Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

02 2011

Gibt es das wirklich? Ein Close Reading von Hito Steyerls In Free Fall

David Riff

Übersetzt von Birgit Mennel

Der Flugzeugcrash. Ein großartiges Readymade-Spiel für lange Flüge zwischen Workshops und Biennalen. Etwas Plötzliches, um das endlose Easyjet-Gefühl auf Flügen zu unterbrechen. Vergesst die Meditationen über regungslose Geschwindigkeit. Vergesst den Futurismus. Das Leben ist viel weltlicher. Wirklich, nichts geschieht, bis schließlich doch etwas geschieht. Die Flugbegleiterin kommt mit einem heißen Tuch, das für jemand anderen bestimmt ist. Eine weitere Stunde vergeht. Irgendwann geht die Batterie des MacBook Pro zu Ende. Dann plötzlich: ein Schlingern und Schwanken. Jener entmutigende Augenblick des Absinkens, in dem man deutlich spürt, dass alles verloren ist; ein Punkt ohne Wiederkehr, an dem das Potenzielle seinen Höhepunkt erreicht und sich in Aktualität verwandelt. Was darauf folgt, ist weniger wichtig; man muss es nicht wirklich sehen, obwohl dich eine gewisse Schadenfreude* nicht davon abhalten kann, zu bemerken, was du bereits weißt: eine unheimliche Stille aus weißem, durch die Fenster einfallendem Licht entzündet deine Netzhaut, und das war’s. Das Flugzeug verschwindet vom Radar, es gerät außer Kontrolle, bricht entzwei und rast auf die Erde zu. Der Geruch nach Kerosin wie Napalm am Morgen; schlingerndes Zerbersten, Maschinenteile, die durch die Luft geschleudert werden. Air Force One ist abgestürzt, vom Radar verschwunden. Doch was es zu festzuhalten gilt, ist jener entmutigende Augenblick des Absinkens davor; der Augenblick, in dem Wissen im Entstehen begriffen ist. Das ist der Augenblick, den man immer wieder durchläuft, der Augenblick, der unmittelbar auf die Begründung eines Faktums folgt, und damit auch der Augenblick, ehe sich das Faktum endgültig verwirklicht. Es ist genau dieser Augenblick, in dem In Free Fall (2010) von Hito Steyerl innehält und verweilt.

Der letzte Satz des vorangegangenen Absatzes klingt nach Flugzeugsitz-Metaphysik, während es doch eigentlich die Materie ist, um die es in Steyerls Film geht, oder genauer noch: die Materialität von Bildern, von Bildern als Dingen. Das macht in einem sehr wörtlichen Sinn die Montage deutlich, die als Filmeröffnung dient und die drei Teile des Films als Refrain miteinander verknüpft. Vor dem Hintergrund eines apokalyptischen Himmels zerbricht ein Düsenverkehrsflugzeug während des Flugs und Menschen werden durch das Heck hinausgewirbelt. Das Flugzeug schlägt mit der Tragfläche voran auf dem Boden auf. Brennende Maschinenteile stürzen auf den mit Palmen gesäumten Strand. Überlebende mit weinenden Kindern in den Armen kriechen aus den Trümmern hervor. YouTube-Fragmente werden in der Klarheit der HD-Dunkelkammer zu unscharfen Geometrien. Es handelt sich um kollektives Material, wir alle wissen es, noch ehe wir es sehen; um unbewusst eingeprägte Schnittsequenzen, die nach Wiederverwendung schreien. „Schlechte Bilder“, Blockbuster-Crashes, die direkt aus der überholten fordistischen Traumfabrik ins Internet einsickern, wo sie zusammen mit den anderen lebenden Toten in ihr Peer-to-Peer-Nachleben eintreten, neu geschnitten und zugeschnitten, hochgeladen und in einer Art Liebesdienst von einem unsichtbaren Massenpublikum anonymer ProsumentInnen manipuliert, aufbewahrt in „öffentlichen“ Räumen, die privaten Unternehmen gehören und die nahezu jeder kennt – ein Niemandsland der Phantasmen, von denen eines der Crash, die Katastrophe, das Ende ist.

Wir wissen alles über den Crash und wir wissen auch, warum dieses Bild emblematisch sein könnte. Den Einbruch der Warenwerte auf den globalen Märkten spüren wir auf unserer Haut. Der „Crash“ selbst ist ein spektakuläres Bild, dessen wiederholbare Plötzlichkeit die Wirklichkeit verschleiert, die es zu repräsentieren beansprucht, denkt man nur an die verzögerten Wirkungen der andauernden ökonomischen Krise, an die fortwährende Governance mittels Ausnahmezustand, an wiederholte Schocktherapien und Privatisierungen sowie an den offenen Klassenkrieg von oben – ein langsamer Stellungskrieg, der tagtäglich vermittels schwacher Elektroschocks und wohldosierter Fehlinformation geführt wird. Eine Krise kommt niemals plötzlich, sie köchelt immerfort und kocht eines Tages über. Leute gehen ins Kino, nachdem sie ihre Arbeit verloren haben; sie warten stundenlang darauf, dass etwas geschieht, während sie die nächste Ladung Schockarbeit auf Facebook und YouTube vorbereiten. In Echtzeit macht sich eine gewisse systemische Logik, eine Armutsökonomie breit: die Krise generiert ihre eigenen Visualisierungsstrategien, ihre eigenen Weisen des Zurechtkommens, ihre eigenen Affekte, ihre eigenen Ressourcen sowie ihre eigene Art, die Ruinen zu recyclen.

Es ist solch eine Wiederaufbereitungsstätte, zu der uns Hito Steyerl mitnimmt. Mit tadellosem HD-Steadicam-Footage sucht sie den Mojave Air and Space Port auf, einen Schrottplatz unter stechend blauem kalifornischem Himmel, wo Flugzeuge zum Sterben hinkommen. Ein fröhlicher Kapitän mit perlenbesetzter Mütze und elektrobetriebenem Rollstuhl wird zum unternehmerischen Vergil, zum Informanten, der uns durch ihr Nachleben führt. Er erzählt uns von seinem Geschäft, seit die Chinesen Schrott zu kaufen begannen: „Jedes Mal, wenn die Ökonomie einbricht, bringt uns das einen unverhofften Geldregen“, sagt er, umgeben von profitablen Geistern. Die Montage des Filmmaterials bricht die Erzählung des Interviewten in diskrete, ja sogar zusammenhangslose Einheiten auf, in bewusste Brüche und Sprünge in der Rede. Diese verstärken die doppelte Identifikation des Flugzeugfriedhofs als Stätte einer ökonomischen Katastrophe, die alsdann in ein Hollywoodstudio umgewandelt wird: Der Friedhofseigentümer nützt die ausgeweideten Flugzeugkadaver für Spezialeffekt-Explosionen (Bumm – und weg ist es, sagt er, während wir die Feuerkugel an einem perfekten Tag lodern sehen; ein Hollywood-Bild, das sich fortwährend wiederholt). Danach verkauft er die Überreste, das Rohaluminium. Die „teuflische Situation der Ökonomie“ ist eine profitable Explosion. Er versteht es und er weiß es: „Man verdient Geld, egal, was man verkauft.“ Um die konstruktive Montage zu unterstreichen, verwandelt Steyerl dieses neue Wissen – dass es ein gewinnträchtiges Leben nach dem Crash gibt – in ein Ding: Wir sehen die Explosion auf einem kleinen DVD-Player vor der Kulisse eines Flugzeugwracks. Dieses Bild wird durch den ganzen Film geistern; es ist sein Frontispiz. Maschinenzangen beißen sich ihren Weg durch Aluminiumausschalungen hindurch, sie bilden den Soundtrack für die anhaltenden Katastrophenbilder, die im Zeitlupentempo erfasst und mit den Klängen eines elektronischen Schofar überspielt werden. „Gibt es das wirklich? [Is this for real?]“, fragt der Kapitän. 

