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02 2008

Bourdieu, postkolonial: Anmerkungen zu einem Oxymoron

Nirmal Puwar

Übersetzt von Tom Waibel, überarbeitet von Birgit Mennel

Die Vorstellung von Bourdieu als postkolonialem Denker konfrontiert uns mit einem Oxymoron – einem Widerspruch in sich –, das auf eine Reihe von Umständen verweist, die für die internationale Übersetzung von Bourdieu ebenso prägend waren wie für bestimmte Spannungen, die innerhalb und hinsichtlich des Bereichs der Postcolonial Studies bestehen.

Koloniale Kontexte ebenso wie verschiedene antikoloniale Positionen waren Teil des sozialen Umfelds, das viel von der Sozialtheorie hervorgebracht hat, die wir unseren StudentInnen nahebringen, doch haben diese Zusammenhänge selten die ihnen zustehende Betrachtung erfahren. Außerdem fehlt den manichäischen Darstellungen und Rezeptionen einer Theorie, die verschiedene intellektuelle Bereiche auf eine Serie von „Ismen“ verkürzt haben, die Subtilität, die zum Verständnis des komplexen, verflochtenen und veränderlichen Charakters des sozialen Denkens erforderlich ist.[1]

 
Internationale Rezeption

Sociology is a Martial Art (2002), Pierre Carles biografischer Film über Bourdieu, beginnt mit Bourdieu in Frankreich in einem satellitenverbundenen Raum am Beginn seiner programmatischen, an das MLA (Modern Language Association) in Chicago gerichteten Rede, zu der ihn Edward Said, der Präsident der Vereinigung, eingeladen hatte. Thema des Vortrags war das Konzept transnational engagierter wissenschaftlicher Tätigkeit. In diesem Vortrag, der später als kleines Buch mit dem Titel Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung[2] erschienen ist, argumentiert Bourdieu gegen eine rein scholastische Perspektive. Seine deutlicher politischen Interventionen, ebenso wie seine Verpflichtungen gegenüber Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, machten das Leben unbequem für Gelehrte, die zwar die Radikalität seiner analytischen Werkzeuge anwenden wollten, ohne sich jedoch gleichermaßen mit den unverblümten Positionen zu identifizieren, die er in politischen Kampagnen einnahm. Für sie schmälerten solche Positionen seine theoretische Eleganz. Dennoch stützt sich Edward Said in seinem letzten Buch Humanism and Democratic Criticism direkt auf Bourdieus Arbeit anhand des Begriffs der „kollektiven Intellektuellen“, die an der „kollektiven Erfindung“ in einer Art beteiligt sind, die „intellektuelles Verhalten an vielen Fronten, Orten und auf vielfältige Weise ermöglicht und ein Gefühl für Opposition und engagierte Teilnahme lebendig erhält“[3]. Said fährt fort:

„Ein Teil dessen, was wir als Intellektuelle tun, besteht nicht nur darin, die Lage zu bestimmen, sondern auch die Möglichkeiten aktiver Intervention zu erkennen, sei es, dass wir sie dann selbst ausführen oder sie bei anderen vorausschauenden Intellektuellen anerkennen, die vorangegangen oder bereits an der Arbeit sind. Provinzialismus des alten Stils – etwa ein/eine SpezialistIn für die Literatur des frühen 17. Jahrhunderts in England – schließt sich selbst aus und scheint, offen gesagt, unnötig neutralisiert und uninteressant. Die Annahme sollte darin bestehen, dass, wenn man auch nicht alles tun oder wissen kann, es immer möglich sein muss, nicht nur die Elemente eines Kampfes, einer Spannung oder eines naheliegenden Problems, das dialektisch erklärt werden kann, zu erkennen, sondern auch wahrzunehmen, dass andere Leute eine ähnliche Beteiligung und Arbeit an einem gemeinsamen Unternehmen haben.“[4]

