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01 2013

Plaudereien aus Frankreich

Marc Hatzfeld

Übersetzt von Birgit Mennel

Die Sprachfrage, die sich anmutig zwischen der Freude am Sinn und den Sinnesfreuden entfalten konnte, wird heute mehr denn je von der Politik in Beschlag genommen und gekapert. Man kann die Sache von den Voraussetzungen des Nationalstaats ihren Ausgang nehmen lassen, von diesem symbolischen und zu seiner Zeit radikalen Objekt, das die Rolle hatte, die Schwäche der einstmals zerstreuten politischen Macht zu überwinden. Viele Jahrhunderte lang, vom Mittelalter bis zum Ancien Régime, zielt diese politische Eroberungslogik darauf, eine Nation, eine Sprache und einer Religion miteinander zu verbinden. Hinsichtlich des Verhältnisses von Nation und Religion, trifft dies eher östlich des Rheins zu, während die Sprache westlich des Rheins seit dem Edikt von Villers-Cotterêts  als ein mit Zwangscharakter versehenes politisches Einigungsinstrument der Einigung funktioniert . Das zeitweilige Alternieren zwischen einer hinsichtlich der Sitten freizügigen und variationsreichen imperialen Form und einer homogenen, stabilen nationalen Form führt zu einem Hin und Her im Verhältnis von Sprache und politischer Macht. Die Aufhebung des Edikts von Nantes schwächt in Frankreich den Zusammenhalt von Nation und religiösem System, wodurch die Sprache als nationalem Marker noch mehr Raum bekommt –  eine Sprache, die als öffentliches Gut bald darauf den Schutz einer staatlichen Institution erfahren wird. Aus dem Gewebe dieser Homothetie entsteht im 18. Jahrhundert der Begriff eines beständigen und als Subjekt fungierenden „Volks“. Diese Idee ist eine umsichtige Erfindung der Philosophen der Aufklärung, die darin die Gelegenheit sehen, den Souverän – königlicher Inhaber der einzigen Macht – im Namen einer anderen mythischen Singularität zu verwandeln, die nur das Territorium auf institutioneller Ebene organisieren sollte. Seither drängt sich die Idee, dass ein „Volk“, eine Nation und eine Sprache gemeinsam dieselbe kollektiven Geschichte bilden, mit dem Impetus eines Projekts auf.

Daraus resultiert jene seltsame Erscheinung der Sprache selbst als Konzept. Jede Nation entwirft sich, definiert sich manchmal und organisiert sich zweifellos durch eine Fiktion, die von weit oben in eine unendlich viel weichere und beweglichere kulturelle Realität hineinragt; die sich selbst aber in jedem Fall durch ihre Sprache bestätigt. Während man sich in ganz Europa ebenso vieler Weisen zu sprechen erfreut, wie es Dörfer und Berufe gibt, schaffen die administrativen und symbolischen Forderungen das Trugbild einer Sprache, die sich Geistliche und Literat_innen aneignen werden. Sie sind es denn auch, die im Windschatten der Politik dazu beitragen, die Vielfalt der Weisen des Sagens und des Verstehens zum Verschwinden bringen. Einige Gelehrte, die – ohne sich dessen bewusst zu sein – in diese immens politische Falle getappt sind, gehen den Weg zu Ende, indem sie zunächst im Ausgang von Saussure, insbesondere aber von Jakobson einen stark an der Mathematik inspirierten Wissenschaftskorpus erarbeiten. Dieser fußt auf einer vollkommen plastischen, beweglichen und elastischen Realität, um daraus paradoxerweise das kompakte und strukturierte Konzept „der Sprache“ zu entwickeln (Jacques Lacan); eine Sprache, die seitdem in jenem System eingeschlossen ist, das die Linguistik werden wird.