Hier hebt Steyerls Film nun wirklich ab und wird tanzbar. Michael Jackson synkopiert ein neu geschnittenes Documercial des Discovery Channel über Aluminiumrecycling, das nunmehr anstelle des Bildes der Explosion, das wir vorher sahen, auf dem kleinen DVD-Player des Laptops läuft. Die Sache mit dem Aluminium ist die, dass „es sich so gut recyclen lässt“, deutet der Loop an; es kann wieder und wieder verwendet werden, wie das „schlechte Bild“ des Crashs, könnte man hinzufügen. Der DVD-Player zeigt uns, wie Flugzeugschrott das Fließband entlangfährt, um wieder zu Molekülen eingeschmolzen zu werden. Daraus entsteht wieder und wieder jene extrem haltbare DVD-Beschichtung, die, für immer, mit anderen Samples aus dem Interview mit dem Kapitän beschrieben wird. Das Flugzeug wird einer Transsubstantiation unterzogen; es wird in ein Medium für das Bild seiner eigenen explosiven Auflösung verwandelt. Das Symbol des Fordismus auf Reiseflughöhe (das Düsenverkehrsflugzeug) fliegt in sein eigenes Nachleben als DVD und wird zu einem temporären Symbol der postfordistischen Krise als Ware. Ein weiteres computergeneriertes Bild, das durch den Film geistern wird: die einfache Ellipse der DVD, die als Raumvehikel um den Globus kreist und eher einer fliegenden Untertasse gleicht als dem an einen Learjet erinnernden Bauch des SpaceShipOne, jenem suborbitalen privaten Raumschiff, das 2004 von einem anderen Teil des Mojave Air and Space Port abhob – übrigens etwa zu eben jener Zeit, als „die Chinesen Schrott zu kaufen begannen“. Scaled Composites, die Luft- und Raumfahrtgesellschaft, die diesen privaten suborbitalen Flug auf den Markt brachte, wurde von Sir Richard Bransons Virgin Galactic aufgekauft mit dem Plan, ultrareiche PassagierInnen um 2015 herum auf Spritztouren ins Weltall mitzunehmen. Wenn die Welt bis dahin nicht untergegangen ist. Für MassenkonsumentInnen werden Spritztouren dieser Art mutmaßlich als 3D-HD-Heimtechnologien erhältlich sein, der gute alte Affektsimulator aus dem mit Stempel- und Ausschneidefunktion bearbeiteten Hollywoodfilm der Apokalypse, vermutlich freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Virgin via Apple i3D – wieder und wieder, für immer. Das heißt: bis zum nächsten Crash, wenn alle Bildschirme schwarz werden.

Dies ist selbstverständlich der Refrain, auf den Steyerls Film zurückkommen muss, während seine PassagierInnen zum Sound von „Up, up, and away“ von Fifth Dimension an Bord gehen. Der Pilot präsentiert das Flugsicherheitsvideo. Man weiß, dass man sich mit einer schlechten Ewigkeit abzufinden hat, wenn der Typ aus Lost aus dem Fenster blickt. Das Schlingern, mit dem der Film begann, wiederholt sich und führt zur selben alten, guten alten, zu irgendeiner alten Crashsequenz. Es ist ein false ending, das die unachtsame BetrachterIn heraus aus der Black Box und weiter zur nächsten Ausstellung begleiten wird, wären da nicht die subtilen Differenzen und Ergänzungen in der Montage. Eine weitere Reproduktion, eine weitere Wendung, ein weiterer Crash: Air Force One ist wieder abgestürzt. Ein neuerlicher Schockeffekt zur Ausweitung des allgemeinen Traumas, das die verschiedenen Arten von drastischen ökonomischen Neudefinitionen ermöglicht, die mit einer Krise stets einhergehen. Wie viel können wir über diese endlose Wiederholung wissen? Woher wissen wir das? Können wir es jemals ändern? Können wir unseren Niedergang verhindern? Niedergang wofür? Ist dies nur eine weitere Wiederholung, eine weitere Probe?

+++

Nach dem Ende der zweiten Crashsequenz kehrt die Kamera zum Flugzeugschrottplatz in der Mojave-Wüste zurück, dieses Mal jedoch ohne die suggestiven Klänge elektronischer Schofaren. Es ist offensichtlich: Es handelt sich um einen Dokumentarfilm, ja sogar um eine Faktographie, mit all den Begehren, die damit verbunden sind.[1] Zweifellos hoffen wir, dass eine Handlungsform wie die Faktographie die Wirklichkeit jenseits des Spektakels offenlegen könnte, wenn sie nicht sogar einen neuen dialektischen Realismus hervorzubringen vermag: eine lebendige Kunst, die ihrer Zeit gerecht wird; eine politische Kunst, die die Probleme der Stunde aufgreift, und zwar nicht um sie zu interpretieren, sondern um sie zu verändern. Es ist in erster Linie dieses Begehren, das auf all den Konferenzen, in den Roundtable-Gesprächen, auf den Panels und Biennalen, zu und von denen wir mit absturzgefährdeten Easyjet-Linienflugzeugen reisen, diskutiert wird; ein Begehren, das in bestimmten Kreisen ähnlich häufig konstruiert und eingeübt wird wie, sagen wir mal, in der Massenkultur eine Katastrophenphantasie.