Was bedeutet es demnach, mit der Vorstellung von Bourdieu als postkolonialem Denker zu arbeiten? Bourdieu einfach als eurozentrischen Denker zu geißeln ist kontraproduktiv, nicht zuletzt deshalb, weil eine solche Methode, mit einer rezipierten Theorie zu arbeiten, darin enden würde, den Großteil der europäischen Theorie auf den Müll zu werfen. Es ist vermutlich wesentlich fruchtbarer, die verschiedenen Kontexte, Allianzen und Verpflichtungen – und auch die Lektüre und Ideen – in Erwägung zu ziehen, die die Entwicklung von Bourdieus Denken beeinflusst haben. Das erfordert, dass wir aufmerksam gegenüber Bourdieus Bezügen und Zitaten etwa in seinen Schriften über Algerien sind, von denen etliche orientalistisch sind. Danach gilt es herauszuarbeiten, wie viel von seinem historischen Denken in seine eigenen analytischen Werkzeuge Eingang gefunden hat; man muss aber auch eine größere Anstrengung unternehmen als einfach nur den Einfluss anderer AutorInnen und TheoretikerInnen auf einen besonderen Denker zu vermessen. Beispielsweise gab es in letzter Zeit ein wachsendes Interesse daran, den Einfluss Husserls und der Phänomenologie auf Bourdieu zu verorten. Aber auch diese Übung, die vielfach als eine ausschließlich auf Texten basierende Aufgabe wahrgenommen wird, schließt die Betrachtung von Bourdieus politischem Engagement und seinen persönlichen Verbindungen nicht aus.

Bourdieus persönliche Position zum kolonialen Frankreich ebenso wie zur FLN beeinflusste unbestreitbar seinen Zugang zu den AlgerierInnen, die er in seinen Forschungen fotografierte und thematisierte. Die Freundschaften, die er in Algerien schloss, insbesondere jene mit Adelmalek Sayad, und seine Aufmerksamkeit gegenüber den Konsequenzen von Rassismus, dem Verlust von persönlichem Wert und von Möglichkeiten in Frankreich wirkten sich auf seine in Algerien durchgeführten Analysen aus. Die Folgen von Migration, Mobilität, Abwanderung und erzwungenem Exil haben seine Arbeit nachhaltig gekennzeichnet. Daher ist es nicht überraschend, dass Bourdieu in seinen letzten Lebensjahren für die Ausstellung Pierre Bourdieu: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung auf die Arbeit an den Fotografien zurückkam, die er in Algerien vor der Unabhängigkeit aufgenommen hatte. Bourdieu saß an Sayads Krankenbett und notierte, wie Sayad seine Essays und Forschungen im Buch The Suffering of the Immigrant[5] zusammenfassen wollte. Diese Art von lebenslangen persönlichen und intellektuellen Verbindungen wird von britischen StudentInnen einfach übersehen, vor allem weil ihre Vortragenden und Lehrbücher ihnen Bourdieus Arbeit nicht so vorgestellt haben. Um es vereinfacht zu sagen, er wird hauptsächlich und vor allem als Klassentheoretiker per se dargestellt. Er wird in ein besonderes Feld der Soziologie gestellt, das, wie solid es auch sein mag, generell nicht geneigt ist, Klasse, Kolonialismus/Postkolonialismus und Rassismus zusammen zu betrachten. Eine strukturierte Lektüre der Texte, der intellektuellen Beziehungen und der komplexen Formen, durch die sie zeitlich und thematisch miteinander verbunden sind, kann größeren Aufschluss über die sozialen Produktionsbedingungen dessen geben, was wir als Wissen gelten lassen, einschließlich des postkolonialen Wissens.