Das ist die intellektuelle Landschaft, in die in einem Land wie Frankreich seit den zwanziger Jahren und in schnellerem Rhythmus seit den sechziger Jahren Leute von immer weiter weg kommen; Leute, die ihre jeweils eigenen Weisen des Tuns, des Sehens, des Denkens und des Sprechens mit sich bringen und offensichtlich mit der monolithischen Konzeption von Sprache brechen. Der Schock ist derart groß, dass Weisungen erlassen werden, ausschließlich diese eine Sprache zu sprechen. Fortan wird die Sprache unter Androhung von Strafe als einzigartig und obligatorisch anerkannt. JederAbweichung von der offiziellen Verwendung wird als Verstoß im moralischen Sinn verstanden, als eine Übertretung jenes Gesetzes, welches das „Volk“, die Nation und das Geschick überraschend starr zusammenhält. So verhält es sich weitestgehend auch heute noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Banlieue-Cités beherbergen kulturelle und linguistische Importe von schillernder Diversität; und in einem politischen Kontext, in dem der Nationalstaat angesichts der Ausbreitung neuer politischer Organisationsformen, die sich neben den imperialen Logiken herausbilden, an Terrain verliert, stellt sich die Sprachfrage heimlich neu. Es geht nicht um eine Konfrontation zwischen dem offiziellen Französisch und anderen Sprachen; es geht darum, dass der Begriff der Sprache grundlegend infrage gestellt wird und dass nach und nach sogar andere Sprachpraxen erfunden werden.

Die erste Form, in der die sprachliche Diversität wiederauflebt, steht in Zusammenhang mit diesem ununterbrochenen Fluss, der aus einem Außerhalb kommt, wo die Sprache ihre pulsierende Plastizität bewahrt hat. In Afrika südlich der Sahara pflegt beispielsweise jede kulturelle Gruppe, also das, was man mangels Alternative Ethnie nennt, das heißt, eigentlich jeder Klan seine eigene Sprache zu sprechen – oft eine Weise, diese Distinktionsspiele zu benennen. Und im Gegensatz dazu, was man sich bei uns darunter vorstellt, überschreiten Heiraten mir nichts dir nichts Zugehörigkeitsverhältnisse, die Leute sind äußerst gesellig. In Afrika ist es häufig der Fall, dass Vater und Mutter verschiedene Sprache sprechen; dass eine Adoptivmutter oder ein leiblicher Bruder verschiedene Sprachen sprechen, während eine bestimmte Verkehrssprache in diesem Dorf oder auf jenem Weg unabdingbar ist. Es ist also üblich, dass fünfjährige Kinder im Laufe eines Tages je nach Gesprächspartner_in fünf oder sechs Dialekte sprechen, wie man etwa in Alexandria vor dem Krieg mit der Lebensmittelhändler_in Griechisch, mit der Schneider_in Armenisch, mit der Beamt_in Englisch, unter Juden und Jüdinnen Französisch, mit der Reeder_in Italienisch und mit dem Fellachen  ganz selbstverständlich Arabisch sprach.