Fürs Erste befriedigt Steyerl zumindest einige dieser Forderungen. Der Ton wird wüstentrocken didaktisch, Kies und Sand knirschen unter den Füßen. Steyerls Erzählstimme (auf Deutsch mit englischen Untertiteln) klingt fast flach, als sie Sergei Tretjakows berühmten Essay „Die Biographie der Dinge“ aus dem Jahr 1929 einführt. Es handelt sich um einen neuen Erzählmodus, in dem die Geschichte eines Dings von den Menschen erzählt, die es gemacht haben, und einen Querschnitt der sozialen Verhältnisse gibt, durch die das Ding seine Form erhielt. Krise, sagt der Verschrotter zwischen Kabeln und Flugzeugrümpfen, und unterstreicht damit, dass wir über Materialismus sprechen und nicht nur über einige ausgefallene Metaphern. Auf dem hübschen kleinen DVD-Player nahe den Trümmern wird folgender Zwischentitel eingeblendet: „Biographie eines Dings: 4X-JYI“. Die 4X-JYI war eine Boeing 707-700, die für den Film Speed (1994) in die Luft gesprengt wurde; man kann die Nummer auf der Heckflosse im Filmmaterial erkennen. Vorher kam sie bei den israelischen Luftstreitkräften zum Einsatz, erzählt uns ein junger Experte auf Hebräisch. Der fröhliche Kapitän bestätigt die Explosion: Löcher in den Tragflügeln und Kerosin an einem kristallklaren Wüstentag. Stellt euch die Pracht vor. Kabumm.

Die Explosion aus Speed verwandelt sich in eine Implosion, als Steyerl zu den Anfängen der Biographie zurückgeht, zum entscheidenden Jahr 1929: das Jahr, in dem der Aktienmarkt einbrach; das Jahr mit den meisten Flugzeugabstürzen in der Geschichte; das Jahr, in dem Tretjakow seinen Essay schrieb – eines der vielen wichtigen Dokumente in der sowjetischen Kulturrevolution. Bewegungsloses Slapstick-Filmmaterial von frühen Luftfahrtcrashs stellt die Verbindung zwischen 1929 und Howard Hughes sowie dem Film Hell’s Angels her, dessen Geschichte wir aus Scorseses Aviator kennen. Der fröhliche Kapitän erzählt uns auf ominöse Weise, dass er auch Hughes kannte. Er ähnelt Hughes ein wenig, wenn man es genau bedenkt, das muss der Bart sein. Der israelische Experte verwandelt diese Paranoia in ein Narrativ, das von einem TWA-Werbevideo aus den 1950ern oder 1960ern unterbrochen wird. Die 4X-JYI wurde 1956 von Hughes’ Tool Company in Auftrag gegeben und war Teil der TWA-Flotte, bis sie in den 1970ern für militärische Zwecke an Israel verkauft wurde. Der DVD-Player zeigt Ausschnitte aus einer israelischen Reportage über das Re’em-Geschwader, eine aus ehemaligen kommerziellen Passagierflugzeugen bestehende Tankeinheit. Die 4X-JYI diente in diesem Geschwader, erzählt uns der Experte. Doch ihr Cousin 4X-JYD, ein Flugzeug aus derselben Fertigungsreihe der 707er ist auch ein Filmstar. Zur elektronischen Kommandozentrale umgebaut war es Teil der Operation Entebbe im Jahr 1976, in der israelische und ugandische Militäreinheiten Geiseln aus einem Passagierflugzeug befreiten, das von deutschen und palästinensischen KämperInnen der Volksfront zur Befreiung Palästinas entführt worden war. Drei Filme wurden gemacht. Die Spannung steigt. Auf dem hübschen DVD-Player ziehen TerroristInnen den Stift einer Handgranate und dringen ins Cockpit vor. Sie geben den komplizierten Namen ihrer Bewegung bekannt (Che Guevara Front, Gaza Brigade – eine weitere Reihe von Reproduktionen) und verkünden, dass sich das Flugzeug in ihren Händen befindet. Klaus Kinskis Auftritt macht es deutlich: Der Affekt des Films (und nicht nur DIESES Films) hat sich unserer wieder einmal zur Gänze bemächtigt. Wir sind jetzt unter Kontrolle. Wodurch, wozu und unter wessen Kontrolle bleibt unklar.

+++

Diese und die folgende Sequenz stellen einen Zusammenhang her zwischen Steyerls In Free Fall und einem anderen Film über Flugzeugentführung, nämlich Dial H-I-S-T-O-R-Y (1997) von Johan Grimonprez. Auch dieser Film eröffnet mit einem Crash, Trümmer aus einer Explosion werden der Kamera entgegengeschleudert. In Grimonprezs exklusivem Filmmaterial schreibt sich die Entführung in einen Unterhaltungskomplex aus Filmattraktionen und kulinarischen Köstlichkeiten ein, in dem Politik nicht viel mehr ist als eine Stunt-Routine. Man könnte sagen, Grimonprezs Film ist eine Art postmoderner Bildungsroman* über Reproduktionen und wiederholbare, auf den Tod zusteuernde Plots, die Fernseharchiven entnommen und durch introspektive Fragmente aus Don Delillos Mao II (1991) fiktionalisiert werden. Es geht um einen für das globale KleinbürgerInnentum aktualisierten Werther, der mit Actionfilmen und Flugzeugessen aufgewachsen ist. Alle Handlungen zielen auf den Tod, aber es sind immer die anderen, die sterben, und zwar nicht nur für die ManipulatorInnen des vorgefundenen Filmmaterials oder für das Phantom der RomanautorIn, die den Film erzählt, sondern selbst für den kleinen Jungen, der irgendwann einmal auf einer Pressekonferenz nach der Entführung auftaucht und gesteht, dass ihm das Ganze überhaupt keine Angst eingeflößt, sondern Spaß gemacht habe, obwohl er den entsetzten JournalistInnen anvertraut, dass er es nicht nochmals tun würde, weil er in der Schule vielleicht zu viel versäumen würde. Der kleine Junge erhält seine eigentliche Erziehung durch die Abendnachrichten, insbesondere dann, wenn er zu einem ihrer Fünfzehn-Minuten-Superstars wird. Ist das wirklich die einzig mögliche Erziehung? Im Rahmen eines Romans oder eines Bildungsromans* – ja. Gleich zu Beginn von Grimonprez’ Film steht ein Zitat von Delillo, das durch Fahrstuhlmusik in einem Nachttaxi zum Flughafen überlagert wird: „Alles sucht seine gesteigerte Version. Oder sagen wir so. Nichts geschieht, bevor es nicht konsumiert wird.“ Es ist eben dieser Konsumismus, der inzwischen auch seriösere Wissensproduktionen überdeterminiert. Das bedeutet, dass nicht mehr wirklich zwischen den Abendnachrichten und der Schule unterschieden werden kann; beide haben einen neuen Höhepunkt von Infotainment erreicht: lieber fünfzehn Minuten Wissen als fünfzehn Minuten Ruhm.

