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06 2008

This was Tomorrow!

Die koloniale Moderne und ihre blinden Flecken

Serhat Karakayalı & Marion von Osten

Nach dem zweiten Weltkrieg kam modernen Wohnungs- und Stadtbauprojekten in Europa eine Symbolfunktion für die auf Zukunft eingeschworene Neuordnung moderner Gesellschaften und deren Lebensweisen unter fordistischen Bedingungen zu. Bekannt sind die Sozialbauwohnungskomplexe für Hunderttausende in Frankreich, England, Holland, Deutschland, Schweiz und den U.S.A., die ab den 1970er Jahren wiederum zum Symbol des Scheiterns der Moderne wurden. Von nun an auf Grund der starren Funktionstrennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen und deren Dezentralisierung als unwirtlich beschrieben, sind die Bauten der Nachkriegsmoderne und vor allem die Sozialbauwohnungen im Allgemeinen eine gerne zitierte Negativfolie. In Deutschland und der Schweiz zieht der Staat sich deutlich aus der Förderung des sozialen Wohnungsbau zurück, in Frankreich assoziert man nach Sarkozys „hartem Kurs“ mit der Massenbauweise der Nachkriegsmoderne vor allem den Kampf von MigrantInnen gegen Diskriminierung, Abschiebung und soziale Ungleichheit.

Gleichzeitig lässt sich seit ein paar Jahren bei ArchitekturtheoretikerInnen eine Trendwende in der Perspektive auf die Massenbauweise der 1950er Jahre ausmachen, die sich vor allem in den Publikationen, Forschungsprojekten und Ausstellungen ablesen lässt, die sich mit Projekten und ProtagonistInnen des Team 10 auseinandersetzen.

Das Team 10 war eine Gruppe von NachkriegsarchitektInnen, die aus der CIAM (Congrès Internationaux d'Architecture Moderne) hervorging. Die Bezeichnung „Team 10“ bekam die Gruppe, weil sie im Sommer 1953 auf dem neunten CIAM-Kongress beauftragt wurde, den zehnten CIAM-Kongress zu organisieren. Schon der neunte CIAM-Kongress endete allerdings im Konflikt mit der älteren Generation wie Le Corbusier, Gropius und Gideon u. a. Der vom Team 10 formulierten Kritik an der von der „Charta von Athen“ vor dem Krieg geforderten Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr im Städtebau wurde ein Zusammenhang von Wohnhaus, Straße, Stadtviertel und Stadt entgegengestellt. Dies geschah auf der Grundlage, dass die Architekten George Candilis und Shadrach Woods auf dem Kongress ein Grid, eine urbane Studie in Bild und Text, vorstellten, in dem diesmal nicht neue Architektur- oder Stadtplanungsentwürfe zu sehen waren, sondern eine selbstgebaute Hüttensiedlung, eine Bidonville, die von marokkanischen BinnenmigrantInnen am Stadtrand von Casablanca errichtet worden war. Diese Bidonville wurde als Lehrmodell für die Architektur und StadtplanerInnen der nächsten Generation vorgestellt. Zudem konnten die jungen Architekten ihren KollegInnen ein vollständig geplantes und realisiertes Gebäude präsentieren, das sie gleich neben den Hüttensiedlungen in Casablanca als eine Art Testbaute für „Muslime“ realisiert hatten. Diese Siedlungsbaute und das so genannte Gamma Grid hatten nachhaltigen Einfluss auf die junge   Generation von ArchitektInnen weltweit, da sich hier die Moderne scheinbar an lokale klimatische und „kulturelle“ Gegebenheiten anzupassen und ihren universalistischen Pfad zu verlassen schien.  Die neuen Ideen des Team 10 und ihre Kritik an der Vatergeneration der Moderne führte schlussendlich zur Auflösung der Organisation CIAM und die Mitglieder des Team 10 begannen bis 1981 eigenständig weiterzuarbeiten.

In einer grossen Wanderaustellung „Team 10 - A Utopia of the Present“ (1953–1981) und einem umfangreichen Katalog wurde die Arbeit des Team 10 in den letzten drei Jahren erneut aufgearbeitet und dokumentiert.[1] Aber auch die ebenso interessanten Folgeprojekte und historischen Recherchen und Forschungen lassen den Kontext, in dem diese Planungen und Fotografien, die nach 1953 in unzähligen internationalen Zeitschriften zirkulierten, enstehen konnten, meist völlig unkommentiert. Und sie ignorieren auch die größeren Planungsstrukturen in die das Candilis-Projekt in Casablanca eingebettet war, wie auch die Folgeprojekte und Bewohnung nach der Unabhängigkeit Marokkos oder die städtebauliche Situation unter den Bedingungen der Globalisierung heute. Unhinterfragt bleibt vor allem die AutorInnenschaft der ArchitektInnen und der Blick auf den Gegenstand ihrer Untersuchung und ihrer Planung, wie auch die Frage nach der Repräsentation von Architektur selbst, meist abgelichtet im Zustand ihrer unbewohnten Fertigstellung. Vor allem aber fehlt eine Erklärung für die Motivation der Aktivitäten in Nordafrika. Dies war schon in den 1950er Jahren so, als in der schweizer Zeitschrift „Werk“ im Jahr 1957 die marokkanischen und algerischen Planungen als „Neues Bauen aus Frankreich“ vorgstellt wurden, obwohl Marokko schon unabhängig war. Vergessen gingen im Diskurs der europäischen Nachkriegsmoderne, sei es in ihrer Skandalisierung oder historischen Rekonzeptualisierung, die kolonialen und anti-kolonialen Bedingungen ihrer Entstehung.

