem Teil des Ereignisses werden. Es verbündet das Bewusstsein mit dem formbaren Gedanken-Objekt, aus welchem das Ereignis besteht. Um auf den Füllfederhalter zurückzukommen: Anstelle den/die TrägerIn/Wissende/n im menschlichen Subjekt und das Ding/Gewusste im Füllfederhalter zu verorten, ernennt James die Füllfederhalterhaftigkeit zur Junktion, in der Denken und Objekt kollidieren. Bewusste Erfahrung im Ereignis. Im Füllfederhalter.

 
2. Die Wahrnehmung ist da draußen

„Wer da zugibt, dass dieses wahrgenommene Objekt erkenntnistheoretisch nicht Vorstellung in mir ist, sondern Wahrnehmung und Ding als ein und dasselbe von mir wirklich da draußen erlebt werden, der soll nun auch nicht das nur gedachte Objekt in das denkende Subjekt verstecken.“[5]

Gilbert Simondon hat ein Wort für das am Werk befindliche Ding-Denken: Verfahren [technique]. Ein Verfahren ist eine Anordnung von Beziehungen, die neue Bedingungen von Denken/Aktion aktiviert. Verfahren sind direkt mit emergentem Denken verbunden. Sie sind Prozesse, die mit dem Beziehungspotenzial dessen, was schon im Werden ist, arbeiten. Ihr Ziel: neue Kräfte des Denkens zu aktivieren. Unsere Praxis: Denken fühlbar zu machen, sodass es sich möglicherweise in das Netzwerk und seine Knotenpunkte transduziert. Ein Verfahren ist von Natur aus metastabil: „Das Verfahren sucht das Ding als Macht und nicht als Struktur, die Materie als Reservoir von Tendenzen, Qualitäten und ihr eigenen Tugenden.“[6] Ein Prozess wird zu einem Verfahren, wenn er das inhärente Potenzial eines Milieus greifbar macht. Alle Verfahren benötigen Iteration, Wiederholung, aber kein Verfahren kann ohne Differenz überleben. Ein entschiedenes Verfahren lässt das Intervall des Noch-nicht-Gedachten im Denken fühlbar werden. Solch ein Verfahren interveniert nicht nur innerhalb existierender Prozesse – es kreiert neue Modi des Denkens.

Unbestimmt und ontogenetisch, ist das Denken aktiv in der Mannigfaltigkeit seines zeitlichen Gleitens. Aber es tut dies immer zusammen mit dem Ding. Das Ding zwingt das Denken hin zu einer Realisierung im Bereich des Bewusstseins. Ohne das Ding gäbe es keinen Antrieb für die Erscheinung des Denkens in einem aktuellen Ereignis. Das Ding ist kein vorgeformtes Objekt, sondern eine durch ihre Beziehung zum Denken in einem Feld verortete Objektheit.

Das Denken-Ding-Kontinuum aktiviert den Erfahrungsnexus, durch den eine singuläre Anordnung von potenziellen Beziehungen zu einem Ereignis wird. Denken als Verfahren ist ein Tendieren-hin- zu. Es öffnet das Ereignis auf seine Herstellung eines Feldes der Erfahrung hin. Es aktiviert und arrangiert den Übergang von der reinen Erfahrung zur Jetztheit der aktuellen Gelegenheit des Ereignisses. „Die Dinge im Zimmer hier, das ich überblicke, und in der fernen Heimat, an die ich denke, die Dinge in dieser Minute und in der lange entschwundenen Knabenzeit, die mir in Erinnerung tritt, sie bestimmen mich, in gleicher unmittelbarer Wirklichkeit, wie mich die reine Erfahrung fühlen lässt.“[7]

Denken ist mitfühlen. Gemäß James „entscheiden mich“ die Dinge-Gedanken, sie kreieren eine Realität, „welche die Erfahrung fühlt“. Es gibt kein Subjekt hier, welches ein finales In-Betracht-Ziehen wiederholt. Das Gedanken-Ding ist das Ereignis. Wenn das Gedanken-Ding sich in Ereignis-Werden verwandelt, mischt es sich mit dem Potenzial des Dings in dieser singulären Konfiguration. Das Ereignis ist der ausgezeichnete Punkt dieses breiteren Experimentierens mit Gedanken-Dingheit. Denken dingt, wenn es als Ereignis mit der weltenden Welt erscheint.

