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06 2014

Die Übersetzer_in als Mikroprozessor_in

An Anonymous Iranian Collective

Übersetzt von Birgit Mennel

1. Faktum

Affektive Kooperation

Der Film A, B, C … Manhattan (Amir Naderi, 1997) erzählt die Geschichte des gemeinsamen Lebens von drei jungen Frauen, die mit verschiedenen affektiven Situationen zu kämpfen haben. Als normale Frauen versuchen sie durch Kooperation zu verstehen, was sich zwischen ihnen und in ihrem Milieu abspielt: etwas Unwahrnehmbares, ein Element, das die Affekte und die Freundschaft zwischen ihnen verstärkt und aus der Tiefe der psycho-sozialen Zusammensetzungen und Zersetzungen heraus eine Fluchtlinie freisetzt, die später in einem authentischen Band mit der anti-kapitalistischen Kraft von Manhattan by Numbers (Naderi, 1993) in Occupy Wall Street (OWS) sichtbar wird. Als Immigrant spürt Naderi die Unterdrückung in den vielschichtigsten Momenten der Gesellschaft ebenso wie in ihren alltäglichen Beziehungen; und gleichzeitig gibt er den unterdrückten US-amerikanischen Bevölkerungsschichten eine Stimme, die fünfzehn Jahre später in OWS und seinem kooperativ-affektiven Klima vernehmbar werden wird – ein Klima, das man mit Kleist als Klima des Kriegs bezeichnen kann.[1] Mit diesen beiden Filmen über Manhattan lässt Naderi OWS tatsächlich vorausahnen, indem er auf ein durch und durch affektives Problem an den Rändern der Gesellschaft verweist, indem er die Affekte der wirklichen Produktivkräfte und die Art und Weise ihrer Entwicklung übersetzt. Kooperation ist auch für Marx die Basis von Klasse und Klassenkampf. Die Vorstellung von Kooperation entsteht ihm zufolge durch das physische Zusammentreffen der Arbeiter_innen um Maschinen herum, was indes bedeutet, dass zwischen den Beteiligten, zwischen den Gemeinen bzw. den gewöhnlichen Frauen und Männern neue politische Affekte entstehen. In diesem Sinn hat der Klassenkampf die Schaffung neuer politischer Affekte bzw. die Konstruktion von Gemeinsamkeiten zwischen singulären Kräften zur Voraussetzung (und nicht die Zirkulation von Information sowie das vermehrte Informieren durch die Reproduktion bereits bestehender Beziehungen). Es ist also der Bereich des Gemeinbegriffs, nach Spinoza die zweite Art von Wissen: die Schaffung eines konstruktivistischen Raums. So bewegten wir uns demnach von Marx zu Spinoza und über Deleuze von Spinoza zu Nietzsche: In unseren Ohren hallt eine entscheidende Frage nach, die der Unterscheidung zwischen Ethik und Moral, eine Frage der Begehrens- und Werteregime – eine Frage, die ihren Schatten auf die Anliegen wirft, die uns besonders am Herzen liegen, und uns dazu bringt, das Leben an sich, Kampf und Klasse, Organisierung, Denken und Freundschaft zu überdenken: Wie können wir unsere Kräfte so bündeln, dass sich unser Zusammenhang nicht in einen Zusammenschluss von Sklav_innen verwandelt, in einen homogenisierenden, hierarchischen und unterdrückenden Raum (Subjektgruppen), sondern dass daraus vielmehr ein gemeinsamer, singulärer, beweglicher und selbstkritischer Raum für und von freien Geistern (Gruppensubjekte) entsteht? Es war Klossowski, der uns den Weg bahnte: Das Singuläre steht nicht dem Universellen gegenüber, sondern dem Herdenhaften.[2] Das Singuläre und das Herdenhafte sind nicht nur theoretische Begriffe oder Worte in Büchern bzw. in den Köpfen der Wissenden. Sie verweisen vielmehr auf eine intensive, mit Fleisch und Blut empfundene Wirklichkeit: auf eine auf Affekt und Freundschaft basierende Kooperation, die einen gemeinsamen Raum schafft, weil sie für Prozesse der Singularisierung und der Produktion von Subjektivität ebenso offen bleibt wie für Selbstkritik, das heißt, für die Notwendigkeit, Verhältnisse anders zu gestalten und Situationen neu zu definieren.