Mit diesen beschäftigen wir uns sowohl im vorliegenden Artikel, wie auch in einem Forschungs- und Ausstellungsprojekt, das gemeinsam mit den Architekturhistorikern Tom Avermaete und Daniel Weiss realisiert wird und im Herbst 2008 in Berlin im Haus der Kulturen der Welt zu sehen sein wird.[2] Darin wird eine Perspektive auf die koloniale Moderne der Nachkriegsarchitektur geworfen, die auch die Frage nach der Epistemologie des „anthropological turn“ der Nachkriegsmoderne stellt, wie auch nach möglichen Ausgängen einer solchen Erinnerungsarbeit, in der das Projekt der Moderne nicht nur als reines Herrschaftsverhältnis zu begreifen wäre, sondern als Aushandlungsraum verschiedenster AkteurInnen mit unterschiedlichen Privilegien.

 
New Towns

„The colonies constituted a laboratory of experimentation for new arts of government capable of bringing a modern and healthy society into being.“ (Rabinow, 289)

 
Das Interesse der ArchitektInnen der Moderne an Nordafrika lässt sich einerseits mit dem morphologischen Interesse des Modernismus an den „kubischen Formen“ der „weißen Häuser“ erklären, die seit Ende des 19. Jahrhunderts als ein formales Repertoire im gesamten mediterranen Raum lokalisiert wurden. Andererseits haben die europäischen Bildungsreisen nach Nordafrika und die damit verbundenen Orientalismen, Exotismen und erotischen Phantasien, wie sie nicht nur in Le Corbusiers Arbeiten und Reisebeschreibungen zu finden sind, die Projektionen auf diesen Raum begünstigt.[3]

Mit einem leicht veränderten Fokus auf Nordafrika lässt sich das Verhältnis zwischen Architekturmoderne, Nordafrika und Kolonialismus aber noch weiter konkretisieren: Im 20. Jahrhundert waren die europäischen Projekte der Architekturmoderne häufig visionäre Aussagen geblieben oder meist nur in Modellform verwirklicht worden. Das koloniale Algerien, Tunesien und Marokko boten dagegen auch in der Zeit des italienischen und deutschen Faschismus die Möglichkeit, Bauten und Siedlungen zu entwickeln und im vollen Ausmaß zu verwirklichen. Viele ArchitektInnen der Moderne, die sich im Rahmen des Congrès Internationale d'Architecture Moderne (CIAM) seit 1928 regelmäßig trafen, entwickelten und realisierten ihr diskursives und praktisches Handwerkszeug für die Massenbauweise vielfach unter den Bedingungen der Kolonialzeit in Afrika und nicht in Europa.[4] Casablanca war in der Zeit der französischen Protektoratsverwaltung durch deren immense Siedlungsbautätigkeit in den späten 1940er Jahren bereits zur Modellstadt für moderne Siedlungsarchitektur avanciert, bevor diese in einem durch den zweiten Weltkrieg zerstörten Europa realisiert wurde. In dieser Tradition steht auch der – zu seiner Zeit schon als „monströs“ bezeichnete – Masterplan für Casablanca, der in den 1950er Jahren von Michel Écochard konzipiert und jungen Architekten aus Frankreich und der Schweiz wie Marcel Lods, Georges Candilis, Victor Bodiansky, Shadrach Woods, Pierre Emery, Jean Hentsch, André Studer, Fernand Pouillon, Jean-François Zevaco und anderen umgesetzt wurde. Casablanca stand für die Vision der „Stadt von morgen“, wie sie u. a. auf der Internationalen Bauaustellung 1957 in Berlin verhandelt werden sollte, genau ein Jahr nach Marokkos Unabhängigkeit und dem Abzug der Franzosen. Diese Sonderstellung im Architekturdiskurs der Nachkriegsmoderne nahm aber nicht nur die Stadt Casablanca ein, sondern auch andere nordafrikanische Städte wie Algier, Oran und Tunis. Algier wurde zur Projektionsfläche für große Überbauungspläne der klassischen Moderne, wie es der „Plan Obus“ 1933 von Le Corbusier deutlich macht.[5]

Nordafrika hatte im Laufe des 20. Jahrhunderts unter der Kolonialherrschaft die Funktion eines Laboratoriums für europäische Modernisierungsphantasien eingenommen. In der auf das Automobil ausgerichteten Stadt Casablanca ist so die erste Tiefgarage Europas wie auch das größte „europäische“ Schwimmbad entworfen worden. Im rechtlichen Ausnahmestatus des Kolonialismus wurden so unzählige Projekte realisiert, die in der Folge im Nachkriegseuropa zur Anwendung kamen: die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Kontrolle der migrierenden Landbevölkerung und deren Urbanisierung durch neue Siedlungsbauten und, damit verbunden, die Erziehung zu einer neuen Lebensform.[6] Die koloniale Modernisierung richtete sich daher nicht nur an und gegen die Kolonisierten, sondern zielte auch auf ein umfassendes Modernisierungsprojekt für die europäischen Metropolen: „If there was a civilizing mission, its target was the French.“[7] Und nicht nur das frankophone Europa war an diesen Modernisierungsprojekten beteiligt, auch Firmen und Bauununternehmen aus Spanien, Deutschland und Italien expandierten in den kolonialen Raum und waren an großen Infrastrukturplanungen beteiligt.