Die Problematik der Konsumption und ihre Form im postmodernen Bildungsroman* sind die Verbindung zu Sergei Tretjakows Essay „Die Biographie der Dinge“[2], der ursprünglich von einer Kritik am Roman als solchem seinen Ausgang nahm: Der Roman ist immer eine psychologische Maschine, die der Subjektivierung und dem Affekt gegenüber den Dingen und der Objektivität den Vorzug gibt. „Im Roman absorbiert und subjektiviert der leitende Held die gesamte Wirklichkeit“, schreibt Tretjakow; seine Struktur psychologischer Konsumption – man könnte auch sagen, seine Internalisierung – sowie seine feudale Geschichte lassen ihn der Welt der Freizeit den Vorzug geben und die Welt der Produktion meiden. Die Alternative dazu ist die Biographie des Dings. Während das Ding – jedes produzierte Ding – das Fließband entlangfährt, erhält es seine Bestimmung durch die Menschen auf beiden Seiten des Bandes; diese Menschen sind keine HeldInnen oder Bösewichte, sondern, wie Tretjakow anmerkt, ProduzentInnen und ReproduzentInnen bestimmter Beziehungen, die durch die Dinge selbst und die auf ihrer Oberfläche hinterlassenen Spuren später ausgedrückt werden. Faktenliteratur und Biographien der Dinge zu verfassen würde damit ein genaues Verständnis der sozialen Verhältnisse beinhalten, die in die Produktion Eingang finden. Dies geschieht in der Hoffnung, dass der Produktionsprozess dadurch nicht nur interpretiert, sondern tatsächlich verändert und sozial kontrollierbar wird. Das heißt, Tretjakows Projekt besteht in der Schaffung einer gesteigerten Wachsamkeit, ja mehr noch, einer Art Solidarität mit der Welt der Dinge.

Es geht also nicht in erster Linie um eine ästhetische Alternative zum Bildungsroman*, die – als pädagogischer Roman – „die ‚Leiden der Werther des Proletariats in ihrer arbeitsfreien Zeit‘“ beschriebe. Brecht nannte Tretjakow seinen Lehrer; und Pädagogik hatte in der Tat eine zentrale Stellung in Tretjakows Lebensprojekt, sei es in seiner Zeit als Russischlehrer in China oder als Begründer einer Kolchosenzeitschrift in der Krim. Zudem veröffentlichte er seine Reiseberichte und Texte regelmäßig in Zeitschriften für Komsomol-AktivistInnen und junge PionierInnen.[3] Junge PionierInnen spielen auch eine zentrale Rolle in einem weiteren Monument der frühen Faktographie: in Dziga Vertovs berühmter Sequenz aus dem Kinoki-Bericht über die Versuche junger PionierInnen, einen NEP-Markt von den Vorzügen eines kollektiven Unternehmens zu überzeugen – die Sequenz, in der zu sehen ist, wie eine in Stücke geschnittene Kuh im Rücklauf wieder zusammengesetzt wird. Dieser Filmausschnitt wie auch der ganze Film in seiner Wissenschaftsfilmästhetik illustrieren auf großartige Weise nicht nur die Begehren, die sich hinter Tretjakows Idee einer „Biographie der Dinge“ verbergen, sondern auch seine Didaktik und den sowjetischen Fordismus im Allgemeinen: dass nämlich ein gemeinsames Wissen über die Produktionsprozesse letztlich eine Gesellschaft zu schaffen vermag, in der Arbeit mühelos ist. Die Kuh kann „montiert“ und wieder zum Leben erweckt werden. Dies ist eine buchstäbliche Umkehrung, ähnlich jener, die Henry Ford durch den Kopf gegangen sein muss, als er sein Fließband mit Blick auf die „Demontagebänder“ der Schlachthöfe in Cincinnati entwickelte. Doch die „Remontage“ der demontierten Kuh dient nicht bloß als Argument für eine rationalere Rindfleischproduktion sowie als Werbeclip für ein bestimmtes „Ding“ (in diesem Fall für sowjetisches Rindfleisch, das sowjetische Kinoauge sowie das sowjetische Projekt insgesamt). Stattdessen nehmen wir durch Vertovs Kinoauge ein Versprechen war: Gemeinsam werden wir die Kontrolle über die Produktion, die Reproduktion und die Zeit übernehmen. Jede Bewegung und jeder Blick macht einen immanenten biomechanischen Sinn, ähnlich wie im sowjetischen Taylorismus à la Alexei Gastew, der auch Gedichte über Luftbilder von Landschaften verfasste, die alle FuturistInnen einschließlich Sergei Tretjakow beeinflussten. So beginnt denn auch Tretjakows Roman über Kollektivierungen mit einem Flug von Moskau in die Krim über von Menschenhand geschaffene Geometrien. Gemeinsam werden wir uns erheben wie das „Fliegende Proletariat“ aus Majakowskis im Dienste der Luftfahrt geschriebenem, seltsam romantischem epischem Gedicht, dem sowjetfordistischen Äquivalent zu Hell’s Angels. Wir werden in Luftbildstädten leben wie jenen aus den späten 1920ern, die der Papierarchitekt Gregory Krutikow entwarf, und wenn wir hinunterblicken, werden wir die völlig autarke Ausbreitung des Suprematismus erkennen können. Gemeinsam werden wir lernen, uns die Implosionen zunutze zu machen.

+++

Steyerls Film zeigt uns eine solche Implosion, wenn die Feuerkugel aus Speed wieder eingesaugt wird, um die 4X-JYI wiederzuerschaffen. Doch was bedeutet die Biographie der Dinge heute? Die von Menschenhand geschaffenen Luftbildgeometrien, die Gastew, Malevich und Tretjakow dermaßen bewunderten, dienen nunmehr als eröffnendes Bildmaterial für die romantische Komödie Up in the Air (2010). Wir scannen die Megamalls unter uns und halten Ausschau nach lächelnden, ad libitum Shakespeare zitierenden Bariste, um Bestätigungen einiger Theorien über den „Kommunismus des Kapitals“ zu finden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass wir – unabhängig davon, was wir bestätigt sehen wollen – das Gesuchte in virtueller und aufgelöster Form im Netz finden werden, gespeichert auf virtuellen Servern unter zirkularen Magnetfeldern und versteckt in abgehalfterten, gegen elektromagnetische Pulse abgeschirmten Raketensilos. Bewegte Bilder verlieren nach ihrem Upload ihren Warenstatus. Gebotoxt mit neuen Codecs, die die Pixellierungen verbergen sollen, beginnen sie Umkehrungen von Duchamps reziproken Readymades zu gleichen: Genossen Dinge, die immer wieder zurückgespult und neu abgespielt werden können – so wie Klingeltonfetische vom jeweils bevorzugten multifunktionalen Gadget aufs Geratewohl gespielt werden. Der Zweck oder das Fehlen eines solchen hängt vollständig von einem selbst ab. So lautet wenigstens das Versprechen.