Wir begannen daher – neben einigen anderen Aktivitäten – mit dem Übersetzen als kollektivem Erproben von Ideen, als Entwickeln von Affekten, als Intensivieren von Differenzen


Tödliche Einöde

Fünfunddreißig Jahre organisierte Repression und fast zweihundert Jahre historische Unterdrückung, Ausbeutung, Kapitalisierung, Zerstörung und politischer Betrug haben den Iran in eine gewaltige Einöde verwandelt, deren schreckenerregende Weite auch schwer vorzustellen sein mag. Die Einflussnahme auf das Denken der Marginalisierten und die Unterdrückung, die ihren Körpern widerfuhr, ist kaum zu beschreiben: Militarisierung der Räume, Einschüchterung, allgemeine Inhaftierungen, immer mehr Vorteile für Staatsaktivist_innen, weitverbreitete Privatisierung zugunsten staatlicher Kräfte, zunehmende Kontrolle über städtische und ländliche Gebiete in Entsprechung mit institutionalisierten religiösen Kriterien, Stärkung der Kernfamilie, klerikalen Institutionen überlassene Schulen, Einschränkung der Universitäten, weitverbreitete systemische Gewalt während der ersten beiden Jahrzehnte nach der Revolution 1979, gewaltvolles Niederhalten linker Kräfte (insbesondere der Guerillas), der Verlust jeglichen Raums der Kritik, organisierte Unterdrückung der Arbeiter_innenklasse sowie in den letzten Jahren zudem die Einfärbung des Nationalismus mit einem institutionalisierten Islamismus – wir sprechen von einem Eindringen trauriger Affekte und reaktiver Kräfte, nicht nur auf einer molaren, sondern auch auf einer molekularen Ebene. Wir beziehen uns nicht nur auf jene Probleme, die mit diesem seltsamen Leviathan zu tun haben, der sich aus Kapital, Religion, militärischer Macht und einer mit gouvernementalen Technologien und Techniken regierenden repräsentativen Demokratie zusammensetzt, sondern wir sprechen auch von den Mikrospannungen, die von den in diesem Territorium produzierten Subjektivitäten ausgehen. Denn schließlich bringt die Kunst der Gouvernementalität nicht nur ihre Subjekte und Objekte hervor, sondern auch die Welt, in der diese Subjekte und Objekte wohnen.[3] Die Kräftezusammensetzungen in dieser Einöde haben Verfahren entstehen lassen, aus denen kaputte, kranke, machtlose, kastrierte und kastrierende Subjektivitäten hervorgehen – Subjektivitäten, die die Stärkung der formalen und etablierten Verhältnisse tatsächlich begehren und jedes alternative Aufkeimen von unten, jedes Aufkeimen von Alternativen in den Gehirnen der Leute unterdrücken und zu ihren Führern, zum falschen System der Repräsentation aufblicken. Diese Subjektivität ist im Grunde faschistisch. Und unter Faschismus verstehen wir den „Faschismus, der in uns allen ist, der unsere Gesinnungen und unsere alltäglichen Verhaltensweisen heimsucht, der Faschismus, der uns die Macht lieben und genau das begehren lässt, was uns beherrscht und uns ausbeutet.“[4] Unsere Delirien sagen uns, dass der psycho-soziale Raum dieses Territoriums, besonders in den letzten Jahren nach den Geschehnissen im Jahr 2009 mit all dem damit verbundenen Scheitern und den entsprechenden Ängsten, strikt poliziert wurde: Nicht dass die Leute mit Knüppeln zuschlagen oder mit der Polizei kollaborieren; es wurden eine Reihe von Verfahren entwickelt, eine Reihe von Werten verteidigt sowie Verhältnisse produziert, die allesamt nur dazu dienen, die Regierung zu stärken, den aktuellen Stand der Dinge zu prolongieren und die Katastrophe zu reproduzieren.

In seinem Dialog mit Parnet weist Deleuze einen Weg aus dieser Einöde: „Es ist ein wenig wie Nietzsche so treffend sagt: Jemand schießt einen Pfeil ab, in den Raum, und das ist dann ein großer – oder auch eine Periode, eine Gemeinschaft schießt einen Pfeil ab, er fällt zu Boden, und jemand kommt, hebt ihn auf und schießt ihn anderswohin. So ist das mit allem Schöpferischen, mit der Literatur: Mitunter geht’s durch die Wüste.“[5] Interessanterweise übersetzte sogar Khayyam im 11. und 12. Jahrhundert einige durchdachte arabische und griechische Texte ins Persische, trotz all der Angriffe und Vorwürfe, denen er sich ausgesetzt sah: Es wurde ihm vorgeworfen, Atheist zu sein, von Tradition und Glaube abzufallen und Religion sowie Theologie zu schwächen. Auch 1979, im Jahr der Revolution, soll eine enorm große Zahl von Büchern und Pamphleten, zumeist Übersetzungen kritischer Texte, informell veröffentlicht worden sein. Mohammad Mokthari und Mohammad Ja’far Puyandeh, zwei radikale Forscher, Kritiker und Übersetzer soziologischer und marxistischer Texte wurden Ende 1998 brutal ermordet. Wir blicken also auf eine Geschichte von Kämpfen zurück, deren Donnergrollen uns noch immer stimuliert: Bücher ohne Übersetzer_innenangaben, Weißbücher aus der Revolutionszeit, Pamphlete, Affekte und Mahnmale. Doch vieles hat sich verändert, seit dieser Pfeil abgeschossen wurde.