In Großbritannien wird Bourdieu hauptsächlich als Klassentheoretiker begriffen, der sich des Rassismus und der postkolonialen Zustände in Frankreich sehr wenig bewusst ist. Während AnthropologiestudentInnen üblicherweise mit Bourdieus Arbeit in Algerien in Verbindung mit Auseinandersetzungen über Verwandtschaftsverhältnisse und -strukturen vertraut gemacht werden, wird der koloniale Kontext seiner Arbeit selten erforscht. Selbstverständlich gibt es einen größeren Zusammenhang von Rezeption und Übersetzung europäischer Sozialtheorie, doch trotz des Nachdrucks auf die Lektüre grundlegender Texte als Übermittler einer Ideengeschichte wird der aktuelle Kontext dieser Ideen viel zu häufig übersehen. Darum wird beispielsweise die Bedeutung des kolonialen Kontexts für Durkheims Arbeit über den Selbstmord und die Praktiken von sati (Witwenverbrennung) nicht so thematisiert, dass die StudentInnen zu Lektüre und Verständnis seiner Werke ermuntert werden. Diese – zumeist eher unbewusste als vorsätzliche – Nachlässigkeit ist auf dem gesamten Gebiet am Werk, in der Lektüre von Locke, Derrida oder Bourdieu gleichermaßen. Deshalb ist es kaum überraschend, dass im besonderen Fall Algeriens der Zugang zu französischer Theorie als einer sich in sehr hohem Maß in kolonialen Situationen und Konflikten entfaltenden Entität kein Thema von Seminaren ist.[6] Cixous, Althusser, Derrida und Lévi-Strauss waren alle stark von Algerien beeinflusst.[7]

In Soziologie und Cultural Studies – den vorrangigen Disziplinen mit den meisten SchülerInnen oder „Fans“ von Bourdieu – werden die StudentInnen wahrscheinlich eher mit den Konzepten kulturellen und sozialen Kapitals vertraut gemacht als mit Rassismus, Algerien oder gar Postkolonialismus. Einige dieser verkürzten Rezeptionen haben zweifellos damit zu tun, dass eine beträchtliche Anzahl der von Bourdieu und seinen KollegInnen geschriebenen Arbeiten über Rassismus in Frankreich nicht ins Englische übersetzt wurden. Der Hauptgrund besteht aber wohl in der Vorherrschaft des Klassenbegriffs in der britischen Soziologie, die den Rassismus trotz der im Buch The Empire Strikes Back[8] ausgefochtenen Kämpfe – selbst heute noch – als eine Begleiterscheinung behandelt. Der Klassenbegriff hat einen derartigen Metastatus erlangt, dass einige KlassentheoretikerInnen immer noch Schwierigkeiten haben, den Rassismus innerhalb und außerhalb des Klassenzusammenhangs zu berücksichtigen. Neben Klasse auch Postkolonialität in Betracht zu ziehen ist eine noch viel ungewöhnlichere Vorstellung. Postkolonialen Überlegungen wird häufig vorgeworfen, Trennungen zu erzeugen und mehr mit Einzelheiten beschäftigt zu sein als mit dem wirklich Entscheidenden im Leben. Trotz der aufgeregten und dennoch entkoppelten Beziehung zu diesem Feld ist diese distanzierte Positionierung gegenüber den Postcolonial Studies nicht völlig verfehlt.

Aber wir wissen doch, dass sich sogar führende TheoretikerInnen der Postcolonial Studies – Spivak und Said – auf ihre Weise von der doxa dieser Disziplin distanziert haben. Sie haben sich selbst oft nicht wiedererkannt innerhalb der zirkulären und selbstbezüglichen intellektuellen Bewegungen von Gelehrten, die etwa ohne jedes Gefühl für Ungleichheiten und Verteilung von Ressourcen in jeder menschlichen Geste lediglich Ambivalenz und Hybridität suchen. Es besteht kein Zweifel, dass das Ausbleiben von Überlegungen zu Fragen der Klasse und ökonomischen Ungleichheiten innerhalb der doxa der Postcolonial Studies zu einer bequemen Position geworden ist. Darum sind die „Hardcore“-KlassentheoretikerInnen, die sich üblicherweise in einigem Abstand zu diesem Gebiet befinden, selbst weitgehend dazu übergegangen, Bourdieu vom postkolonialen Wissensgebiet zu distanzieren. Ebenso machen es sich postkoloniale TheoretikerInnen gemeinhin leicht, sein Werk – ohne, wie gesagt werden muss, viel davon zu lesen – als Scheitern zu bezeichnen, dem die erforderliche Aufmerksamkeit auf die postkolonialen Verhältnisse in Frankreich oder anderswo fehlt. Daher das Oxymoron.