Verhältnisse dieser Art wären ein ausreichender Grund für eine neue „Biographie der Dinge“, die als kritisches Werkzeug zur Aufdeckung derjenigen Verhältnisse zum Einsatz kommt, die dem Spektakel zugrunde liegen. In Free Fall verschiebt diese Hoffnungen indes, bzw. genauer noch, der Film eignet sie sich wieder an. Die tickende Spannung wird immer phantasmagorischer; die „Biographie der Dinge“, die eigentlich über die Verwendung des Dings durch den Menschen Auskunft geben sollte, erzählt uns nunmehr von etwas völlig anderem. Seltsamer noch als eine Fiktion verstrickt sich das Narrativ in die entstellten Versionen der Totalität, die wir alle in unseren Köpfen herumtragen, und zeigt eine zunehmend paranoide, ja katastrophische Sequenz von affektiven Doppelungen, die auf etwas beruhen, das zu fließend ist, als dass man es reine Reproduzierbarkeit nennen könnte. Che Guevara, Gaza Brigade. Es geht nicht allein um die Spektakularisierung und das Versagen der Politik, um die Umwandlung ihrer „großen Erzählung“ in abendnachrichtentaugliche Häppchen. Stattdessen, und wie vielleicht vorhersehbar war, ist es die Austauschbarkeit, die sich des Narrativs bemächtigt. In diesem Sinn wird der Dokumentarfilm mit der Einführung der Geschichte der 4X-JYD auch zu keinem Mockumentary, obwohl es den entsprechenden Anschein erwecken könnte. Er wird vielmehr noch realistischer als der Realismus; es scheint, als könnten die Waren selbst sprechen wie in der berühmten Eröffnung im ersten Band des Kapitals.[4]

Paradoxerweise ist es dieser Moment der Austauschbarkeit von Bildern, der die „Biographie der Dinge“ als eine von Menschen gemachte Geschichte offenbart, deren affektive Arbeit immer noch in die austauschbare Warenform einfließt, und zwar trotz all der Rufe, dass „kein Außerhalb gibt“. Der israelische Experte sieht an der Kamera vorbei und fragt auf Englisch: „Ist das HD?“ Er beginnt zu lächeln und gewinnt seine Fassung wieder, als er hört, dass dem so ist. Die EntführerInnen kündigen an, dass wir unser Ziel fast erreicht haben und dass wir uns in den Händen einer internationalen Revolutionsbewegung befinden. Der Verschrotter in der Mojave-Wüste macht sich über weitere Flugzeugrümpfe her. Als der israelische Experte fortzufahren versucht, stottert er und unterbricht seine Erzählung; er muss seine Frage auf Englisch stellen. Okay, das israelische Kabinett …, setzt er nach geflüsterter Aufforderung neuerlich an. Charles Bronson ist zusammen mit Robert Loggia wieder auf dem DVD-Player zu sehen. Nach noch etwas mehr Musik, in der sich die tickende Spannung manifestiert, erreicht die Geschichte mit einer Schießerei ihren Steigflug zum Tode. Vier tote Geiseln nebst 45 ugandischen Soldaten, den EntführerInnen und selbstverständlich Yoni Netanyahu. Aber abgesehen davon, ein „durchschlagender Erfolg“, sagt der Schauspieler-Experte und ergänzt: „wahnsinnig kitschig“; dann übersetzt er das Ganze auf Englisch sehr zum Vergnügen des gesamten Teams abseits des Bildschirms. Die 4X-JYD diente kurz als Israels Air Force One und ist mittlerweile ein Kino im Air Force Museum in Hatzarim. Ein weiterer affektiv-mimetischer Simulationsritt. Die Arbeit des Experten wird zur offensichtlich mimetischen Arbeit. Auch hier verabschieden wir uns von unserer Ungläubigkeit.

Die Geschichte kehrt zur 4X-JYI zurück, die als Transportflugzeug in das 120. Internationale Geschwader, die Unterstützungs- und Tankeinheit der israelischen Luftwaffe, integriert wurde, welche sich auf Angriffe auf Langstreckenziele vorbereitete. Der Schauspieler-Experte erzählt uns, dass er einem Interview mit dem Befehlshaber des Schwadrons Champagnerflaschen mit Widmungen auf den Etiketten sah, die ihrerseits gekennzeichnet sind. (Der Korken darf erst nach dem Ende der Geschichte vermutlich in einem Atombunker herausgezogen werden. Ein seltsames Geschenk: eines, das wie der Tod nur als Gewissheit angenommen werden kann.) Wieder taucht Klaus Kinski auf dem Bildschirm auf. Eine Flugbegleiterin bietet ihm Champagner an. Er versichert ihr und uns, dass er seine eigene Marke mitführt. Während sich Champagner zur Feier das ersten Jahrestages der 707er in Schalengläser ergießt, zieht er eine Granate aus der Flasche. „In Interviews mit der israelischen Luftwaffe fällt niemals das Wort ‚Iran‘. Aber es hängt in der Luft.“ Wie Bomben. Der Schauspieler-Experte zeigt uns eine Nahaufnahme eines kleinen 707-Matchboxmodells mit der Aufschrift 4X-JYI auf der Tragfläche. Der Bus aus Speed rammt erneut das Flugzeug, Musik macht sich breit und wir wissen nicht genau, was explodiert: Ist dies eine zukünftige Apokalpyse, die mit Israel und Iran in Zusammenhang steht? Geht es immer noch um die 4X-JYI? Oder wurde vielleicht Tretjakows „Biographie der Dinge“ in Stücke gerissen?

Zur Untermauerung dieser letzten Lesart tritt Steyerl selbst vor die Recyclingsequenz; sie trägt, was Rodtschenkos schwarzer, proletarischer Haute-Couture-Overall sein könnte. Überschattet wird sie durch eine weitere Maschine, die Schrottzange, ein negativer Heiligenschein, der ihren Kopf zu zermalmen droht. „1929 erklärt Tretjakow, das Leben der Individuen sei weniger wichtig als das Leben der Dinge“, liest sie von einem Blatt Papier vor. „Materie liebt, äh, lebt in unterschiedlichen Formen weiter.“ Der Freud’sche Versprecher bricht, was andernfalls ein finsterer Antihumanismus wäre. Das ist eine bewusste Antwort auf Tretjakows asketische Behauptung, dass „die individuell spezifischen Momente der Menschen“ in der Biographie der Dinge entfallen: „Ticks und Epilepsien sind nicht spürbar“. Hier hängt der ganze Filmschnitt an solch einem Tick. Die verpixelten Aluminiumbarren erinnern an Gold und Silber, als sie in den Schmelzofen geschaufelt werden. Die KünstlerIn selbst wird im Schnitt zum Material, zum sprechenden Ding, wie Michael Jackson, der wieder da ist: er-es-wir sind alle so wiederverwertbar wie Aluminium; der Fehltritt wiederholt sich erneut, während geschmolzenes Aluminium fließt, bis Steyerl den Satz vervollständigt: „Materie lebt in unterschiedlichen Formen weiter. Das gilt nicht für Menschen.“ Um allem unnötigen Pathos vorzubeugen, läuft der Sicherheitsfilm mit seinen gelben Sauerstoffmasken an; der Experte in Uniform und mit Pilotenmütze ist wieder da, in farbbasierter Bildfreistellung vor einer abgewrackten Flugzeuginnenausstattung. Die Begrüßungsworte während des Flugs werden nunmehr mit einem stärker betonten Akzent gesprochen. „Das ist zu viel, nein“, sagt er lachend, während eine Mutter ihrer kleinen Tochter ermutigend beim Aufsetzen der Sauerstoffmaske hilft. Wir wissen, dass wir uns wieder auf Schwierigkeiten gefasst machen müssen, als der Typ aus Lost aus dem Fenster blickt und das Flugzeug sich neuerlich neigt. Jetzt mehr denn je, wir müssen die Explosion nicht sehen. Wir kennen ihre Biographie auswendig. Doch mittlerweile sind wir selbst Teil des Blutbads geworden. Wir müssen lediglich den Titel des Emblems wahrnehmen, seine nominale Präsenz, seinen Logos, seinen Klang.