Miteinander-Sein

Wie Blanchot glauben auch wir an Text als Welt[6] und an die Welt als freie und kollektive Werkstätte für Selbstbildung, Spiel, Gelächter und Erfahrung. Wir fragten uns: Wenn der Text die Welt, ein Labor für eine Forschung ohne telos[7] ist, bzw. wenn Text durch Kooperation neue politische Affekte hervorzubringen vermag, dann müssten wir nur unsere (Anti-)Pädagogiken organisieren, unsere kollektive Intelligenz mehren, Konzepte anwenden und sie für unseren Gebrauch schmieden. Wir lernten von Nietzsche: „Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine Schüler ernst, – sogar sich selbst.“[8] Und in diesem Sinne haben wir uns darum bemüht, den Akt der Organisierung als eine Beziehung zwischen Mannigfaltigkeiten verstehen zu lernen, eine Beziehung zwischen Singularitäten in einer neuen kleinen Zusammensetzung: Lehren macht nur Sinn im Verhältnis zu einer Mannigfaltigkeit von Studierenden, neben ihnen, an ihrer Seite, und nicht jenseits von ihnen als überlegener Punkt –  genauso wie der Puppenspieler (Tänzer) in Kleists Marionettentheater nur im Verhältnis zu den Puppen, neben ihren Beziehungen und ihren eigenen Mannigfaltigkeiten Sinn macht.[9] Wir wollten nicht nur Texte ins Persische übersetzen (Übersetzen als aktuelle Leistung), sondern diese Texte auch im Prozess unseres Miteinander-Seins anwenden, um die Affekte selbst in einer neuen, auf Kooperation basierenden Organisierung zu übersetzen (Übersetzen als virtuelle Leistung); das heißt, der Prozess der Übersetzung sollte uns dazu dienen, das konkrete Leben zu rekonstruieren, die singuläre und lokale Situation zu überdenken und gleichzeitig die Affekte zu übersetzen: eine affektive Übersetzung. Wir können hier zwei Beispiele anführen: Erstens die Verwendung dieser Texte bei der Produktion von experimentellem Online-Radio: eine Neuzusammensetzung heterogener Textfragmente in einer Soundassemblage, um die Texte zuzuspitzen und ein pragmatisches Verständnis von Theorie zu präsentieren. Zweitens die Verwendung der Texte bei der Produktion von Gedankenbildern: ein Experimentieren mit Konzepten, Bildern, Intensitäten, Ereignissen, Stimmungen sowie der Ausdruck einer Praxis der Theorie, die aus der Produktion von einigen kurzen experimentellen Low-Budget-Filmen hervorging. Und schließlich noch das Ausfalten des Textes in die Welt: von der Subjektivität ins Denken und ins Leben.