Um aber ein Großkonzept wie Le Corbusiers „Plan Obus“ für Algier imaginieren zu können, musste das Territorium von der Vorstellung befreit werden, dass es bereits Städte, Architektur und BewohnerInnen gab, die dazu eine eigene Meinung hätten haben können. Genau diese Kontextlosigkeit ist kennzeichnend für die territorialen Imaginationen, Praktiken und Repräsentationspolitiken der kolonialen Moderne.[8] Die Gründung von Casablanca nach der kriegerischen Übernahme der Verwaltung Marokkos durch Frankreich war von dieser Vorstellung einer Tabula Rasa motiviert. Casablanca wurde in den 1910er Jahren als Hafenstadt für EuropäerInnen an einen Ort gebaut, an dem „möglichst wenig MarokkanerInnen lebten“.[9]

Rund um diese neue französisch-marokkanische Hafenstadt, für den Abstransport von Phosphat gebaut, wurden bald Fabriken errichtet, in denen spanische, italienische, deutsche und französische ArbeitsmigrantInnen beschäftigt waren, die sich außerhalb der so genannten europäischen Stadt ansiedelten. Viele von Ihnen waren vor den Diktaturen und Verfolgungen Europas nach Marokko geflohen. Aus den ersten prekären Siedlungen ging vor den Toren der Protektoratsstadt das Stadtviertel Maarif hervor, zu dem auch die marokkanische Bevölkerung freien Zutritt hatte. In den 1930er Jahren wurden erste Siedlungen, so genannte Arbeitsbaracken, für die europäischen ArbeitsmigrantInnen gebaut. Zudem war das religionstolerante Königreich Marokko ein historisch zentraler Ort für die jüdisch-afrikanische Bevölkerung.

In den 1940er Jahren begannen die ersten als „kulturspezifisch“ bezeichneten Bauprojekte für BinnenmigrantInnen, vor allem Bauern aus dem Hinterland und dem Atlasgebirge, die dem Versprechen auf Lohnarbeit gefolgt waren. Die Protektoratsverwaltung hatte zwar Fabriken gebaut und die Lohnarbeit eingeführt, scheinbar aber nicht zwangsläufig auch mit der daraus folgenden Urbanisierungsdynamik, wie zum Beispiel der Landflucht, gerechnet. Zentrales Motiv der groß angelegten Nachkriegsplanungen war daher, dass sich am Rand von Casablanca, für die Protektoratsverwaltung unerwartet, die marokkanische Landbevölkerung improvisierte Hüttensiedlungen errichtet hatte, so genannte Bidonvilles. Für diese „große Zahl“ der BinnenmigrantInnen wurden in ebenso „großer Zahl“ neue Siedlungskomplexe entwickelt und fortschreitend gebaut – begründet mit Argumenten aus dem Repertoire von Hygienediskurs und Ordnungspolitik.

Diese neuen Siedlungskomplexe der Nachkriegsjahre wurden kategorisiert in Bauten für MuslimInnen, JüdInnen und EuropäerInnen. Erstere wurden weit entfernt von der europäischen Stadt errichtet, an den Rand einer leeren Zwischenzone, einer so genannten „Zone Sanitaire“. Diese war von der Protektoratsregierung geschaffen worden und durch Straßenringe und die neue Autobahn begrenzt. Die BewohnerInnen der europäischen Kernstadt konnten mit den neuen BewohnerInnen Casablancas so kaum in Kontakt treten. Diese aufällige räumliche Trennung stammte aus dem kolonialen Apartheidsregime, in dem den MarokkanerInnen verboten war die Protektoratsstadt zu betreten, außer sie waren als häusliche Bedienstete in bürgerlichen Haushalten beschäftigt.[10] Die Bauten für die marokkanischen JüdInnen, wie etwa die El Hank, wurde ebenfalls außerhalb der Kernstadt errichtet, allerdings in einer Art Zwischenzone, die sichtbar war für die bürgerliche französische Bevölkerung Casablancas, in der Nähe des Meeres, an der Corniche, zwischen dem reichen Villenviertel Anfa und der alten Medina gelegen. Die räumliche Ordnung der neuen Siedlungs- und Stadtplanungen war also hierarchisch organisiert, sie unterschied die marokkanische Bevölkerung in Glaubensgruppen (jüdische, muslimische), während die Europäer eine universelle Kategorie blieben. Selbst wenn diese auch auf Grund der Klassenzugehörigkeit „armen Weiße“ oder „Mauvais colon“ von den bürgerlichen EinwohnerInnen differenziert und räumlich von der Kolonialstadt getrennt waren, so vermied das Protektorat in seinem Sprachgebrauch die Bezeichung von Klassenzugehörigkeit. Gleichzeitig hatte das Protektorat die marokkanische Bevölkerung als neue billige Arbeitskraft entdeckt und konnte sein Modernisierungsprojekt gerade auf Grund der vielfältigen Migration aus Marokko und Europa realisieren.

 

Von der Wohnmaschine zum Habitat

„We regard these buildings in Morocco as the greatest achievement since Le Corbusier's Unité d'Habitation at Marseilles. Whereas the unité was the summation of a technique of thinking about 'habitat' which started forty years ago, the importance of the Moroccon buildings is that they are presented as ideas; but it is their realization in built form that convinces us that here is a new universal.“ (Alison and Peter Smithson, 1955)


Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges plante in Casablanca das Architekturbüro ATBAT-Afrique gemeinsam mit EthnologInnen, GeografInnen und SoziologInnen in gewaltigem Ausmaß moderne Siedlungskomplexe vor allem für die muslimische und jüdische Bevölkerung.

Für die „kulturspezifischen“ Planungen sind vor allem zwei paradigmatische Bauten wie die Sidi Othman der Schweizer Architekten André Studer und Jean Hentsch und die Cité Verticale Casablanca (Marokko 1952) von George Candilis und Shadrach Woods bekannt geworden. Die jungen Architekten hatten sich alle auf der Baustelle der Unité d'Habitation in Marseille kennen gelernt, wo sie für Le Corbusier gearbeitet hatten. Das Büro ATBAT-Afrique, in dem sie nun beschäftigt waren, war ein nordafrikanischer Ableger des ATBAT-Büros der Unité Marseille für Bauvorhaben in den Kolonien.