Dieses mannigfaltige Verständnis von Sprache breitet sich in den Cités der Banlieue seit einigen Jahren mit neuem Elan aus. Es gibt immer noch einige wenige engstirnige Grundschullehrer_innen und diensteifrige Sozialarbeiter_innen, die die Eltern mit einem durch billige Psychologie inspirierten Ernst dazu bringen wollen, mit ihren Kindern „zuhause Französisch zu sprechen“. Doch immer mehr Eltern aus dem Afrika südlich der Sahara sowie aus Nordafrika haben ein Selbstbewusstsein erlangt, das es ihnen ermöglicht, sich über diese moralinsaure sprachliche Beschränktheit lustig zu machen und dabei beiläufig jene ach-so-linken Europäer_innen mit dem Argument zu verspotten, sie mögen doch etwas anderes sprechen als die offizielle Sprache von Mama-Papa. So wie sie den boubou mit Panasch tragen und die Gewohnheit verteidigen, ihre Kinder auf dem Rücken zu tragen, so sprechen sie mit ihren Kindern Bambara oder Soninke. Im Übrigen verändern sich auch der offizielle Diskurs und die Berufssprache. Bedienstete der Sektoren Gesundheit, Erziehung oder des sozialen Lebens fördern gelassen die Ausbreitung exotischer Sprechweisen. Diese Legitimierung der Durchdringung von sprachlicher Vielfalt betrifft die von den Karibischen Inseln kommenden Personen ebenso wie jene aus dem Maghreb, aus Polen und selbstverständlich alle Arten von Chines_innen, für die es außer Frage steht, zuhause Französisch zu sprechen. Die Wiederbelebung des Kabylischen in Algerien erfährt in einigen Cités unerwartet Rückhalt. Bleibt auch die Schule der Ort einer sprachlichen Quasi-Exklusivität, so gilt das nicht mehr für die Straße, die Kaufhäuser und die Bistros. Und was die Familie angeht, so beherbergt diese oftmals eine echte Diversität: Sie ist der Ort, an dem sich die intergenerationellen Beziehungen in Verkehrssprachen ausdrücken, während die Geschwister zumindest zuhause mehr und mehr dazu neigen, miteinander Sprache des bled zu sprechen, das heißt, die durch Reisen, Diskurse und wiedererstarkten Stolz aufgewertete Herkunftssprache.

In dieser Lücke macht sich keine neue Sprache der Banlieues breit, sondern ein von der Sprache bereinigtes Verhältnis, das Keime von Radikalität in sich birgt. Beginnen wir mit dem Vokabular: Das Vokabular der jungen Leute – wie übrigens auch das der jungen Frauen – bringt all jene Lehrer_innen zur Verzweiflung, die sich im Konferenzzimmer eines Collège in der Banlieue auf ihren ehrenwerten Gewissheiten ausruhen. Dort werden mit oder ohne Mitgefühl die Armut und Vulgarität des Vokabulars der „Gören der Cité“ verspottet und es herrscht kein Mangel an pikanten Anekdoten über die Fehlinterpretationen und den Widersinn der Schüler_innen, ohne ihre unzähligen orthographischen „Fehler“ zu zählen, die einen zum Schenkelklopfer verleiten. Das ist alles zweifellos richtig: Armut und Vulgarität und noch Schlimmeres, wenn’s sein muss. Das Vokabular der Kinder der Cité, der Älteren und der entfernten Verwandten ist gespickt mit wiederholten lustvollen Formulierungen, in denen es ständig darum geht, „sich ficken zu lassen“, „jemandem am Arsch zu lecken “, „die Mutter zu ficken“, diese/n oder jene/n zum „Schwanz-Lecken“ aufzufordern sowie andere sehr präzise Ratschläge in Sachen Sexualität und Scheiße. Vorsicht ist jedoch dort geboten, wo sich hinter dem, was wohlanständige Erwachsene richtigerweise „Vulgarität“ nennen, der vulgus verbirgt, der verspottet wird; das heißt, das die einfachen Leute, deren Sprache sexuelle Anspielungen stets voller Wolllust in sich aufnahm, als eine Weise, dem Begehren freien Lauf zu lassen oder es zu bändigen, begierig damit zu spielen und über das Worts davon zu profitieren. Die Zensor_innen der Vulgarität tun herablassend so, als wüssten siw nicht, dass diese Sprechweise eine populäre Philosophie zum Ausdruck bringt, einen Blick auf die Menschheit, der die Welt auf seine Weise erzählt. Diesem Blick zufolge hat sich die Menschheit niemals wirklich ihrer Animalität entledigt und man zieht sie grausam zärtlich auf im Hinblick auf künftige Liebschaften, Begehren, Zusammentreffen und Vergnügungen. Die professoralen Spötteleien hinsichtlich der Vulgarität sind vielleicht auch der prüde Effekt einer sozialen Klasse, die es vorzieht, die unlösbare sexuelle Frage über die Notbehelfe Psychoanalyse oder Gefängnis anzugehen, anstatt ihr über die subtilen Spiele einer freien Rede zu begegnen. Noch ist offen, wer in dieser Streitsache Recht bekommt, aber man muss davon ausgehen, dass weniger Verachtung angebracht sein könnte.