Die Pharmakologie des Sozius zeigte uns, dass unser soziales Milieu tatsächlich durch und durch in Verfahren eingebettet ist, die sich nur auf die reaktionärste Verinnerlichung hin öffnen können und die Anderen mit ihren durch und durch differenzierenden Wesen ausschließen, um so eine falsche Identität oder einen faschistischen Solipsismus herzustellen. Wir mussten also selektiv sein im Hinblick auf die Texte (Affekte) und für unsere Aktivitäten ein Kontinuum erzeugen: eine sanfte Bewegung des Dahintreibens in jenem spinozistisch-nietzscheanischen Strom, der unsere Leben aufhellte, unsere Affekte und Erfahrungen belebte und uns einander näher brachte; der uns das Problem des Gemeinschaftlichen aufwerfen und die Notwendigkeit des Rufs nach dem Anderen darstellen ließ. Wir untersuchten die Konzepte von Liebe und Freundschaft, indem wir sie aktiv in einen kritischen Gesellschaftskörper einbrachten. Wir widmeten uns der Möglichkeit einer Soziabilität sowie der Konstruktion einer gemeinsamen Ebene bzw. eines gemeinsamen Plans. Und schließlich war da noch die zunehmende (Un-)Möglichkeit des Denkens – denn die Philosoph_in ist in erster Linie eine Freund_in oder eine Liebhaber_in: nur eine Freund_in/Liebhaber_in schreibt, nur eine Freund_in/Liebhaber_in denkt, nur philia-sophia erlaubt es dem Denken, sich in sich selbst und unter Freund_innen aufzuteilen.[10] Philosophoi, jene affektiven Revolutionär_innen. In diesem Sinne kann sich das Denken nur in der Konstruktion eines gemeinsamen und autonomen Raumes ereignen, nur so entsteht ein Raum des Kampfes. Deshalb sind für uns auch die post-nietzscheanischen französischen Philosoph_innen (Bataille, Blanchot, Klossowski), die sich dem Problem des Gemeinschaftlichen in all seinen Facetten gewidmet haben, besonders wichtig und fähig auf die intellektuelle Sphäre im Iran Einfluss zu nehmen. Dort erscheint eine neue Funktion des Konzepts der Kooperation: Es geht nicht nur um die Kooperation eines aktuellen Körpers mit einem anderen aktuellen Körper, sondern auch um eine virtuelle Kooperation im Denken selbst. Es geht also um ein Übersetzen als Prozess der Singularisierung, der Individuierung und der Dramatisierung, da dieser daran beteiligt sein kann, neue politische Affekte zwischen Singularitäten zu schaffen, zwischen ihnen und ohne sie Kooperation herzustellen, kollektive Lebens- und Kampfräume zu produzieren und mannigfaltige Prozesse in Gang zu setzen, die in der Lage sind, das Leben zu emanzipieren: Wir sprechen von der Entwicklung des Übersetzens, von der Übersetzer_in als Mikroprozessor_in.


2. Datum

Der Kontext: Eine kurze Geschichte der Schaffung des Chaoiden

Ungefähr drei Millionen Menschen auf den Straßen.“ So lautete die Schlagzeile vieler Nachrichtenagenturen in der Nacht von Montag, dem 15. Juni 2009; aber es war nicht nur eine Nachricht, sondern ein Ereignis, das ein Vorher und Nachher in unseren Leben markierte. Eine gefälschte Wahl ließ Millionen für die Politik auf die Straßen gehen und wieder einmal wurden wir Zeug_innen davon, wie die traditionellen Diskurse der Linken zumindest herausgefordert und ihre diskursiven Grenzen zwischen Binaritäten wie z.B. reformistische vs. revolutionäre Praxis zu verschwimmen begannen. Wir traten in ein Chaos ein, in dem die semiotischen Ströme der Gesellschaft plötzlich vor der Absurdität jener Kluft standen, an der sie vormals fixiert waren – eine Kluft, die sich mit dem Verschwinden des Signifikanten eines wählbaren Staates auftat. Mit ihrer Entwurzelung aus dem Territorium der repräsentativen Ordnung begannen die semiotischen Ketten in alle Richtungen zu fließen, und es begann sich ein Feuerwerk sozialer Experimente abzuzeichnen. Wir begegneten einander inmitten dieses Prozesses von Experimenten. Über diverse Verbindungen zwischen hin und hergeworfenen Individuen entwickelte sich in unseren kollektiven Leben eine maschinische Assemblage chaoiden Funktionierens. Doch wenn ein Chaoid eine maschinische Assemblage ist, die das Chaos schneiden und eine architektonische Zusammensetzung schaffen kann, wenn es in der Lage ist, „das Chaos provisorisch zu organisieren“[11], was war dann eigentlich das Chaos?