Die als „Testbaute“ ausgewiesene mehrstöckige Cité Verticale Casablanca (Marokko 1952) wurde direkt neben einer der bis heute grössten Bidonville Casablancas, der Carriere Central, sowie neben anderen einstöckigen Bauversuchen der Cité Horizontale von Michael Écochard errichtet. Damit verbunden wurde die Vorstellung einer „Evolution“ des Wohnens und eine des modernen StadtbürgerIn-Werdens. Zudem entwickelten die Architekten vor Ort eine neue Art und Weise des Planens, die auf das Wohnverhalten der maghrebinischen Bevölkerung eingehen wollte, um eine Art Synthese zu schaffen zwischen europäischer Moderne und einer als maghrebinisch ausgemachten Kultur. Dafür standen die selbstgebauten Hüttensiedlungen, die Bidonville, im Zentrum der Analysen von Candilis und Woods für Studien für ein  „kulturspezifisches“ Wohnverhalten. Die selbstgebauten Hüttensiedlungen wurden wohl auch wegen der räumlichen Nähe zum Forschungsgegenstand zum Imaginationsraum für ein radikales Verständnis von Nutzungen und Wohnformen. Wohnbedürfnisse drückten sich hier in der Bidonville nicht durch deren Planung aus, wie sie die technokratische Moderne vorgab. So „lernen“ die europäischen Architekten von den BewohnerInnen der Bidonvilles, wie sich das Haus, die Straße, der öffentliche Platz ohne ArchitektInnen und StadtplanerInnen selbst organisieren würde.

Diese Idee der Bewohnung, einer temporären und flexiblen Nutzung, wurde durch die Arbeit in Nordafrika in den methodischen Kanon der ArchitektInnen der Nachkriegsmoderne integriert. In die folgenden Siedlungsplanungen und Grundrisse fließen die „Wohn- und Lebensweisen“ der maghrebinischen MigrantInnen ein. Der Perspektivwechsel mit dem Blick „auf die Leute“ hatte zum Ziel, die universalistisch-technokratischen Planungsmethoden des Modernismus in Frage zu stellen, welcher der Nutzung und Aneignung durch die BewohnerInnen kaum bis gar keine Rechnung getragen hatte. Das in dieser Zeit in Architekturkreisen gängige Vermittlungsmedium der Grids wurde durch diesen „anthroplogical turn“ um die Dimension der Nutzung erweitert. Offene und verbindende Räume wurden in die Betrachtung des Wohnens mit einbezogen und so Innen- und Außenraum der Architektur als ein komplexes urbanes und soziales Netz verstanden. Wohnen selbst produziert demnach spezifische soziale und kulturelle Beziehungen, die über das Wohnen selbst hinausgehen und als HABITAT bezeichnet wurden.

Die Cité Verticale und die Erkenntnisse in Casablanca spielten in der Folge im Diskurs um eine „andere Moderne“, wie sie durch das Team 10 international geführt wurde, eine wesentliche Rolle. Schließlich führte die Präsentation der Bidonville im so genannten „Gamma Grid“ und die damit vorgetragene Kritik auf dem vorletzten CIAM-Kongress in Aix-en-Provence 1953 zur Auflösung dieser Organisation. Alison und Peter Smithson, wie Candilis und Woods Mitglieder des Team 10, schreiben zum spezifischen Zugang, wie er in Nordafrika entwickelt wurde, dass durch diese Arbeit eine neue Sprache der Architektur entstehen konnte, die durch die Strukturen der Bewohnung (inhabitation) erst generiert wurde.[11] Im Gegensatz zu ihren modernen „Vorvätern“ erkannten die jungen Architekten von ATBAT-Afrique an, dass das Territorium im wahrsten Sinne des Wortes bereits bewohnt war.[12] Dieser anthropologische Blick auf improvisierte Siedlungsformen wie die der Bidonville war allerdings nur möglich, da Nordafrika auch seit langem bereits ein Laboratorium ethnologischer, anthropologischer und soziologischer Forschungen war.

Die „Bauversuche“ fanden zudem bei zunehmender Präsenz des Militärs in den Straßen Casablancas statt, denn in den Vorstädten organisierte sich längst der Widerstand gegen die französische Verwaltung: der Generalstreik 1952, der gerade von der Bidonville auf der Carriere Central ausging. Bombenanschläge und Demonstrationen kennzeichneten den Alltag und kündeten das Ende der Kolonialherrschaft im mediterranen Raum an. Und auch in und für Algerien werden bis zum Ende des Krieges 1961 in unzähligen Siedlungen die so genannten HLM „für die große Zahl“ gebaut, so als wären die Dynamiken der kolonialen Modernisierung trotz Widerstand und Krieg einfach nicht zu stoppen. Der spezifische Zusammenhang zwischen Bauvorhaben und Krieg in Nordafrika äußert sich in jenem berühmt gewordenen Ausspruch des ersten „General Résident“ von Marokko, Hubert Lyautey: „Un Chantier ouvert vaut un bataillon. Un Batiment terminé vaut une bataille gagné.“[13]

 
Learning from...

Das Dispositiv der Beobachtung, die Empirie von Candilis, Woods und dem Büro ATBAT-Afrique in Nordafrika schlossen unkritisch an die ethnologischen, anthropologischen Forschungsaktivitäten und künstlerischen Narrative des 19. und 20. Jahrhunderts im afrikanischen Raum an. Die Architekten wollten ethnologische Verfahren für die Architektur der Nachkriegsmoderne nutzbar machen, um diese bewohnergerecht zu gestalten. Dabei wurde die Kultur der Improvisation, die zunächst ebenso wie das Migrieren eine Überlebensstrategie ist, in der neuen Baukultur als ein Konzept der Evolution des Wohnens verstanden. Die Siedlungsvorhaben, in die das solchermaßen verstandene Wissen integriert wurde, wurden als „culture-specific“ begriffen und damit essenzialisiert.

Die Neukonzeption der Nachkriegsmoderne ist gekoppelt an einen Transfer von Praktiken mobil gewordener Bevölkerungsgruppen, die man mit dem Planungsinstrument einer Architektur für die „Große Zahl“ zu regulieren und zu kontrollieren angetreten war.