James nennt dies das „Nicht-in-mir-Sein meiner Erinnerung“.[8] Nicht-in-mir ist eine Singularität. Diese Singularität ist relational. Sie lässt den Nexus fühlbar werden, auch wenn sie sich aussondert aus einem unendlichen Potenzial simultaner Erfahrungen. Diese Erfahrungen sind nicht ‚innerhalb’ des Bewusstseins. Sie lassen (Bewusstsein) arbeiten (ils font oeuvre – Etienne Souriau).[9] „Das Werk, Resultat einer Notwendigkeit der Kreation, dieser Sensibilität in Orten und Momenten der Ausnahme, kopiert nicht die Welt oder den Menschen, sondern erneuert und bringt sich in sie ein.“[10]

 
3. Mache Bewusstsein zu einem Feld

Ein Feld ist offen, ontogenetisch. Es erscheint und mischt sich mit der Erfahrung, geht dieser jedoch nicht voraus. Es fokussiert die Potenzialkräfte für ein erscheinendes Ereignis. Es erzwingt eine Rekombination von figuralen Strukturen und Qualitäten des Grundes. Es ist selbst kein Grund, grundiert aber dennoch Potenzialität in einem aktualisierbaren Netzwerk von Beziehungen, die selbst neue Beziehungen von Figur/Grund aktivieren. Weder Figur noch Grund sind vorgeformt. Figur/Grund ist ein intensives Gewebe von wechselnden Beziehungen, durch die ausgezeichnete Punkte auftauchen. Ausgezeichnete Punkte werden greifbar im Feld des Bewusstseins als die gefühlte Bestimmtheit der Jetztheit der Erfahrung.

Denken verkoppelt. Schlüsselpunkte aktivieren diese Verkopplung, eine Verkopplung öffnet Denken immer hin zum Unbegreiflichen. „Einige Verkopplungen haben die […] merkwürdige Hartnäckigkeit eines Faktums.“[11] Das Fakt erscheint durch Beziehungskoppelungen; es geht ihnen nicht voran. Fakten locken eine Koppelung herbei, die sich in ausgezeichnete Punkte transduziert. Das Bewusstsein nährt sich an diesen ausgezeichneten Punkten, es ist selbst eine Feldverortung eines gegebenen Gefüges von Gedanken-Dingen, die sich hartnäckig ihrer Entlassung widersetzen. Hartnäckige Fakten verwandeln das, was Whitehead „Potenzialität für den Prozess“ nennt, in „aktuelle Gelegenheiten.“[12] „‚Wirklichkeit’ [actuality] ist die Entscheidung inmitten der ‚Potenzialität.’ Sie steht für die eigenwillige Tatsache [fact], die nicht umgangen werden kann.“[13] Hartnäckige Fakten begrenzen und provozieren. Sie begrenzen das unendliche Potenzial des Denkens und provozieren die Kreation eines neuen Erfahrungsnexus. Sie lassen das Ereignishafte fühlbar werden in der Erfahrung des Jetzt. Sie sind singulär, aber nicht individuell.

Wenn man Bewusstsein zu einem Feld macht, verschiebt sich das Bewusstsein weg von menschlichen Eigeninteressen und positioniert sich im erscheinenden Beziehungsnetzwerk, aus dem heraus sich ein singuläres Welten ereignet. Es kann nicht alles erfassen, was auf dem Spiel steht – viele der Tendenzen bleiben unausgedrückt und ungelebt. Virtuelle Ereignisse wirken auf das Tendieren-hin-zu, insofern es diese singuläre Bewegung des Denkens ist. Diese Ereignisse nähren das Ereignis-Werden mit einer sammelnden und kollektiven Tendenz, die das ‚Mehr-als’ jeder gegebenen Erfahrung fühlbar macht. Erfahrung ist vor allem kollektiv: ein immanentes Koppeln von Gedanken-im-Tun und Dingen-in-der-Mache.

Das Formwerden eines Feld-Bewusstseins hat die Qualität eines schwindelerregenden Oszillierens von Figur und Grund.