Das Chaos ist ein „Grad an Komplexität jenseits des menschlichen Auffassungsvermögens.“[12] Nicht nur, dass sich der transzendente Signifikant einer rechtmäßigen repräsentativen Ordnung aufgelöst hatte, das Chaos, von dem wir hier sprechen, war auch Ergebnis der konsequenten Einführung des Neuen im Kontext der iranischen Politik nach der Revolution 1979: eine massive Verweigerung von Regierungsvorgaben an den Rändern und im Untergrund sowie ein Versuch, die nicht gehörten Stimmen der Nicht-Repräsentierten vernehmbar zu machen. Das Chaos, das auf das Neue folgte, war eine schöpferische Deterritorialisierung, die Performanz einer temporären kollektiven Subjektivität. Es war ein Grad an Komplexität, der sich jenseits der bereits etablierten kollektiven Intelligenz der iranischen Gesellschaft verortete und der nur als Hinweis darauf verstanden werden konnte, dass eine neue Massenintellektualität im Entstehen begriffen war. Unsere Gruppe war Teil dieses Chaos, entschloss sich jedoch dazu, sich selbst zu organisieren und ein Chaoid zu schaffen, um das Chaos zu durchqueren, um mit dem Streifen zu beginnen und mit alternativen Verhältnissen zu experimentieren. Dies versorgte uns mit einer Reihe von neuen Formen der Militanz. Unser wichtigstes Betätigungsfeld war die Militanz der Wissensproduktion. Wir übersetzten Essays und Artikel einer bestimmten Denktradition, wie etwa Arbeiten von Bataille, Blanchot, Artaud, Ginsberg, Kerouac, Burroughs sowie Essays von Foucault, Deleuze, Guattari, Negri, Hardt und anderen. Wir schrieben Artikel über Politik, Ökonomie, Kunst und Kino und entwickelten eine Perspektive, die wir diesem Spektrum von Autor_innen entlehnten oder uns neu aneigneten. Nach kurzer Zeit begannen wir mit anderen Aktivist_innen in einem Projekt zu alternativer Wissensproduktion zusammenzuarbeiten. Es nannte sich Parallel Academia und deckte jene Diskurse ab, die von der iranischen Akademie absichtlich ignoriert bzw. in ein „unterworfenes Wissen“ verwandelt worden waren, das den reproduktiven Zielen des Staatsapparats diente. Gleichzeitig  experimentierten wir – inspiriert von Radio Alice und anderen freien Radios in den 1960er und 1970er Jahren einerseits, Allen S. Weiss‘ theoretischen Schriften zu Radio- und Schizophonie, Christof Migones und Gregory Whiteheads experimentellem Radio andererseits – mit der Form Radio als einem neuem Instrument der Vermittlung.

Nachdem die molare Repression zunahm, waren wir jedoch gezwungen, unsere Aktivitäten einzustellen. Wir entwickelten eine Art Online-Wissensproduktion in Form eines Publikationsprojekts. Diese Projekte waren so konzipiert, dass sie aktiv in bestehende Diskurse intervenierten, entweder um durch einen Angriff unterworfenes Wissen zu befreien oder um einen alternativen Diskurs als Mittel der Konzeptualisierung und für einen Umgang mit den Problematiken einzuführen.


Experimente mit Formen der Organisierung

Als Gruppe standen uns bestimmte Formen der Organisierung zur Verfügung. Die meisten Gruppen engagierten sich in den wiederbelebten Aktivitäten der Linken aus den 2000er Jahren, selbst unter studentischen Aktivist_innen waren Partei- bzw. Identitätspolitiken mit den hierarchischen Organisationsformen, die mit dieser Art von Politik einhergehen, en vogue. Viele Aktivist_innen glaubten nach wie vor an eine Art avantgardistisches Schema, demzufolge Intellektuelle das Proletariat in den revolutionären Kämpfen anführen und bilden sollten. Die Revolution wurde selbstverständlich als spektakuläres, durch den letzten Augenblick bestimmtes Ereignis imaginiert, als eine molare Revolution mit dem Ziel, die Macht zu übernehmen und die Interessen der Massen durchzusetzen. Es gab auch einige marginale bzw. selbst-marginalisierte linke Gruppen, die mit gegenwärtiger politischer Theorie und den entsprechenden Kampfformen vertraut waren. Doch diese erklärten ihr Lieblingsnarrativ vom Mai 68 und seine gegenkulturellen Aktivitäten zum Fetisch einer sehr geschlossenen Form der Organisierung und verwandelten sich nach und nach in Sekten bzw. Kulte. Sie hatten Websites und Magazine und veröffentlichten ihre Übersetzungen und Artikel frei und jenseits des Publikationsmarkts, litten jedoch unter der selbst produzierten Schließung.