Die orthographischen Fehler machen deutlich, dass wenn „die Orthographie ein Mandarin ist“ , wie ein Vorschlag der Situationisten 1968 lautete, dann weil die Sprache auch und vor allem gesprochen wird, weil sie notwendigerweise auf ungezügelte Weise gesprochen werden muss. Viele der Bewohner_innen der Cités sind dort, wo sie herkommen, Teil einer oralen Kultur. Das Wort hat Bindekraft. Man schenkt den Worten, die ausschwärmen, mehr Glauben als der inventarisierbaren Schrift; man liebt es zu sprechen. Und in diesem rein oralen Manöver, in der sich die Sprache von der Schwere des Geschriebenen befreit hat, entdeckt man – jenseits akademischer Maßgaben – künstlerische Spiele, wie sie seit den Blumenspielen, den großen Dichterwettbewerben Okzitaniens, unvorstellbar geworden sind.

In den Banlieues wird in Bezug auf die gesprochene Sprache lustvoll mit drei Typen von kunstfertigen Spielen gespielt: Das erste ist die Stichelei. Die Stichelei ist eine verknappte und geballte Ladung Humor, mit der eine Sprecher_in ihr unversehens in die Falle gegangenes Opfer beiläufig bombardiert. Früher sagte man „jemanden auf die Schippe nehmen“, in Südfrankreich sagt man eher „aufziehen“ – und das heißt in den Cités „sticheln“ [vanner]. Man verstrickt eine Gegner_in, der gegenüber man wohlgesinnt ist, in ein verbales Netz und schleudert ihr einen wohlplatzierten Pfeil entgegen. Die Stichelei schmerzt, aber sie macht vor allem auch lachen. In räumlicher oder zeitlicher Versetzung, überrascht die Stichelei. Das Opfer der Witzelei bleibt sprachlos zurück. Die Stichelei ist eine Neuauflage des Absurden in einer hyper-zivilisierten, regulierten und zugleich verwahrlosten Welt. Sie ist ein schräger Blick auf die Wirklichkeit. In bestimmten Gruppen von Jungs findet das Sticheln kein Ende. Wird es elegant gespielt, so ist es ein Spiel, das kaum Spuren hinterlässt. Oftmals kommt es – abseits der Jungs – auch bei den Ladys und Mädels auf, die bisweilen eine sehr spitze Zunge führen, bei den Arbeiter_innen während der Pausen sowie in den Pausenhöfen der collèges.
 
Das Wortgefecht ist lediglich eine fortwährende Stichelei oder genauer eine Stichelei, die auf eine Replik bzw. auf ihr Nachspiel trifft. Lassen sich mehrere Spieler_innen auf einen Austausch ein, so ist ein verbales Duell die Folge, auf dessen Ausgang die Zuseher_innen im Verlauf eines bissigen Schlagabtauschs, in dem mit Metaphern, Sinnverdrehungen, ungeahnte Bildern und Situationskomik um sich geworfen wird, warten. Es geht teils sehr oft darum, den anderen zu besiegen, aber das Wortgefecht bleibt niemals auf einen einzigen Kampf reduziert. Der erste Erfolg in einem Wortgefecht ist das Lachen der Zuhörer_innen, bei denen man Eindruck zu schinden versucht, sowie – über das Lachen hinaus – die Anerkennung für die labialen und intellektuellen Spitzenleistungen derer, die sich das Gefecht liefern. Vor allem aber beruht der Erfolg des Wortgefechts auf einem geteilten Blick auf die Absurdität der Welt, der zugleich unbarmherzig und scharf ist. Es ist die Welt ringsum, die von zwei oder mehreren Kämpfer_innen niedergemacht wird. Das Ziel sind in der Tat oftmals die anderen, unerreichbare Andere, die nichts, aber auch wirklich gar nichts davon verstehen, wer wir sind, nichts vom Leben, nichts von der Jugend, nichts davon, was wir auf der Erde machen. Dies sind die Anderen, diese lächerlichen „armen Irren“, über die man nach Maßgabe der ihnen zugefügten Erniedrigungen ablästert.