 
4. Übersetze nicht, transduziere!

Das Netzwerk, aus dem eine aktuelle Gelegenheit entsteht, ist transduktiv. Es bewegt sich stetig quer durch Prozesse, während es Register überspringt. Es bringt horizontalisierende Tendenzen zwischen Gedanken-Dingen ein, welche metastabile Passagen von einem Modus zum nächsten erlauben, ohne zuvor auf bereits konstituierte Objektbeziehungen angewiesen zu sein.

Denk an eine Konferenz. Begegnungspunkte sind bereits etabliert: Workshops, Mittagessen, Kaffeepausen. Andere Begegnungspunkte befinden sich mehr im Hintergrund: Zigarettenpausen, Toilettengänge, Nebengespräche. Keine Konferenz funktioniert reibungslos. Auf einer Ebene nimmt sie ihren Lauf: Vorträge werden gehalten, an den Workshops wird teilgenommen, Mittagessen werden gegessen. Auf einer transversalen Ebene jedoch erscheinen subtile Verschiebungen: Müdigkeit wird ansteckend, eine Konversation bleibt bestehen, auch nachdem sie endet, Lachen beflügelt eine neue Erkenntnis. Diese horizontalisierenden Tendenzen unterwandern nicht direkt die organisatorische Struktur, aber sie wirken auf sie ein. Was sich verschiebt, ist subtil, aber greifbar: Wahrnehmungsschwellen werden optimiert. Was am ersten Tag ein Raum mit nach vorne gerichteten Stühlen und einer Leinwand für Einwegkommunikation war, wird zum Ort für neue Formen von Beziehungen. Die Beziehungsformen wirken auf den Gruppenprozess, indem sie die Konjunktion zwischen Knotenpunkten und das konjunktive Gewebe des Netzwerks verändern.

Objektbeziehungen werden zu Feldbeziehungen. Der Denken-Ding-Nexus ist unendlich konstituierend. Kein Objekt ist vorgefertigt. Sogar etwas so stabil Anmutendes wie ein Stuhl wird zu einer Modalität für neue Denkprozesse/Interventionen. Gedanken-Dinge individuieren, indem sie das vorliegende Ereignis co-konstituieren. Sie transduzieren die Singularität ihrer Ereignishaftigkeit, indem sie zu Intervallen werden, Aktivitäten für das Aktuell-Machen von Potenzial. „Die Eigenart unserer Erfahrungen, die darin besteht, dass sie nicht nur sind, sondern man ihrer auch gewahr wird (was zu erklären man ihrer ‚bewußten’ Beschaffenheit anträgt), wird besser durch Beziehungen erklärt, die sie miteinander haben und die überdies selbst Erfahrungen sind.“[14]

Die Passage zwischen Wissendem/r und Gewusstem ist weder linear noch auf eine neue Reihe von Bedingungen übertragbar. Wie Wissende/r und Gewusstes in Beziehung treten, hat viel mit dem Terminus zu tun, der das Ereignis-Werden antreibt. Der Terminus ist das Potenzial der Ereignishaftigkeit von Gedanken-Dingen; nicht das Ziel, sondern der Antrieb für die Aktualisierung des Ereignisses. Der Terminus aktiviert die immanente Tendenz des Ereignisses, zu werden. Dies ist eine Transduktion vom Sog der potenziellen Ereignishaftigkeit hin zur Erschaffung eines neuen und lockenden Nexus, unvorhersehbar und immer in seiner Beziehung von Wissenden/Gewussten. Das Ereignis weltet mich, bevor ich es kreiere.

 
5. Mache das Netzwerk zu einer reinen Erfahrung!

Es gibt die Tendenz, eine bestimmte Website für das Netzwerk einstehen zu lassen. Wir glauben, das Aufrufen von Facebook konstituiere die Vernetzung. Im Netz ist das nicht sehr überraschend: Das Bindegewebe, das Seiten vernetzt, wird meist als Frustration des Wartens wahrgenommen. Hier gibt es keine Freude an der Beziehung. Empirismus flirtet mit Teleologie: Lass mich doch einfach dort ankommen! Warum ist das Netzwerk so langsam?! Vergiss die Ummauerung des Gartens – jede Seite, die Zeit braucht, scheint von der Erfahrung abgeschirmt zu sein.