Die Moderne stellt nicht das Gegenüber des Kolonialismus dar. Vielmehr ist der Kolonialismus in all seinen Stadien Bedingung für die Durchsetzung der Moderne, auch für die „andere Moderne“ der Nachkriegsära, die die Zeit der anti-kolonialen Befreiungsbewegungen in einen methodenkritischen Shift verwandelt, wie es auch schon der Primitivismus zu den Hochzeiten des Kolonialismus getan hatte. Die Moderne als Avantgarde ermöglichte sich durch die Konstruktion einer skalierten Zeit, in der die kolonisierten Gesellschaften zu vormodernen deklariert wurden.[14] Genau diese Ordnung der Zeit als Projekt der Epochalisierung wurde im 20. Jahrhundert gerade durch die Kolonisierten selbst zunehmend in Frage gestellt und eingeholt. Dennoch bleibt diese Ordnung der Zeit bis heute persistent und ist immer wieder aufs Neue Gegenstand politischer und philophischer Auseinandersetzungen.

In den 50er und 60er Jahren beinflussten die Ergebnisse der Untersuchungen in den Shanty Towns an den Stadträndern und die daraus resultierenden Bauten in Casablanca und Algier eine ganze Generation von ArchitektInnen nachhaltig. Die CIAM-Kongresse und die Grids waren dabei nur ein wichtiges Medium zur Verbreitung. Artikel in Architekturmagazinen, Ausstellungen und Wettbewerbe internationalisierten die Konzepte. Kulturelle Techniken, die bislang nicht als modern, sondern vormodern galten, wurden von internationalen ArchitektInnen nun ausgiebig untersucht. Das Wohnen wurde mit dem Blick des ethnologischen Forschers auf das „Ur-Humane“ als evolutionär beschrieben.[15] Der Begriff „HABITAT“ wird der international gebräuchliche Begriff für Wohnen und Siedlungsarchitektur. Mit den Gestaltungs-, Forschungs- und Planungsverfahren eines „Learning from Vernacular Architecture“ entwickelte sich auch die vorindustrielle Stadt wie der Nomadismus zu einer didaktischen Figur der 1960er Jahre. Diese Bezüge finden wir in der einflussreichen Ausstellung „Architecture without Architects“ von Bernard Rudofsky im MoMa 1964, ebenso wie bei Sibyl Moholy-Nagy, Moshe Safdie, Yona Friedman, Ron Heron und vielen ArchitektInnen der post-kolonialen Welt, die sich diese Verfahrens- und Anschauungsweisen aneigneten oder weiterentwickelten.[16]

Diesem Strang der anthropologisch motivierten Moderne der Nachkriegszeit, in der Vormoderne und Moderne synthetisiert, wurde bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt, weder im Sinne der internationalen oder transnationalen Lokalisierungen, noch in Bezug auf ihren spezifischen Eurozentrismus. Die Bezugnahme auf die Kashbah und die Bidonville als Modell für die Konzeption des HABITAT ist morphologisch, kulturalisierend und ethnifizierend. Die vorgefundenen kolonialen und post-kolonialen Verhältnisse werden weder bei den ArchitektInnen noch in der Kritik oder Theorie grundlegend in Frage gestellt oder als Bedingungen gekennzeichnet. Das ethnografische Regime, in dem die Debatte der Nachkriegsmoderne entstehen konnte, wird vielmehr bestätigt. Gleichzeitig – und das ist wohl das Wesentliche – werden die Kämpfe der anti-kolonialen Befreiungsbewegungen ausgeblendet und damit auch die post-kolonialen Subjekte als Subjekte der Moderne.[17] Stattdessen wird seit den 1950er Jahren die Methode des „Learning from …“ als eine Hinwendung zum Alltag zur Nutzung gefeiert. Eine machttheoretische Befragung des „Learning from …“, das bis heute als „bessere“ oder ethischere Planung (und bis heute auch als ethischere Kunstpraxis) gilt, ist ausgeblieben.

 
Plan Million

Die unter kolonialen Bedingungen gewonnenen Erkenntnisse über das Wohnen und „das Bauen für die große Zahl“ fließen so ab Mitte der 1950er Jahre in die Vorstadtplanungen in Frankreich, Holland, Belgien, Schweiz und Deutschland ein.[18] Die fortschreitende Modernisierung wie auch die kolonialen Befreiungskämpfe lösten zudem nicht erst in den 1960er Jahren eine nächste Bewegung aus, eine Migration aus dem Süden in den Norden, nach Europa. So wanderten aber nicht nur Menschen vom Land in die Stadt oder aus den ehemaligen Kolonien nach Frankreich, Belgien, England oder Deutschland. Auch die spezifische Form des Bauens wanderte von den nordafrikanischen Vorstädten an die Ränder der europäischen Großstädte. Dort wurden HLM-Überbauungen häufig auch auf oder neben den Kastensiedlungen am Rand der Metropolen errichtet. Und es entstanden die ersten uns bekannten Grand Ensembles im Europa der Nachkriegszeit; in der Wüste entwickelt, auf die Wiese gebaut.

Im Jahre 1954 gewinnt das Team um Candilis in Frankreich den Wettbewerb um das Projekt „Million“, dessen Zielsetzung in der Senkung der Baukosten für eine Drei-Zimmer-Sozialwohnung besteht. In den folgenden 20 Jahren bauen das Team Candilis, Josic und Woods mehr als 10.000 Sozialwohnungen, vor allem in der Pariser Region, in Marseille und auf Martinique. 1961 gewinnt das Team den Wettbewerb um den ab 1963 erfolgten Bau der Satellitenstadt Toulouse Le Mirail, in der heute fast 100.000 EinwohnerInnen leben.[19] Diese Bauten kamen nicht nur auf Grund der „Großen Zahl“ in die Schlagzeilen, sondern auch, weil 1998 nach der Erschießung eines Jugendlichen durch die Polizei die ersten Riots in dieser Banlieue ausbrachen.