Der Slam ist die dritte Sprachfigur, die in den Banlieues behend gesprochen wird. Aus den schwarzen Ghettos der USA kommend, wird er in Sozialzentren unmittelbar und rasch aufgenommen; er lässt die Zunge schnalzen, wie man eine Tür zuschlägt. Der Slam ist nie nur die ein wenig elitäre Domestizierung früherer Sprachfiguren. Man erwartet von den Slammer_innen fröhliche Improvisationen, die jenen der Troubadouren im ausgehenden Mittelalter ähneln: Sie sollen vom Ufer abstoßen und sich auf dem Seil der Worte einem Hochseilakt ohne Netz hingeben. Ursprünglich basiert der Slam jedenfalls auf Improvisation sowie auf einem Wettbewerb zwischen Slammer_innen. Doch seine Herkunft ist nicht so wichtig. Der Slam ist die zum Spektakel gewordene metaphorische Lebendigkeit, die sich bereits in der Stichelei und im Wortgefecht erkennen lässt. Zwischen Theater und Poesie erweist sich der Slam als eine Gelegenheit, die Virtuos_innen des verbalen Bluffs auf die Bühne zu holen, die erst kürzlich aus den Tiefen der afrikanischen Savannen, von den Ufern des Mittelmeers oder dem kolumbianischen Wald eingetroffen sind.

Für uns ist die wichtigste Tugend des Slams zunächst jene, die Statue sprachlicher Vorherrschaft zu stürzen, welche das Geschriebene, das imperiale Geschriebene ist. Der Slam ist ganz auf Linie mit der Stichelei und dem Wortgefecht; er ist die legitime künstlerische Oralität auf einem Terrain, das die Literat_innen des Geschriebenen in weiter Distanz ausmacht: eine Akrobatik der gesprochenen Sprache, die sich auf der Höhe der schönen Künste weiß. Auf diese Weise knüpft er vielleicht an kulturelle Merkmale vor der Schrift an: Als wütender und zerstörerischer Archaismus verlagert er die Gegenwart, das Aktuelle, das Unmittelbare in der Welt und erteilt so den Logiken und den Expert_innen des organisierten Gedächtnisses sowie der Kapitalisierung eine Absage. Der Slam gibt den Autor_innen und den Zuhörer_innen die Freude am Augenblicklichen und am Vergänglichen zurück, das sich tendenziell in den kreativen Möglichkeiten verliert. Auf diesem Weg trifft er auf die John Cassavetes, auf die Antonin Artauds, auf die Rimbauds, auf all jene, die den Augenblick leben. Seine zweite nicht weniger wichtige Tugend besteht darin, den Künstler_innen einen öffentlichen Status zu verleihen, ihnen Anerkennung zu geben, indem er sie bekannt macht, was diese immer wieder überrascht. 

Die Überraschung der Slammer_innen hat damit zu tun, dass sie, wie übrigens auch die Rapper_innen oder die Sprayer_innen nicht von einem Status als partikulare Künstler_innen träumen; sie slammen, wie sie sprechen. Sie wissen ganz genau, dass ihre Bekanntheit eher der Unverfrorenheit ihrer Sprache denn ihnen selbst geschuldet ist. Sie sind lediglich das Medium. Die Sprache hat weder einen Namen noch eine feste Syntax, aber diejenigen, die auf Kategorien versessen sind, geben ihr gerne einen Namen: Man nennt sie daher Verlan, warum auch nicht? Aber der Verlan beschließt den transgressiven Weg der Sprache der Banlieues, wenn er zur Sprache wird und darin verschwindet.