Wir als Gruppe waren gegenüber diesen Organisationsformen in gewisser Weise kritisch. Im ersten Fall der traditionellen linken Tendenzen konnten wir in ihren Aktivitäten Sexismus, Ageismus sowie eine hierarchische Bürokratie erkennen. Ihre Unfähigkeit, neue Formen zu schaffen, war der Hauptgrund für das Scheitern ihrer auf Gleichheit abzielenden Projekte. Diese Krankheit konnte, so glaubten wir, dadurch geheilt werden, dass man sich einerseits der Illusion eines Avantgardismus entledigte und sich andererseits in zeitintensiven und schwierigen Formen transversaler Organisierung engagierte und neue Formen von Kampf, Kollektivität und alternativen Formen der Wissensproduktion zu schaffen und zu erfinden versuchte. Im Fall der marginalen Sekten betonten wir im Gegenzug die Offenheit einer netzwerkbasierten Organisierung; anstatt nur „die Distributionsökonomie des Produkts“ zu berücksichtigen (in diesem Fall unserer Texte, Übersetzungen und Kunstwerke), konzentrierten wir uns auf „die innere Ökonomie unserer Gruppe“: Wie nicht hierarchisch sein; wie nicht die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse innerhalb unserer Gruppe reproduzieren und wie dafür sorgen, dass ungleiche Machtverhältnisse nicht durch Unterschiede in Erfahrung, Alter, Wissen, Geschlecht etc. Gestalt annehmen?


Diskursive Interventionen

In unseren Experimenten mit Formen der Organisierung verspürten wir die Notwendigkeit einer diskursiven Praxis, die über das Schreiben Instrumente für eine neue linke Konzeptualisierung der Situation zu beschaffen vermag. Übersetzung als eine Praxis wurde zu einer Perspektive, was vielleicht eine unmittelbare Reaktion auf die früheren situativen Notwendigkeiten darstellte. Die Welle von Übersetzungen radikal linker Theorie, die schon mit der reformistischen Regierung (1997–2005) ihren Anfang genommen hatte, war hauptsächlich epistemologisch motiviert. Nach Jahren der Übersetzung begannen die in dieser Tradition übersetzten Texte, ein selbstgenügsames Bedeutungsnetz ohne jede äußere Referenz in der konkreten Realität zu produzieren. Übersetzung als Praxis wurde damit zu einer Quelle für die Ausbildung der eigenen Identität. Und die Texte, die so gut wie nie in Situationen angewendet wurden, gingen in eine Kette von Signifikanten ein, die sich endlos aufeinander bezogen und ineinander verschoben. Dies war jedoch nur eine Seite der Geschichte. Als 2009 die Proteste losgingen, stellten viele dieser Diskurse ihre (Ohn-)Macht oder manchmal ihre Irrelevanz unter Beweis. Während wir uns fragten, welche Art von eine Identitätspolitik begünstigenden Machtverhältnissen unter ihnen wirksam war – Hierarchisierung oder marktbasierte (Bestseller-)Übersetzungen –, stießen wir auf ein neues Problem: dass es nämlich keine diskursive Intervention im sozialen Feld geben kann, wenn die Texte in unseren eigenen Leben nicht verwendet oder situiert werden. Wir sahen jedoch keinen Mangel an brauchbaren übersetzten Texten. Es gab mehr oder weniger viele radikale Texte, aber sie wurden nicht verwendet, niemals angewandt, niemals situiert. Nach 2009 war unser Antrieb nicht mehr rein epistemologisch; wir suchten nach einer Perspektive, die auf einer Pragmatik der Übersetzung basierte. Unsere wichtigsten Fragen waren nicht mehr die, was diese oder jene Philosoph_in genau sagte, was dieser oder jener Text tatsächlich bedeutete oder worauf sich dieses oder jenes Konzept genau bezog. Diese Fragen waren, so sie überhaupt wichtig waren, von sekundärer Bedeutung, wenn es darum ging, die Beschränkungen eines Diskurses zu bestimmen. In erster Linie war wichtig, was diese Texte tun, was sie können, was ihre Funktion ist.

Roland Barthes erklärt in seinen Vorlesungen Wie zusammen leben? seine Phantasien des Zusammenlebens. Dieses Zusammenleben besteht aus (weder individuellen noch kollektiven) Singularitäten, die zusammen da sind, aber zugleich ein ganz eigenes autonomes Wesen haben, das er Idiorrhythmie nennt: „Muster eines flüssigen Elements […], improvisierte, wandelbare Form. In der Atomlehre die eigentümliche Bewegungsform der Atome; Konfiguration ohne Festigkeit oder Naturnotwendigkeit: ein ‚Fließen‘ […] kurz, das Gegenteil eines starren, unerbittlich-gleichförmigen Takts.“[13] Unsere Perspektive im Übersetzen war um eine ähnliche Phantasie herum entworfen: Wir haben diese Idiorrhythmie im Politischen gesucht – so konzeptualisieren wir die Idee –, und zwar durch die Texte, die wir unter diesem Namen produzierten.