Politische Gruppen aus den Banlieues in Frankreich nennen sich heute die „Indigène de la République“ und skandalisieren mit dieser Selbstbeschreibung die sozialen Verhältnisse in den Banlieues als Verwaltung von Menschen und sozialen Beziehungen analog zu den Machttechniken des Kolonialismus. Sie beziehen sich damit implizit auf Ergebnisse der Kolonialismusforschung, die zeigen konnte, dass bestimmte Machttechniken (post-)koloniale Reimporte darstellen. Techniken der Kontrolle von Mobilität und Menschen (nicht zuletzt der Aufstandsbekämpfung), die zurück ins Mutterland kamen – vom Maschinengewehr bis zum Konzentrationslager.

 
Moderne und Migration

Jenes Versprechen, mit dem die Mitglieder des Team 10 den Universalismus der Moderne von Architekten wie Le Corbusier herausforderten, realisierte sich allerdings möglicherweise ganz anders als erwartet, nämlich in den sozialen und politischen Kämpfen um Migration und BürgerInnenschaft in den Banlieues und Vorstädten, in Toulouse Le Mirail, in Nanterre und anderswo: indem das gebaute Terrain auch zum Ort des Widerstands verwandelt wurde.[20] Denn scheinbar nur so wurden die dem Versprechen der Moderne innewohnenden Machtwirkungen wieder eingeblendet: Durch die sozialen Bewegungen der Banlieues, die sich vielfach selbst in den Kontext post- oder neokolonialer Beziehungen situieren. In diesem Sinne erinnern uns die Banlieues daran, „dass die verleugnete koloniale Geschichte der europäischen Stadt längst heim gekommen ist.“[21]

Denn das Versprechen der „anderen Moderne“, die lokalen Lebensbedingungen und -gewohnheiten in die urbane Planung einzubeziehen, war ambivalent, fußte ethnografischesWissen doch auch auf spezifischen Produktionsbedingungen. Bedingungen, die möglicherweise zu einer fundamentalen epistemologischen Verkennung, einer „misrecognition“ führen.[22] Eine solche Annahme ist nicht nur deshalb schlüssig, weil der Kolonialismus einen „ethnografischen Staat“[23] erzeugt, d. h. die Unterwerfung der Kolonisierten auf der Grundlage ethnografischen Wissens durchführt. Die epistemologische Verkennung betrifft vielmehr den Status der Lebensbedingungen und Lebensweisen der Kolonisierten: Anstatt das anthropologische Wissen über die Lebensweisen der Kolonisierten für bare Münze zu nehmen, muss die Anthropologie – auch die der „anderen“ Moderne – selbst als Feld der kolonialen Kämpfe interpretiert werden.[24]

Ein erster Hinweis auf diesen Zusammenhang besteht bereits in der Verbindung zwischen Bidonvilles und den modernen Bauten. Denn die Siedler der Bidonvilles sind mehrheitlich (Binnen-)MigrantInnen, d. h. Menschen, die aufgrund verschiedenster Ursachen (von denen manche Effekte des Kolonialismus sind) ihre Lebenssituation verändern, indem sie migrieren. MigrantInnen sind aber nicht nur „Charaktermasken“ der sie anstoßenden Push- oder Pull-Effekte. Sie repräsentieren vielmehr eine „echte soziale Bewegung, bei deren Analyse immer auch die subjektive Seite einbezogen werden muss.“[25] So sieht der Gründungsvater der deutschen Soziologie, Max Weber, Migration als einen bewussten Versuch, dem patriarchalischen System des Landes und dem Despotismus der Großgrundbesitzer zu entfliehen. Die Landflucht ist für ihn eine Art „Mobilmachung zum Klassenkampf“, ein „latenter Streik“[26], der dazu beiträgt, ein ganzes gesellschaftliches und wirtschaftliches System auszuhebeln. Auch die gegenwärtige Migration aus und durch Afrika ist nicht auf die katastrophalen Bedingungen zu reduzieren, unter denen sie stattfinden muss. Die Vorstellung einer erzwungenen oder von Schlepper-Mafias kontrollierten Migration hat mehr mit der humanitaristischen Legitimation der Migrationskontrollen zu tun als mit der Realität der afrikanischen Migration.[27] Was Candilis und das Team 10 als „culture-specific housing“[28] auszumachen glaubten, entpuppt sich aus dieser Perspektive vielmehr als dynamische Auseinandersetzung mit den sozialen Bedingungen einer „marokkanischen Identität“. Damit geht die Ausstellung auch der Frage nach, ob der transnationale soziale Raum der Migration, der sich zweifelsohne bereits seit den Kolonialbeziehungen zwischen Frankreich und Nordafrika zu etablieren begonnen hatte (und zu dem später – im Zuge der „GastarbeiterInnenanwerbung“ auch Länder wie die Bundesrepublik Deutschland gehörten), ebenso mit der „Reise“ der urbanistischen und architektonischen Konzepte kommuniziert.

Einen Hinweis darauf liefert die Arbeit von Abdelmajid Arrif, der in seiner ethnografischen Studie zur Umsiedlung von BewohnerInnen einer Bidonville in Casablanca von einem „dialogue souterrain“ zwischen den Stadtteilen „Ben M'sik/ Hay Moulay Rachid, Bethnal-Green/ Greenleigh et le 13eme arrondissement de Paris“[29] spricht. Diese Orte sind nicht nur durch die CIAM-Architekten und ihre Diskurse miteinander verbunden (in Bethnal-Green stehen die von den Smithsons gebauten Robin Hood Gardens), die in kolonialen bzw. postkolonialen Kontexten den Bruch mit der technokratischen Moderne suchten, sondern sie sind auch Teil jenes transnationalen Raums der Migration, in der nicht nur Konzepte des Modernismus zirkulieren, sondern auch Praktiken der Aneignung von Bauten oder des Widerstands gegen Umsiedlungen, ebenso wie in Ben M'sik Anfang der 1980er Jahre. Daher werden mit der kommenden Ausstellung in Berlin auch die Modernisierungsmythen der 1950er und 1960er Jahre mit sozialen Konflikten und Repräsentationspolitiken um die Bidonvilles und das „Recasement“ in Frankreich und Nordafrika in den 1950er und 1960er Jahren wie auch den Auseinandersetzungen um die ArbeiterInnenwohnheime für MigrantInnen in Frankreich in den 1970er Jahren in Verbindung gebracht.[30]