Die sprachlichen Pirouetten derjenigen, die den Verlan sprechen sind wohlbekannt: Es geht darum, die Silben der gesprochenen Wörter umzukehren, auch dann, wenn man bezüglich Sinn oder Absicht ein normales Gespräch führt. In seinem Übereifer lässt der Verlan oftmals die Vokale verschwinden, die sozusagen in schwarz-weiß erscheinen. Er verschluckt die A’s, die I’s und die O’s, die zu E’s oder eher zu EU’s werden. So wird arabe zu rebeu, femme [Frau] wird zu meuf und juif [Jude] zu feuj. Aber die cité bleibt farbig, sie wird téci genannt; und die chinois [Chines_innen] sind noiches. Wir haben soeben einige feste Begriffe des um das Jahr 2000 klassischen Verlan angeführt. Doch dies bedeutet nicht, dass man in fünf oder sechs Jahren denselben Verlan vorfinden wird. Denn der Verlan bewegt und verändert sich in der Art eines Chamäleons. Er verharrt nicht an einem Ort. Er entzieht sich jedem Systematisierungsversuch sowie jedem interpretierbaren Code. Dies ist übrigens sein Prinzip – ein Prinzip, das eine Antwort auf seinen Zweck darstellt, der einfach darin besteht, das Geheimnis zu wahren. Der Verlan versteckt und versteckt sich, sodass er wie eine Maquisard_in, die die Frontlinien zu überschreiten gewohnt ist, von einem Ort zum nächsten, von einer Stunden zur anderen, von einer Sprecher_in zur nächsten niemals derselbe bleibt. Hier schnappt er die aus den Amerikas gekommenen Wörter auf, dort sind es seltsame hip gewordene Wendungen, anderswo sind es aus der nächstgelegenen Cité übernommene Wörter und noch weiter weg eine geheime Syntax, die sich Kumpels miteinander ausgedacht haben. Er ist die private Redeweise einer Schar von Schüler_innen, einer Gruppe von Bewohner_innen eines bestimmten Gebäudes, einer Posse nächtlicher Sprayer_innen oder von Anhänger_innen eines Boxklubs. In Marseille koaliert er mit dem Akzent und der Lust an Übertreibungen. Im 93  vermischt er sich mit alten Ausdrücken des Pariser Slang und im Osten Frankreichs wird er seltsamerweise mit arabischen Redewendungen angereichert. Im Vergleich zum Französischen kehrt er alles um.

Während sich das Französische der Klarheit und der Strenge rühmt, sucht der Verlan die Unverständlichkeit und die Unbestimmtheit der Interpretation. Man kann sogar sagen, dass er die Ambiguität kultiviert. Während das Französische vorgibt oder von sich glaubt, in seinen geschützten Formulierungen von Dauer und beinahe definitiv zu sein, gleitet der Verlan dahin wie der Sommerhimmel; er verändert sich laufend. Während sich das Französische angesichts Angst erregender Gegner in internationalen Angelegenheiten zu behaupten versucht, löst sich der Verlan auf, sobald man sich ihm nähert und verschwindet, sobald man ihn zu fassen versucht. Während das Französische auf zarte und subtile Weise spielt, schlägt der Verlan in abgehacktem Rhythmus brutal zu. Während sich das Französische an die Ehrbarkeit des durch Wörterbücher – die Handbücher der richtigen Verwendung, die Schwerter der neunzigjährigen Akademiker – gut geschützten Geschriebenen hält, geht der Verlan in einem mündlichen Rauch auf, der vom Wind der tagesaktuellen Moden und Stimmungen davongetragen wird. Der Verlan setzt sich dem Französischen übrigens nicht entgegen, er leistet ihm voller Respekt einen Treueeid und ergießt sich in das Französische, um es so deutlicher zu machen; er verlagert das Französische und setzt sich ihm nur entgegen, um es stehen zu lassen, sobald sich ihm die erste Gelegenheit bietet; um seine deliranten Metaphern zu spinnen und sich in der groben Ausdrucksweise des Fischmarkts zu suhlen.