Aber bedenke, dass dieses Warten auch Zeit herstellt. Es aktiviert eine neue Beziehungsanordnung, die neue Denkweisen entzündet. Dies kann nur passieren, wenn das ‚Du’ der Gleichung nicht mehr die vorliegende Erfahrung anordnet. Mach den/die Wissende/n selbst zur Beziehung. Radikaler Empirismus bedeutet den Weg für die disjunktiven und konjunktiven Beziehungsanordnungen zu ebnen, die ein gegebenes Ereignis aktivieren. „Jene Beziehungen, durch die Erfahrungen miteinander verbunden sind, [müssen] ihrerseits erfahrene Beziehungen sein, und jede Art von erfahrener Beziehung muss für genauso ‚wirklich’ wie alles andere im System auch erklärt werden.“[15] Das Radikale am radikalen Empirismus bestreitet nicht die Frustration des Wartens – oder auf eine Seite nicht zugreifen zu können. Es macht dieses Warten zum eigentlichen Stoff der Erfahrung.

Im Warten – im Kreieren von Zeit für Erfahrung – bleibt das Experimentieren offen. Im Moment des Landens auf der Website/dem Knotenpunkt hat das Experiment des Zeitmachens seinen Zenit erreicht. Es wird seine eigene aktuelle Gelegenheit; es kulminiert. Von dieser Site/diesem Knotenpunkt aus sind unendlich viele neue Ereignisse möglich, jedoch hat sich die Potenzialität dieses singulären Ereignisses geschlossen.

Es gibt keine einzelne Zeit des Wartens. Die Zeit des Wartens ist die Zeit der erscheinenden Beziehungen, Beziehungen, wie James sagt, mit unterschiedlichen Graden von Intimität. Wenn wir keine Dualität von Subjekt (Mensch) und Objekt (Computer/Netz) in der Onlinewelt postulieren und hingegen mit den sich immer verändernden Anordnungen von Wissendem/r-Gewusstem arbeiten, erkennen wir, dass Gedanken-Dinge am mächtigsten im Noch-Nicht einer Aktualisierung des Knotenpunkts kollidieren. Das Vernetzen passiert nicht in der Aktualisierung eines Knotenpunkts, sondern im Bindegewebe eines Tendierens-hin-zu.

Wie das Potenzial der Emergenz freigesetzt wird, ist, was den Unterschied ausmacht. Es ist wichtig zu realisieren, dass weder Wissende/r noch Gewusstes im Vorhinein garantiert werden können. Ein radikal empiristisches Netzwerkdenken verlangt, dass man alle virtuellen Konjunktionen um die erscheinenden Wissende/r/Gewusstes-Konstellationen als ebenso real anerkennt. Ein empiristisch radikaler Ansatz öffnet sich der Potenzialität, dass Wissende/r und Gewusstes nicht als unterschiedliche Entitäten in einem dichotomen System existieren, sondern als kontinuierlich-diskontinuierliche Tendenzen in dem offenen Intervall, aus dem Ereignisse entstehen.

Das zeitschaffende Intervall des Ereignisses ist kein leerer Ort des Wartens, sondern das Potenzial zu einer anderen Art von Verbindungsfähigkeit. Denk daran: Wir befinden uns immer noch im Register der Transduktion. Der Anstoß für eine durch das Beziehungsintervall aktivierte Registerverschiebung kann hin zu einem Bindegewebe eines anderen Netzwerks führen: Er kann einen in die Küche zu einem Glas Saft führen, was einen zur Katze bringt, die einen zur Couch bringt, die einen zu einem Nickerchen verleitet. Oder einfach zurück zum Computer, um den letzten Tab nachzuschlagen.