 
Negotiating Modernity

Inwiefern die städtebauliche und architektonische Migration strukturierend auf die sozialen und politischen Verhältnisse zwischen Kolonisierten und KolonisatorInnen einerseits und auf die transnationale Migration andererseits gewirkt haben, wurde bislang kaum untersucht. Interpretiert man die soziale Neuordnung dieser Bauten rund um das Mittelmeer als eine räumliche Form der Disziplinierung und Adressierung, ließen sich aus heutiger Perspektive eine Vielfalt neuer Fragen diskutieren: Fragen nach den lokalen Rezeptionen dieser Planungen etwa und danach, wie diese sich während und nach den Befreiungskriegen veränderten und dies bis in die Gegenwart hinein tun.

Ziel unserer Forschung ist es, die Migration und Lokalisierung sowie die Wechselwirkungen und transnationalen Einflüsse der Moderne als eine neue Karte der Einflüsse und Beziehungen zwischen Kontinenten und Konzepten zu zeichnen, in denen die Idee einer „Moderne“ nicht nur passiv von Europa gleichsam in Empfang genommen wird, sondern sich in unterschiedlichen Richtungen bewegt, zirkuliert und neu „verhandelt“ wird.

Dieses Konzept des Negotiating setzt sich damit kritisch von Ansätzen ab, in denen Moderne und Modernisierung (auch im kolonialen Kontext) ausschließlich als Oktroi interpretiert werden. Die Aushandlungen um Modernität fanden und finden nicht nur in der Gestalt neuer künstlerischer Ausdrucksformen, Planungstechniken oder der Entwicklung moderner Behausungen statt. Vielmehr sind sie das Produkt des Zusammentreffens unterschiedlicher AkteurInnen, wie der utopischen urbanistischen Projekte von ArchitektInnen, SoziologInnen und PlanerInnen mit den (kolonisierten) BewohnerInnen und ihren nicht minder modernisierenden Aneignungsweisen der entsprechenden Bauten.

Nordafrika als ein Laboratorium der Moderne zu denken heißt also auch, die Ambivalenz dieser Moderne zu reflektieren. Nicht immer und nicht ausschließlich sind die modernen Projekte solche von Dominanz und Unterdrückung. Durch die jüngere Imperialismus- und Kolonialismusforschung wurde gezeigt, dass sich die Kolonialbeziehungen nicht als asymmetrisches Machtverhältnis zwischen zwei Parteien verstehen lässt, die sich gleich blieben.[31] Wie nicht erst Edward Said deutlich gemacht hat, haben die Moderne und die ihr innewohnenden emanzipativen Potenziale auch dazu beigetragen, dass sich die anti-kolonialen Befreiungsbewegungen in der Nachkriegszeit erfolgreich gegen die Kolonialmächte konstituieren konnten. Dass die daraus entstandenen Staatsprojekte das Versprechen der Emanzipation oftmals nicht einlösen konnten und sich in vielen Fällen zu Erben der Kolonialmächte entwickelten, ist nicht minder jener Dialektik der Moderne zuzuschreiben, als die sie Adorno und Horkheimer untersucht hatten. Tatsächlich begannen in der Folge der Befreiungsbewegungen die KritikerInnen des imperialen Europas eine andere Moderne zu schreiben, jenseits von Dominanz, Kontrolle und Disziplin.[32]

Die Modernisierung hatte alle erfasst (wie etwa durch den Einfluss des Marxismus) und löste weltweit eine ganze Welle von kritischen Projekten aus, nicht zuletzt die politische und kulturelle „Revolution“ von 1968 im Westen. Europa definiert sich über den kolonialen Raum immer wieder neu, gleichzeitig erzeugen die Imaginationen und Erfahrungen auch Brüche und Kritik. Bestehende Erzählungen wurden überarbeitet, in Frage gestellt, neue AkteurInnen betreten die Bühne der Geschichte. Die Modi der Verschränkung zwischen den verschiedenen Sphären der Modernität – sozioökonomisch, künstlerisch, politisch – wurden und werden durch ein Regime reguliert, das sich durch Aushandlungen, durch Konflikte und Kämpfe, verändert. Die Spannungen im Projekt der Moderne sind nicht gelöst, weil die Rolle maßgeblicher AkteurInnen in der Transformation von Modernität bisher nicht ausreichend beachtet wurde.

 
Bibliografie
:

Mogniss Abdallah, J’y suis, j’y reste!: les luttes de l’immigration en France depuis les années soixante, Paris 2000.

Janet Abu-Lughod, Rabat: Urban Apartheid in Morocco, Princeton, N. J. 1980.

Brian Ackley, Blocking the Casbah: Le Corbusier's Algerian fantasy, in: Bidoun, Issue 06, Winter 2005.

Abdelmajid Arrif, Le passage précaire: du bidonville au lotissement ; anthropologie appliquée d'une mutation résidentielle ; le cas de Hay Moulay Rachid à Casablanca, Aix-Marseille 1991.

Arjun Appadurai, Modernity at large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis: 1996.

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Der vorliegende Text erscheint parallel in: schnittpunkt ausstellungstheorie & praxis (Hg.), Das Unbehagen im Museum. Postkoloniale Museologien, Wien: Turia + Kant 2008.