+++

Kies knirscht unter den Füßen. Die Sonne scheint hell. Die Stille hält an. Die Steadicam schwenkt über Stahlträger, Drähte und Abfälle von Flugzeugrümpfen. Auf seiner Wanderung durch dieses Gebiet kann man den Kameramann fast atmen hören. „Guten Morgen, Kevan“, sagt Steyerl aus dem Abseits des Bildschirms und fragt, wer diese Aufnahmen gemacht habe. Das ist das dritte Mal, das wir für sie sehen. „Ich habe sie aufgenommen“, gesteht er über Skype. Was folgt, erweckt zunächst ein wenig den Anschein eines „Making of“, das oft als Zugabe auf kommerziellen DVDs zu sehen ist. Der Kameramann dirigiert die Zange, die über dem hübschen kleinen DVD-Player schwebt, der jetzt ohne seine YouTube-Bewegungsgrafiken erst recht einer Requisite, einer leeren Hülse ähnelt. Über Skype – ein Medium, das konstantes panoptisches Potenzial zu ungeahnten Konfrontationen mit Instant-Menschlichkeit in sich birgt, da es einen unvollkommenen, kontingenten Raum aus entwaffnenden Unterbrechungen und Zeitkrümmungen schafft – erzählt uns Kevan über seinen Versuch, sich aus einer bestimmten finanziellen Lage herauszuwinden. Die Zange bewegt sich zu schnell und trifft ihn, aber er lacht – der Schatten der Steadicam schwankt gespenstisch scharf über dem Wüstensand. Flugzeugrümpfe, Kabel und abgelöste Aluminiumbogen sind dort zu sehen, wo einstmals Flugzeugabziehbilder waren. Kevan erzählt ein wenig von dem kleinen Haus, das er gekauft und zu einem Architekturmeisterwerk umgebaut hat. Seltsamerweise, merkt er an, war es wie ein Flugzeug mit Aluminium verkleidet. Doch die Krise zwang ihn zum Verkauf des Hauses, als der Immobilienmarkt einen absoluten Tiefstand erreicht hatte. Teile eines Fahrwerks stehen isoliert am Rande der Landebahn in Mojave herum; dies erinnert ein wenig an die Geisterstädte von Arizona und Kalifornien. Die Zange beißt neuerlich in das Kabelgewirr. „Wir mussten uns auf einen Crash vorbereiten. Als der Sinkflug erst einmal begann, gab es kein Halten mehr.“ Kevan ist der Beweis dafür, dass Allegorien einen gewissen Gebrauchswert haben, wenn er darüber spricht, wie ihm das Betrachten und die Montage des Films dabei half, zu verstehen, dass er durchtauchen und auf der anderen Seite wieder etwas zusammensetzen musste. Die Eingangsequenz mit vom Radar verschwindenden Flugzeuge und raschem Sinkflug wird zur Illustrierung eingeblendet. Dieser Ausschnitt ist inzwischen dermaßen mit Bedeutung überladen, dass der Affekt dahinschwindet. Wir kennen all das auswendig, wir wussten es von Anfang an und jetzt wissen wir es sogar noch besser, und zwar in allen Variationen. Wir sind für den Terror taub geworden. Wir durchleben die Konsequenzen.

Um diesen Übergang zu markieren, wandert der hübsche DVD-Player an einen neuen Ort. Im Hintergrund steht ein großes Ölgemälde auf einer riesigen Staffelei, ein kleineres hängt von der Decke herunter, was fast an ein Bondage-Zitat aus Steyerls früherem Film Lovely Andrea (2007) erinnert. Genosse Ding ist ein Bondage-Model in Gestalt eines Ölgemäldes, ein Musterbeispiel für das, wofür Theoretiker wie Boris Arwatow und Sergei Tretjakow einen beinahe pathologischen (man könnte sagen misogynen) Hass zur Schau stellten. Das bewegte Bild, bedroht durch die Krise und obsolet gemacht durch seine Kooptation durch den „Kommunismus des Kapitals“ im Internet, kehrt zur Malerei zurück. Abstrakter Expressionismus 2.0. Das ist seltsam passend, denkt man an die Genealogie der Nachkriegsmalerei, die im Äquivalent zum Flugzeugfriedhof, einem Durcheinander aus mimetischen Verfahren und Strichen, ihr Zuhause gefunden hat. Für den abstrakten Expressionismus wurden Leinwand und Farbe zur Basismaterie, die zu recyceln war, ein wenig wie Aluminium; die Formlosigkeit der Gravitation nahm den Platz der Gravität der Form ein. Die ultimative Forderung ist, dass die Malerei nach dem Zusammenbruch der Malerei mehr Indexikalität aufweisen könnte als die Fotografie. Der Moment der Berührung hat entscheidende Bedeutung, das ultimative Ziel bestand darin, Genossen Dinge zu kreieren, die eher LiebhaberInnen als FreundInnen ähneln, wie etwa die Leinwände von Mark Rothko, die aus der Nähe Effekte wie seidene Haut anregen sollen, wenn man nicht durch den Sicherheitsdienst abgelenkt wird. Darüber hinaus gibt es keine Wahrheit; der abstrakte Expressionismus ist nicht auf Wahrhaftigkeitsdispositive angewiesen, sieht man einmal von der romantischen AutorInnenbiographie ab, die nun Mittel und Wege zur Koppelung und Internalisierung von Wahrheit als Basismaterie findet, zu ihrer Internierung in eine personale Form, deren Prozess oder „Happening“ weit wichtiger ist als irgendein materielles Ergebnis. Kevan kommt nach dem Crash der Malerei zur Malerei zurück; eine Stätte, die umso spezifischer ist, als sie mit einer sehr bestimmten kulturellen Tradition in Zusammenhang steht, die als Waffe des Wissens im Kalten Krieg zum Einsatz kam. Gleichzeitig jedoch wurden diese Leinwände anders als im ursprünglichen abstrakten Expressionismus nicht mit dem Vorsatz produziert, hohe Kunst zu sein; sie sind vielmehr ein Abreagieren, das sich jenseits des Bildes in die Welt der Materie vertieft; es geht dabei vielmehr um den physikalisch menschlichen Einsatz von Schaffen und Zerstören auf einer flachen Bildebene, nur um es zu durchzustehen, es hinter sich zu bringen und auf der anderen Seite etwas zu begründen.