In den kommenden Jahren werden sich sicherlich einige gute Autor_innen finden, die – beraten von ihren Publizistiklehrer_innen und mit erklärenden Fußnoten versehen – verlanisierende Romanliteratur für uns verfassen – wenn möglich als Krimi oder als Roman noir. Aber soweit wir sehen können, wird sich dieser Verlan, vom Gift des in Granit verfassten Geschriebenen versteinert, sofort entverlanisieren oder reverlanisieren; er wird durch die Beschlagnahmung von Seiten des Geschriebenen geglättet und eine flache Erinnerung an die ätzenden Wirkungen von Wortgefechten und Rap sein, so wie die Poesie von Villon nur ein schwacher Widerhall der verbalen Jonglierereien der Troubadoure ist.

Übrigens geht es ganz sicher nicht darum, einen Verlan, der nicht zu fassen ist, vor den Angriffen des akademischen Französisch zu bewahren, das selbst nur eine Fiktion ist. Der Verlan ist eine Weise Französisch zu sprechen, die ebenso legitim (aber nicht legitimer) ist wie das Juristenfranzösisch der Verwaltungen, das literarische Französisch der Gymnasiallehrer_innen oder das von Slang durchtränkte Französisch von Céline und Jésus la Caille, das entlegene Französisch der Diplomat_innen oder das blumige Französisch aus Afrika oder aus der Karibik. Die meisten Bewohner_innen der cités sprechen, neben ihren Herkunftssprachen, all diese Varianten der lokalen Sprache; sie sprechen also von nun an ein eigenwilliges, flüchtiges, vielfältiges Französisch. Wie die Mehrheit der Landesbewohner_innen sind sie in der Lage, sich an ihre Gesprächspartner_innen ebenso anzupassen wie an situationsgebundene Sprechweisen, die manchmal nur sehr wenig miteinander gemein haben.

Dieser sprachliche Reichtum produziert nun nicht eine chimärische Exaktheit von Amateur_innen der reinen Wissenschaft, sondern das genaue Gegenteil, nämlich das Missverständnis. In der Diversität der Sprachen, die sich als Umkehrung des alten babylonischen Mythos erweist, geht es nicht um die Bestrafung derer, die man weiß nicht welches Verbot übertreten haben, das aus welchem Grund auch immer von einer töricht oder ängstlich gewordenen Gottheit erlassen wurde, was bis dahin kaum ihre Art war. Ganz im Gegenteil ist es diese auf die Extravaganz ihrer Schöpfungen stolze Gottheit, die ihnen als eine Art Hommage jenes geniale Werkzeug der Begegnung zur Verfügung stellt, welches die Gelegenheit des Missverständnisses darstellt: die sprachliche Diversität. Denn diese archaische Gottheit weiß ganz genau, dass es das Missverständnis ist, das die Menschen einander näher bringt, das ihre Neugier weckt, ihre Begehren nährt, bis sie wahnsinnig werden, und sie zu kreativen Frustrationen verleitet. Es ist das Missverständnis, das aus den Menschen eine erfindungsreiche und schwache, eine drollige und lächerliche Spezies macht. Während die gegenwärtigen politischen Autoritäten in ihrem zerstörerischen Gigantismus von einer menschlichen Einheit träumen, lösen sich die Sprachen – den machtlosen Zensor_innen entbunden – im wahrsten Sinne ab und finden im Zwischenraum schmutziger Banlieues ihre undefinierbare Plastizität wieder. Diesseits der Gebärden dieser oder jener imperialen Sprache, die das Ziel verfolgen, sie den internationalen Organisationen und den Schulhandbüchern zu verpflichten, geben sich diese Sprechweisen den Verführungskünsten des interpretativen Zweifels und den Sirenen des Missverständnisses hin. Die cités der Banlieue sind die Arbeitsstätten einer im Genießen von Differenzen wiedergefundenen Mannigfaltigkeit, an denen das Missverständnis zu einem System wird, durch das man sich einander nähert und sich im Fremdsein kennen lernt.

Dieser Text wurde erstmals in der Nummer 27 der Zeitschrift Multitudes veröffentlicht.