Man kann schnell sehen, dass externe Faktoren für unsere Aktivitäten von großer Bedeutung waren. Einerseits war das allgegenwärtige System der Zensur, insbesondere im Feld der Veröffentlichung, auf beispiellose Weise intensiviert worden. Andererseits wurde die profitbasierte Entscheidungsfindung unter Verleger_innen ebenso untolerierbar wie die Schwierigkeiten im Zugang zur symbolischen Ordnung jener Intellektuellen, die regelmäßig Bücher publizieren, das heißt, die sozial-moralisch-ökonomischen Verhältnisse, denen wir uns selbst unterordnen mussten, um unsere Bücher regelmäßig zu publizieren. Wir verweigerten also diese Unterdrückungsverhältnisse und begannen, einige unserer Bücher online und über Sharing-Websites zu veröffentlichen. Schließlich wurde uns klar, dass das größte Problem, trotz all der Einschüchterung, Zensur, Repression und Polizierung von außen, im Innen zu suchen war: Wie kann eine Subjektgruppe, die ihre inneren affektiven Verhältnisse beständig revidiert und neu versorgt, rekonstituiert und neu bestimmt, ihre maximale Beweglichkeit und Kreativität erreichen, wo doch diese Verhältnisse ihrerseits nur in konkreter Beziehung zum Außen Sinn machen?


Laufend stellen wir Fragen[14]

Es bleibt offen, wie es mit diesem Prozess weiter geht – auch wenn die konkrete Kollektivität durch die Distanz zwischen den Körpern zerstreut ist (einige von uns haben vor etwa zwei Jahren den Iran verlassen, während andere bleiben mussten). Aber es bleibt, dass wir laufend Fragen stellen. Und wir durchmessen die Geographie unserer Intensitäten. Wir schauen nicht zurück, wir bereuen nicht und wir wollen keine Vergangenheit herstellen, die wir dann betrachten können. Im Gegenteil, wir schlendern selektiv dahin, unser Gehen ist parrhesiastisch. Wir haben unsere „Selbstkritik“ niemals in eine Institution verwandelt und werden das auch nie tun. Wir wissen, dass dieser Begriff in seiner Geschichte als Mittel der Säuberung in Verruf gekommen ist.

Parrhesia, das Wahrsprechen, kennt zwei Richtungen zugleich: Einerseits richtet sie sich nach außen, um die konstituierte Macht in all ihren Formen in Frage zu stellen – auf einer molekularen und auf einer molaren Ebene. Andererseits geht sie nach innen, sie wird zur doppelten Bejahung des Lebens und ist darum selektiv in einem nietzscheanischen Sinn, um die Organisierung von den molekularen Machtkristallisationen zu befreien und mit den konkreten reaktiven Kräften Schluss zu machen. Doch Foucault besteht darauf, dass die Parrhesia ein gefährliches Unterfangen ist. Wir fühlten diese Gefahr aufgrund des fortwährenden Schattens, der von der Verfolgung durch eine hochgradig disziplinäre Macht sowie von der Prekarität unseres eigenen Kollektivs ausging. Die Gefahr, unsere Maschinisierung mit der Realität, unser Freund_innenkollektiv zu verlieren, ist ernst zu nehmen. Dennoch haben wir uns mit jedem Schritt und jedem Projekt selbst stets herausgefordert. Und es gab Missverhältnisse, manchmal allzu radikale Differenzen, manchmal Missverständnisse und personalisierte Polemiken, die nicht tolerierbar waren. Es gab folglich auch Momente der Implosion und des Verlusts von Kollektivität: Scheitern selbstverständlich, Bereuen niemals.

So konnte man zum Beispiel bei der Organisierung in den verschiedenen Projekten die Ablagerungen einer ungesunden Kultur erkennen: die Hierarchien, die sich um Wissen oder Erfahrungen herausgebildet haben, die Schwierigkeiten die Restbestände von Ageismus oder Geschlechterungleichheiten anzugehen, die Personalisierung ethischer oder politischer Belange usw. Obwohl wir uns dessen bewusst waren, dass wir unsere Projekte für eine Intervention auf den unterschiedlichen Ebenen der Wissensproduktion mit Vorsicht auswählen mussten, gab es Momente, in denen uns dies unmöglich war. Auch wenn das Nicht-Einlassen auf einen Prozess bedeutet, nichts über seine Wirkungen zu lernen, hatten wir Ideen, wie wir diesem Problem aus dem Weg gehen konnten. Um den Bezug zur konkreten Situation nicht zu verlieren, schufen wir Projekte, die zwischen Übersetzungsprojekten und den besonderen Situationen vermittelten. Ob wir uns ausreichend dafür eingesetzt haben, ist eine Frage, die uns noch begleiten wird.