Ein bestimmter Aufsatz, den Bourdieu gemeinsam mit Wacquant verfasste,[9] wurde vielfach als Hinweis auf einen Fall verwendet, in dem sich Bourdieu gegen Multikulturalismus ausspricht. Das ist jedoch eine Missdeutung. Das zentrale Anliegen dieses Artikels ist die Vorherrschaft nordamerikanischer Publikationsnetzwerke und AkademikerInnen in der Wissensproduktion mit dem Ergebnis, dass äußerst spezielle und situationsbezogene Vorstellungen von Multikulturalismus und „Rasse“ unkritisch auf andere, völlig unterschiedliche internationale Zusammenhänge übertragen werden. Ebenso wird Klasse als Beispiel für dieses besondere Monopol und diesen Informationsfluss genommen, wodurch eine genaue vergleichende Analyse des Gebrauchs der Konzepte verhindert und das wiederholt wird, was man rhetorisch als „imperiales Denken“ bezeichnet. Der dabei zugrunde liegende analytische Punkt wird indessen zugunsten einer Lesart übersehen, die Bourdieu dem Multikulturalismus und den Überlegungen zu „Rasse“ und Differenz entgegenstellt. Ein Verständnis für diesen in den Kritiken und Erwiderungen sehr oft verloren gegangenen Punkt bedeutet aber nicht, dass Bourdieu und Wacquant dafür entschuldigt werden können, dass sie die detaillierte in Brasilien durchgeführte Arbeit übersehen haben.

 
Post/Koloniale Texturen

Wenn wir Migration zum kolonialen/postkolonialen Thema machen, fällt es nicht schwer, festzustellen, in welchem Maß Migration eine Angelegenheit war, die Bourdieus persönlichen Interessen seit dem Augenblick nahelag, als er das Béarn verließ, um in Paris eine Ausbildung zu erhalten. Seine eigene Migrationserfahrung war durch Klassenzugehörigkeit geprägt, und die kulturell gekennzeichnete Verschiebung war so tief greifend, dass sie ihn für das Thema sensibilisierte und ihn möglicherweise zu einer Überarbeitung des philosophischen Habitus-Begriffs brachte. Bourdieus Forschungen in Algerien konzentrierten sich auf Zwangsmigration als Ergebnis der französischen Kolonialpolitik. Umsiedlung, Ansehensverlust und Desintegration von Gemeinschaften sind in seinem Verständnis lauter Aspekte davon, wie Menschen unter harten Bedingungen eine „Heimat“ konstruieren. Die Koppelung neuer Arbeitsformen mit dem erfinderischen Einsatz von Geschäftspraktiken als Antwort auf das Schwinden von Facharbeiten ist mit neuen Städten und Zusammensetzungen, in denen sich die Leute wiederfanden, verbunden. Die Idee sowohl der unter Zwang als auch der freiwillig erfolgenden Abwanderung, insbesondere mit dem Ziel eines ökonomischen Aufstiegs, hat zweifellos Anteil an Bourdieus intellektueller Sensibilität.[10] All diese Beobachtungen zeigen sich auch in der Fotoaustellung Pierre Bourdieu: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung. Die Gestalten – HändlerInnen, BettlerInnen, Kinder – und die Landschaften – Lager, Gehöfte, Bars, zerstörte Hütten, Reisen – vermitteln Bedeutungen von Entwurzelung.[11]

Eine der Ausstellungsfotografien zeigt Abdelmalek Sayad, den Bourdieu an der Universität von Algerien traf. Sayad begleitete und unterrichtete Bourdieu während dessen erster Feldforschung und fuhr bis zu seinem Tod fort, mit Bourdieu zu arbeiten. Bourdieu, der die Bedeutung der kulturelle Grenzen überschreitenden Beziehungen für seine eigene intellektuelle Entwicklung reflektiert, schreibt:

„Ich denke unter anderem an Leila Belhacène, Mouloud Feraoun, Roland Garèse, Moulah Hennine, Mimi Bensmaïne, Ahmed Misraoui, Mahfoud Nechem und Abdelmalek Sayad. Diese algerischen Freundschaften, die ohne Zweifel aus Ähnlichkeiten im Habitus entstanden, halfen mir, eine Darstellung der algerischen Realität zu erarbeiten, die gleichzeitig innig und distanziert war, aufmerksam und, wenn ich so sagen darf, teilnehmend und warmherzig, ohne deswegen naiv oder einfältig zu sein.“[12]