[2] Die Ausstellung “In der Wüste der Moderne. Koloniale Planung und danach“ und ein Begleitprogramm sind vom 29.8. bis 2.11.2008 in Berlin im Haus der Kulturen der Welt zu sehen.

[3] Vgl. Edward Said, Kultur und Imperialismus: Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht Frankfurt am Main 1994; Regina Gödecke, Der koloniale Le Corbusier. Die Algier-Projekte in postkolonialer Lesart, in: Wolkenkuckucksheim - Cloud-Cuckoo-Land - Vozdushnyi zamok. Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 10. Jg. Heft1, 2006. Sonderausgabe: From outer space. Architekturtheorie außerhalb der Disziplin (1); Marc Wigley, White walls, Designer Dresses: The fashioning of modern architecture. Cambridge, Mass. 1995.

[4] Vgl. Mustafa Baghdadi, Changing Ideals in Architecture: From CIAM to Team X, in: William O'Reilly (Hg.), Architectural Knowledge and Cultural Diversity, Lausanne 1999; Eric Mumford, CIAM discourse on urbanism, 1928-1960. Cambridge, Mass. 2000.

[5] Vgl. Brian Ackley, Blocking the Casbah: Le Corbusier's Algerian fantasy, in: Bidoun, Issue 06, Winter 2005.

[6] Vgl. Pierre Bourdieu, In Algerien. Zeugnisse einer Entwurzelung, Graz 2003.

[7] Paul Rabinow, French Modern. Norms and Forms of the Social Environment, Cambridge, Mass. 1989, S. 286.

[8] Vgl. Paul Overy, White Walls, White Skins. Cosmopolitanism and Colonialism in Inter-war Modernist Architecture, in: Kobena Mercer (Hg.), Cosmopolitan Modernisms, Cambridge, Mass. 2005, S. 50–67.

[9] Vgl. Jean-Louis Cohen, Monique Eleb, Casablanca. Colonial Myth and Architectural Ventures, New York 2002.

[10] Vgl. Cohen, Eleb, Casablanca, a.a.O.; Janet Abu-Lughod, Rabat: Urban Apartheid in Morocco, Princeton, N.Y. 1980; Zeynep Celik, Urban Forms and Colonial Confrontations: Algiers Under French Rule, University of California Press, Berkley 1997.

[11] Vgl. Alison Smithson, Team 10 Primer, Cambridge, Mass. 1968.

[12] Vgl. Monique Eleb, An Alternative Functionalist Universalism: Ecochard, Candilis and ATABAT-Afrique, in: Sarah Williams Goldhagen, Réjean Legault (Hg.), Anxious Modernisms Experimentation in Postwar Architectural Culture, Cambridge, Mass. 2000; Tom Avermaete, Another Modern - the Post-war architecture and urbanism of Candilis-Josic-Woods, Rotterdam 2005.

[13]Le Maroc Modern. Architecture et urbanisme. Réalités et expansion du Maroc, Numero Special Fedala 1954, S.10.

[14] Vgl. Peter Osborne, The Politics of Time: Modernity and Avant-Garde, London, New York 1995.

[15] Vgl. V. Y. Mudimbe, The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy and the Order of Knowledge, Bloomington et al. 1988; Mustafa Baghdadi, Changing Ideals in Architecture, a.a.O.

[16] Vgl. Felicity Scott, Bernard Rudosky: Allegories of Nomadism and Dwelling, in: Sarah Williams Goldhagen, Réjean Legault (Hg.), Anxious Modernisms, a.a.O., S. 215–237; Jonathan Hughes, Simon Sadler, Non-Plan: Essays on Freedom, Participation and Change in Modern Architecture and Urbanism, Oxford 2000.

[17] Vgl. Mark Crinson, Modern Architecture and the End of Empire, Aldershot 2003.

[18] Vgl. Annie Fourcaut, 1950- Les premiers grands ensembles en region parisienne: Ne pas refaire la banlieue?, in: French Historical Studies - Volume 27, Number 1, Winter 2004, S. 195–218.

[19] Vgl. Tom Avermaete, Another Modern, a.a.O.

[20] Vgl. Mogniss Abdallah, J’y suis, j’y reste!: les luttes de l’immigration en France depuis les années soixante, Paris 2000; Manuela Bojadžijev, Antirassistischer Widerstand von Migrantinnen und Migranten in der Bundesrepublik: Fragen der Geschichtsschreibung, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Nr. 1, 2002, S. 125–152.

[21] Regina Gödecke, Der koloniale Le Corbusier, a.a.O.

[22] Vgl. Arjun Appadurai, Modernity at large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996.

[23] Vgl. Nicholas Dirks, Castes of Mind: Colonialism and the making of Modern India, Princeton 2001.

[24] Vgl. Mudimbe, The Invention of Africa, a.a.O.

[25] Sandro Mezzadra, Migration – Kapitalismus – Nation. Der junge Max Weber zur Lage der Landarbeiter im ostelbischen Preußen, in: Associations Nr. IV, 2, 2000, S. 286.

[26] (MWG) Max Weber Gesamtausgabe: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892–1899, Band I/4-1, hg. v. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 2000, S. 452.

[27] Vgl. Hein de Haas, The Myth of Invasion: Irregular migration from West Africa to the Maghreb and the European Union, IMI Research Report, International Migration Institute, University of Oxford 2007.

[28] Vgl. Cohen, Eleb, Casablanca, a.a.O.

[29] Abdelmajid Arrif, Le passage précaire: du bidonville au lotissement; anthropologie appliquée d'une mutation résidentielle; le cas de Hay Moulay Rachid à Casablanca, Aix-Marseille 1991, S. 219.

[30] Vgl. Fourcaut, 1950, a.a.O.

[31] Vgl. Frederick Cooper, Ann-Laura Stoler (Hg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley, London, Los Angeles 1997.

[32] Vgl. Okwui Enwezor, The Short Century: Independence and Liberation Movements in Africa, 1945-1994, München, London, New York 2001.