Die Tatsache, dass wir sehr darauf bedacht waren, keinen Identitätspolitiken auf den Leim zu gehen, sollte uns nicht davon abgehalten haben, uns unserer Situation umso bewusster zu sein. Während wir behaupteten, dass es kein Innen gibt, das das „Und“ am Funktionieren hält, stießen uns die äußeren passiven/reaktiven Kräfte, die verführerische Kraft der Identitätspolitik an den Rändern unaufhörlich auf uns selbst zurück.

Diese Probleme aus dem Innen brachten uns denn auch die Bedeutung eines doppelten Exodus bei. Blanchot hält in seinen Schriften über den biblischen Exodus der Ägypter_innen fest, dass der Exodus „aus den Sklaven Ägyptens ein Volk“ macht.[15] Es reicht nicht, den Staatsapparat zu verlassen, aus den etablierten gesellschaftlichen Verhältnissen zu fliehen und das vorab abgesteckte Territorium deiner Arbeit zu deterritorialisieren. Vielmehr muss ein alternatives Verhältnis institutiert werden. Vielleicht teilen wir eine Frage mit Gin Müller, wenn er fragt: „[W]ie wird man/frau […] ein ‚transversaler Bastard‘?“[16]

 

 

 

[1] Ronald Bogue, Deleuze on Literature, New York u. London: Routledge 2003, S. 120–121.

[2] Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulos vitiosus deus, übers. v. Ronald Vouillé, München: Matthes & Seitz 1986, S. 124–127.

[3] Vgl. Maurizio Lazzarato, „From Capital-Labour to Capital-Life“, übers. v. Valerie Fournier, Akseli Virtanen u. Jussi Vähämäki in: Ephemera, Jg. 4, Nr. 3, 2008, S. 187–208.

[4] Michel Foucault, „Vorwort“, übers. v. Hans-Dieter Gondek, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III, 1976–1979, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 178.

[5] Gilles Deleuze mit Claire Parnet, Abécédaire – Gilles Deleuze von A bis Z, untertitelt v. Valeska Bertoncini, Regie: Pierre-André Boutang, ABSOLUT Medien u. Zweitausendeins Versand 2009, C wie Kultur.

[6] Maurice Blanchot, „Nietzsche und die fragmentarische Schrift“, übers. v. Werner Hamacher, in: Werner Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin u. Wien: Philo 2003, S. 95.

[7] Für einen detaillierten Kommentar zu einer Forschung ohne telos vgl. Colectivo Situaciones, Über den forschenden Militanten, übers. v. Uli Nicke u. Sebastian Touza, http://eipcp.net/transversal/0406/colectivosituaciones/de.

[8] Friedrich Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Genealogie der Zukunft“, in: Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 5, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin u. New York: de Gruyter 1999, S. 85.

[9] Gilles Deleuze, „Zwei Systeme von Verrückten“, in: ders., Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 12 f.

[10] Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Was ist Philosophie?, übers. v. Bernhard Schwibs u. Joseph Vogl, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 79.

[11] Franco Berardi (Bifo), Félix Guattari, Thought, Friendship and Visionary Cartography, übers. u. hrsg. v. Giuseppina Mecchia u. Charles J. Stivale, Basingstoke: Palgrave Macmillian 2008, S. 11.

[12] Franco Berardi (Bifo), The Soul at Work: From Alienation to Autonomy, übers. v. Francesca Cadel u. Giuseppina Mecchia, Los Angeles: Semiotext(e) 2009, S. 212.

[13] Roland Barthes, Wie zusammen leben? Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 44–45.

[14] Dies ist ein zapatistischer Slogan. Er wird unter anderem hier zitiert: Notes from Nowhere (Hg.), Wir sind überall. weltweit. unwiderstehlich. antikapitalistisch., übers. v. Sonja Hartwig, Dietlind Falk u. Eva-Maria Bach, Hamburg: Edition Nautilus, 2007, S. 515.

[15] Maurice Blanchot, „Jude Sein“ in: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, übers. v. Hans-Joachim Metzger u. Bernd Wilczek, München: Hanser Verlag 2007, S. 184

[16] Gini Müller, „Transversal oder Terror? Bewegte Bilder der VolxTheaterKarawane“, in: transversal 10/2002: hybrid?resistance, http://eipcp.net/transversal/0902/mueller/de.