 
6. Die erste Erfahrung kennt die letzte

Du hast zehn Tabs offen. Die Bewegung zwischen ihnen bewegt dich, bevor du sie bewegst. Während sie sich langsam vom Laden zum Erscheinen hin verändern, findest du dich selbst abgelenkt vom Dazwischen, das dir das Warten beschert hat. Ablenkung, Langeweile, Dämmerzustand. Dies sind die Worte, mit denen wir Warten oder das Intervall bezeichnen, das wir zu oft für passiv halten. Wir schenken der Vervielfältigung zu wenig Glauben, sowohl ihrem Ausmaß (die vielen offenen Tabs) als auch ihrer Art und Weise (die unterschiedlichen Aktivitätsmodi, die das Warten umwirbt). Gewohnheit spielt hier eine Rolle – eine gewohnheitsmäßige Wiederholung informiert das Warten. Wir bewahren eine gewisse Ordnung, besonders wenn wir glauben möchten, wir hätten die Kontrolle. Wenn der/die Wissende selbst das Beziehungsfeld wird, ist es nicht mehr das menschliche Subjekt, das alle Entscheidungen trifft. „Wissen über wahrnehmbare Wirklichkeiten entsteht […] innerhalb des Erfahrungsgewebes. Es ist gemacht, und zwar durch Beziehungen, die sich in der Zeit entfalten.“[16] Was passiert, passiert in einem Feld gefühlter Übergänge, in dem „die letzte Erfahrung […] die vorherige [kennt].“[17] Wenn Wissende/r und Gewusstes einander nicht antworten, verbleibt das Ereignis virtuell. Es wirkt auf das momentane Ereignis, ohne dies im Register der aktuellen Kenntnis zu tun. Das Ende der Erfahrung ist in den seltensten Fällen der Knotenpunkt an sich. Der Knotenpunkt ist viel eher die beginnende Sorge – der Terminus – für das Ereignis-Werden. Der Terminus treibt das Ereignis an, stattzufinden. Er ebnet den Weg für die Entfaltung eines Ereignisses innerhalb der Parameter, die die Singularität dieser einen Wissende/r-Gewusstes-Konstellation nähren. Jedoch enthält dieser Terminus selten die anfänglichen Bedingungen, ebenso wie er neu ist inmitten der Beziehungsreihen, die seine Emergenz angetrieben hat. Dieses Beziehungsgewebe ist eingebettet in eine Unendlichkeit von Potenzialen, die weit über die aktuelle Konfiguration eines gegebenen Knotenpunktes hinausgehen. Webseiten oder Netzwerkpunkte sind potenzielle Haltepunkte innerhalb eines Netzwerks, das weit über das Internet hinausgeht, sich faltend, immer wieder, durch die Gedanken-Ding-Konstellation. James macht den wichtigen Unterschied zwischen „einer Kenntnis, die verifiziert und vollendet ist,“ und „Kenntnis, die im Übergang begriffen und auf dem Weg ist“.[18] Nur wenn die Kenntnis in einer aktuellen Empfindung zu Ende geht, wissen wir „‚mit Sicherheit’, dass sie von Beginn an in einem wahrhaft kognitiven Bezug zu dieser gestanden hat“.[19] Bis zum Ende dieses Prozesses ist die Kenntnis in eine Qualität der Offenheit und Unentschiedenheit eingehüllt. Und doch, wie James sagt, die Kenntnis war da. Kenntnis ist keine absolute Sorge für den Endpunkt. Sie ist eine Modalität, in welcher das Zusammenfallen von Denken und Ding ein Gefühl für ein immanentes Beziehungspotenzial produziert. Gehe zurück zum Netzbeispiel: ‚Surfen’ kann als die Unentschiedenheit einer Kenntnis betrachtet werden, die in Umrissen da ist, auch wenn sie ‚noch nicht’ ist. Virtuelle Kenntnis macht das Bindegewebe der Netzwerkerfahrung fühlbar: „der weitaus größte Teil unserer Kenntnis lässt diese potenzielle [virtual] Stufe niemals hinter sich“.[20]