Wir sehen Kevan bei der Arbeit in seinem Studio, das sich vermutlich an einem Ort befindet, der vormals Teil eines militärisch-industriellen Komplexes war. Er spricht über seine Arbeit als Videotechniker, der unter allen Umständen bewegte Bilder auf Fernsehbildschirmen oder anderen Geräten in Filme verwandeln sollte. Wir sehen, wie er die Explosion der 4X-JYI von einem Notebook auf eine Leinwand projiziert und in Echtzeit mit den Bildern jongliert. „Es gab einen großen Bedarf nach Wahrhaftigkeit im Film und einer der besten Wege, sie zu bewerkstelligen, bestand darin, einen Fernseher einzusetzen für das, was man tut“, erzählt er uns vom DVD-Player, der selbst als ein solches Wahrhaftigkeitsdispositiv diente. „Es lässt die Dinge wirklich scheinen.“ Die Malerei war voller solcher Dispositive, sodass Kevans Praxis auch in diesem Sinne Malerei nach dem Ende der Malerei ist, eine Welt von heimatlosen Repräsentationen. Diese Wende in der Malerei war nur möglich, weil sich herausstellte, dass die Wahrhaftigkeitsdispositive lediglich Kulissen, Requisiten und Projektionsflächen waren, wenn sie auch einstmals als Gesetz gegolten hatten. Man muss nur an Jan Van Eyk’s Portrait „Die Arnolfini-Hochzeit“ denken, wo der Spiegel – ähnlich wie Steyerls DVD-Player – ein Siegel auf einem visuellen Hochzeitsvertrag ist sowie zugleich ein Symbol für die Mimesis und ihre Fähigkeiten zur Widerspiegelung der Wirklichkeit, das den Autor mit seiner juristischen Autorität ausstattet. Es ist kein Zufall, dass spätere Gelehrsamkeit diesen Hochzeitsvertrag selbst als Fälschung ausweist. Die Braut auf dem Bild war wohl dreizehn Jahre jünger, ein verträumter Teenager, der nicht in Brügge, sondern in Paris lebte, und ihr Vater hatte sie als Garantie für ein bedeutendes Darlehen einem geringeren Kaufmann aus Lucca versprochen, der Ähnlichkeiten mit Wladimir Putin aufweist. Indem er sie auf diese Leinwand malte und den Anspruch erhob, dass dieses Bild die Realität vollkommen spiegelt, verwandelte Van Eyck die junge Frau in ein mobiles Bild, ein Ding ohne menschliche Biographie, das mehr Geld wert ist als irgendein lebendiges Wesen, und zwar nicht nur zu seiner Zeit, sondern insbesondere jetzt, wo das Bild als Gründungsdokument einer ganzen Malereitradition in der National Gallery in London hängt.

Unabsichtlich verweist uns Steyerl auf eine dermaßen lange Geschichte von mobilen Bildern, wenn sie Kevan dabei zeigt, wie er die fliegende Untertasse der DVD mit Bleistift auf eine Leinwand aufzeichnet. Bilder zirkulieren, erzählt er uns, und genau das ist das Problem. Die Leute sehen nicht mehr fern bzw. nicht mehr so wie früher. Die Zeit, die einst als Geld zu den Unternehmen zurückfloss, fließt jetzt als Torrent zum User. Die „Freiheit des Users“, online und ohne Werbeunterbrechungen fernzusehen, gibt Kevan die seltsame neue Freiheit, seine Leinwände zu manipulieren wie wohlvertraute Genossen Dinge, auf von jedem Stigma befreiten, degradierten Oberflächen, die niemals in einem Museum landen werden: Die Allgegenwärtigkeit von Bildern bedeutet, dass er seine Arbeit los ist und dass seine Bestimmung nun darin besteht, jene Art von Malerei zu produzieren, die beim besten Willen keine auf dem Kunstmarkt verwertbare Ware ist. „Die Unternehmen müssen jemanden auspressen, also pressen sie Arbeit ab, Produktionsmittel“, sagt Kevan. Das emblematische Bild der DVD, in Ölfarbe aufgetragen und von einer Lötlampe verbrannt, sieht aus, als hätte es selbst einen Crash hinter sich, merkt Steyerl an. Es war tatsächlich „in der digitalen Revolution gefangen“. Das Malen dieses Emblems des Wertverlusts wird nach der „Erfahrung des Sinkflugs“ zur einzig möglichen Therapie. Es ist der einzige Weg, mit jenem Gefühl zurechtzukommen, man fliege ein Flugzeug, das man nicht landen kann.

Plötzlich bricht die Skypebeichte ab. Der fröhliche Kapitän ist wieder da, um uns noch eine Geschichte zu erzählen, nur dass sie jetzt wahr ist. „Wir steuern auf unserem Landeanflug über 20.000 Fuß abwärts“, sagt er, als ihn die Flugverkehrskontrolle informiert, dass eine Bombe an Bord ist. Denn solche Dinge passieren wirklich. Das Filmmaterial auf dem DVD-Player mit der tickenden Bombe ist kurz wieder da. Nur dass der Hollywood-Soundtrack jetzt zur Illustration einer Erfahrung aus dem wirklichen Leben dient und schließlich jenen Sätzen Glaubwürdigkeit verleiht, die wir die ganze Zeit über gehört haben – aus dem Kontext gerissen und eingesetzt als Material für die Biographie der Dinge. Gibt es das wirklich? Es ist wie ein Simulationsflug. Das Footage selbst wird hier mit einer realen unheimlichen Begegnung in Beziehung gebracht, und zwar auf Seiten des fiktivsten und beängstigendsten Charakters im Film, der sich seinerseits plötzlich auch als Subjekt erweist und nicht mehr nur als Fat Controller à la Howard Hughes. Prekarität ist allgegenwärtig. Gefahr lauert überall. Der Logik der Äquivalenzen zufolge verwandelt sich auch das Crash-Filmmaterial in ein Dokument seiner Erfahrung – wie auch die Malerei eher als Dokument oder als Aufforderung zu einer universellen ästhetischen Erfahrung verstanden werden könnte denn als ästhetische Erfahrung in und von sich selbst. Und wieder setzen wir unsere Ungläubigkeit außer Kraft. Hoppla, äußert der israelische Experte qua Kapitän, und was geschieht mit den PassagierInnen? Mit den BetrachterInnen? Mit dem Publikum? „Atmen sie normal weiter“, tönt das Sicherheitsvideo, während das Flugzeug in zwei Teile zerbricht. Ein Skydiver springt aus der Explosion hervor. Der Wind pfeift, als er versucht, einen fallenden Fallschirm zu fassen zu kriegen. Sauerstoffmasken fallen ins verlassene Cockpit. Der Film kehrt zu jenem Punkt der Unentscheidbarkeit zurück, an dem Fiktion und Realität verschmelzen, an dem das Wissen unterbrochen wird und wo mehr Luft ist, als man atmen kann.