 
7. Beziehungsintervalle, oder: Wie Erfahrung zu uns kommt

„Wir leben gleichsam auf der Spitze eines sich vorwärts bewegenden Wellenkammes, und unser Gefühl für die festgelegte Richtung beim Voranstürzen ist alles, was wir von unserem künftigen Weg erfassen. Es ist, als ob ein Differenzialquotient sich seiner selbst bewusst wäre und sich für einen angemessenen Ersatz für eine hingezeichnete Kurve hielte. Unsere Erfahrung bezieht sich unter anderem auf Schwankungen in Tempo und Richtung und ist mehr ein Ereignis dieser Übergänge als eines des Ankommens.“[21] Wir wirken auf die Tendenz ein, wie die Tendenz auf uns wirkt. Gibt es Handlungsmacht? Selbstverständlich. Aber nicht ausschließlich oder vornehmlich im menschlichen Subjekt. Ereignisse werden von der Kenntnis angetrieben, die das arbeitende Denken/Dingen ist. Führt dies zu neuen Wegen des Experimentierens mit dem Netzwerk? Ja, solange wir nicht der Idee anheim fallen, dass das Netzwerk ein offenes Feld ist, welches streng für unsere bewusste Erfahrung abgegrenzt ist. Wenn wir das Netzwerk in dieser Art und Weise positionieren, dann werden wir Wissende eines Möglichkeitssystems, das sich immer in der begrenzten Auswahl unserer bewussten Entscheidungen bewegt. Wenden wir uns jedoch dem Bindegewebe netzwerkenden Denkens zu, so erscheint ein Gewebe an Tendenzen, das Raumzeit in ungekannte Konfigurationen von Wissendem/r/Gewusstem krümmt. Von begrenzter Möglichkeit zu unbegrenztem Potenzial.

Es geht nicht um uns als VersorgerInnen des Netzwerks. Es geht um das Potenzial des Netzwerks, Tendenzen im Entstehen zu sammeln. Es geht um das radikal empiristische Potenzial des Netzwerks, das Intervall fühlbar werden zu lassen. Dieses Intervall ist in ontogenetischer Weise ‚mehr-als’ – es wird immer unseren Erwartungsrahmen sprengen.

Erfahrung wächst an ihren Rändern. Tendenziöse Ereignisse erzeugen tendenziöse Ereignisse und eröffnen Wege für Kontinuitäten und Disjunktionen. Ereignisse sind sich einander in einem offenen Bewusstseinsfeld bewusst. Das offene Bewusstseinsfeld ist ein Erfahrungsnexus, der aktuelle Gelegenheiten transduktiv nährt. Jedes Ereignis ist seine eigene Ursache.

 

 


[1] Anm. d. Übers.: Anstelle der herkömmlichen Übersetzung von James’ Begriff thing mit ‚Gegenstand’ wird hier im Hinblick auf gängige Diskurse ‚Ding’ beibehalten.

[2] James, William: Pragmatismus und radikaler Empirismus, übers. von Claus Langbehn, Frankfurt/M. 2006, S. 27.

[3] Ebd., S. 77, Herv. i.O., veränd. Übers.

[4] Ebd., S. 11.

[5] Ebd., S. 16.

[6] Simondon, Gilbert: Mode d’existence des objets techniques, Paris 1958, S. 203: „c’est la chose comme pouvoir et non comme structure que la technique recherche, ma màtiere comme réservoir de tendances, de qualités, de vertus propres“.

[7] James: Pragmatismus und radikaler Empirismus, a.a.O., S. 17.

[8] Ebd.

[9] Vgl. Souriau, Etienne: Les différents modes d’existence, Paris 1943.

[10] Simondon: Mode d’existence des objets techniques, a.a.O., S. 184.

[11] James: Pragmatismus und radikaler Empirismus, a.a.O., S. 18, veränd. Übers.

[12] Anm. d. Übers.: Die gängige Übersetzung von ‚actual occasion’ ist ‚wirkliches Ereignis’. Eine solche Übersetzung würde den temporären Charakter des Begriffs der Aktualität in diesem Kontext ausblenden. Daher haben wir uns für den Begriff der ‚aktuellen Gelegenheit’ entschieden.

[13] Whitehead, Alfred North: Prozess und Realität: Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 1995, S. 98.

[14] James: Pragmatismus und radikaler Empirismus, a.a.O., S. 20.

[15] Ebd., S. 29.

[16] Ebd., S. 38.

[17] Ebd., S. 37.

[18] Ebd., S. 43.

[19] Ebd.

[20] Ebd., S. 44.

[21] Ebd., S. 45.