An diesem Punkt bringt Steyerls Film das hervor, was wahrscheinlich sein unvergesslichstes und sein malerischstes Bild ist: Der israelische Experte und Steyerl, beide uniformiert, tragen vor dem Hintergrund von Windmühlen, die Wüstenwind in Energie verwandeln, einstimmig das mechanische Ballet der Flugsicherheitsroutine vor. Die Sicherheitsroutine als individualisiertes Ornament der Masse, biomechanisch im Sinn des avantgardistischen Theaterleiters Wsewolod Meyerhold, der seinen SchauspielerInnen tayloristische Bewegungen beibrachte, die er direkt den Rationalisierungshandbüchern von Alexei Gastew entnahm; eine Performance posthumaner Robotik, eine Internalisierung der futuristischen Kleidung in Sieg über die Sonne. Die Windmühlen verweisen auf die Möglichkeit einer neuen Stufe postfordistischer Rationalisierung mit „kluger Energie“, Wissensproduktion und anderen neuen Einkommensquellen für einen netteren, „weicheren“ Kapitalismus mit posthumanem Antlitz, in dem Menschen-qua-Waren ihre Routinen in freien und grandiosen biomechanischen Performances fortwährend „beibehalten“ und „reproduzieren“. Das ist mimetische Arbeit: Potenzialitäten generieren, die niemals richtig aktualisierbar sind, manchmal an virtuose Grazie rührend, manchmal sich am Rand einer komische Auflösung in vollständigen Dilettantismus bewegend. Frische Winde ziehen auf; produktive Freizeit als Performance von unvollkommenen Körpern, die im spätnachmittäglichen Sonnenlicht wieder instand gesetzt werden.

Diese Bilder evozieren eine unheimliche Nähe zur Malerei auf dem Höhepunkt der stalinistischen Säuberung. Das macht Sinn. Meyerhold wurde als japanischer Spion erschossen. Sergei Tretjakow fiel eine Treppe hinab und seinem Tod entgegen, während er sich in den Klauen der NKWD befand. Boris Arwatow beschloss seine Tage in einem Irrenhaus. Der sozialistische Realismus ist das Nachleben der Faktographie und ein Vorläufer von Peer-to-Peer. Was wir in diesen sonnengetränkten Bildern zu sehen bekommen, ist vergleichbar mit der Arbeit von Alexander Deineka, einem ehemaligen Mitglied der Oktobergruppe. Eine ähnliche Sauerstoffquelle verbirgt sich irgendwo in seinem Gemälde von drei kleinen Jungs auf einem Küstenstreifen, die einer Möwe beim Wegfliegen zusehen. Es ist die Luft von einer Postkarte. Luft, die man zu atmen versucht, während man sich den Hals verrenkt, um Deinekas berühmtes Deckenmosaik in der Moskauer U-Bahnstation Majakowskaja zu betrachten, die unter dem gelegen ist, was Meyerholds Theater sein sollte; aufwärts gerichtete Blicke auf die sowjetische Luftfahrt zu allen Tageszeiten, Suggestionen des Himmels mehr als 30 Meter unter der Erde. Sauerstoff dieser Art ist die Luft der Wegwerfzeit, einer Zeit, die inmitten einer lauten Menge, in einem Fließbandaufzug, in einer Vortragspause und unter nahezu jedem Regime gestohlen werden kann. Es ist die Luft vollständiger Funktionsunfähigkeit auf der Höhe der Produktion, die auf verhängnisvolle Weise in die Blackbox des HD-Videokubus eingeschlossen wurde. Aus dem Außerhalb dieser Box kann man nur den Sound ihrer eigenen Herstellung vernehmen – jene Sauerstoffhymne, mit der Hito Steyerls Film In Free Fall zu seinem Ende kommt.

 



* Hier und an allen folgenden Stellen verweist der Asterix auf die Verwendung des deutschen Wortes im Ausgangstext.

[1] Ein solcher Begehrenskatalog findet sich in der jüngsten Ausgabe des Webjournals transversal mit Beiträgen von Devin Fore, Christina Kiaer, Marco Peljhan, Gerald Raunig, Hito Steyerl und Dmitry Vilensky, herausgegeben von Marcelo Expósito; vgl. transversal 09/2010, „neue produktivismen“, http://eipcp.net/transversal/0910. Diese Publikation sowie die gleichzeitige Ausgabe von Chto Delat, „What is the use of art?“ belegen das wiederbelebte Interesse an der „Faktographie“, mit dem eine englischsprachige LeserInnenschaft schon seit Benjamin Buchlohs Text „From Faktura to Factography“ (in: October, Vol. 30, Herbst 1984, S. 82–119) seit 1984 vertraut ist.

[2] Sergei Tretjakow, „Die Biographie der Dinge“, in: Ders., Lyrik, Dramatik, Prosa, übers. v. Rupert Willnow, Leipzig: Reclam 1972, S. 201–206.

[3] Für die PionierInnen entwickelte Tretjakow eines seiner faszinierendsten Experimente, das in einem Text mit dem Titel „Die Tasche“ dokumentiert ist. Das Experiment wurde 1929 ins Leben gerufen, als er seine jungen LeserInnen bat, ihre Taschen zu entleeren (und den eher unheimlichen – wenn man an Pawel Morosow denkt – Vorschlag machte, auch die Taschen ihrer NachbarInnen zu entleeren), um die Geschichte jedes darin befindlichen Dings zu beschreiben und solche Biographien zu erfinden oder zu konstruieren. Das Experiment wurde bis kurz nach Ende der Kulturrevolution 1933 fortgesetzt, als Tretjakow, der gerade dabei war, eine militante Untersuchung zur Kollektivierung durchzuführen, die Ergebnisse publizierte. Heute kann jeder Tretjakows Spiel spielen, und zwar in den Sekundenbruchteilen während des Sicherheitschecks am Flughafen.

[4] Karl Marx, Das Kapital, Erster Band: „Könnten die Waren sprechen, so würden sie sagen, unser Gebrauchswert mag den Menschen interessieren. Er kommt uns nicht als Dingen zu. Was uns aber dinglich zukommt, ist unser Wert. Unser eigener Verkehr als Warendinge beweist das. Wir beziehen uns nur als Tauschwerte aufeinander.“ In: Friedrich Engels, Karl Marx, Marx-Engels-Werke, Band 23, Berlin: Dietz, S. 97.