Bourdieu und Sayad setzten ihr enges Arbeitsverhältnis in Paris fort. Es ist vermutlich wichtig, festzustellen, dass Sayads Beteiligung sehr umfangreich war – am Ende seines Lebens hatte er beinahe 100 Texte veröffentlicht, darunter acht Bücher. Er arbeitete über das Alltagsleben in algerischen Slums im Paris der Nachkriegszeit ebenso wie über die Zerstörung der traditionellen algerischen Landbevölkerung durch die französischen KolonialistInnen. Mit exakter Detailliertheit untersuchte er die Dynamik der Migrationsverkettungen von der Kabylei nach Frankreich, den Einfluss der Entkolonialisierung auf die Aufnahme algerischer ArbeiterInnen in Marseille sowie die wahrhafte Odyssee dieser ArbeiterInnen und ihrer Kinder durch die Schichten und Institutionen der französischen Bevölkerung. In der Tat veröffentlichte Sayad kurz nach seiner Ankunft in Paris gemeinsam mit Bourdieu Le déracinement. La crise de l’agriculture traditionelle en Algérie.[13]

Wir wissen, dass die durch Feldforschungen in Algerien während einer Konfliktperiode aufgeworfenen Fragen Bourdieu nicht nur dazu bewegten, mit seinem Versuch fortzufahren, die algerische Emigration nach Frankreich zu verstehen, sondern seine Aufmerksamkeit auch auf seinen eigenen Geburtsort und auf sein Aufwachsen in der Region des Béarn während der Fünfziger- und Sechzigerjahre lenkten. Bald nach der Zeit in Algerien formulierte er auch die Konzepte des Habitus, der Veranlagung und Ehre im Béarn. Bourdieu erklärt in einem Interview mit Franz Schultheis die wechselseitige Verbindung – den wechselseitigen Austausch – zwischen seiner Forschung im Béarn und in Algerien und seiner eigenen persönlichen Entwicklung:

„[…] dass Algerien das ist, was es mir ermöglicht hat, mich selbst zu akzeptieren. Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, wenn ihnen nur die Alternative zwischen Populismus oder im Gegenteil einer durch Klassenrassismus bedingte Scham für sich selbst bleibt.“[14]

Es gab jüngst eine kritische Debatte darüber, dass Bourdieus Forschungen von seinem Gefühl für Nostalgie durchzogen sind.[15] Es ist aber ebenso entscheidend, festzustellen, dass Bourdieu selbst Überlegungen hinsichtlich der Produktionsbedingungen seiner intellektuellen Nostalgie im Béarn angestellt hat. Dieses recht produktive Durcharbeiten der Nostalgie als Aspekt von Forschungssituationen ermöglicht eher eine Beschäftigung damit als dessen geradlinige Ablehnung als „schlechtes“ Gefühl. In seinem letzten Buch The Bachelor’s Ball[16] kehrt er in sein Heimatdorf im Béarn zurück, um – anhand eines dörflichen Tanzes um die Aufmerksamkeit junger Frauen – die schwierige ökonomische und soziale Lage jener Männer zu bedenken, die dem Land verbunden geblieben sind im Gegensatz zu jenen, die diese Verbindung durch ihre Abwanderung zugunsten eines Lebens in der Stadt getrennt oder gelockert haben. In diesem Buch, das teilweise auf bereits veröffentlichten Essays beruht, ist Bourdieu sowohl auf den objektivierenden Blick der BeobachterInnen als auch auf seine eigene affektive Anteilnahme mit den TeilnehmerInnen an seiner Untersuchung äußerst aufmerksam. Die Männer, die er dabei beobachtet, wie sie am Freitagnachmittagstanz herumstehen und nicht tanzen, da sie „nicht zu heiraten“ sind, waren schließlich seine Nachbarn und Bekannten, mit denen er aufgewachsen ist.

Bourdieu war mit vielen postkolonialen Intellektuellen befreundet und teilte deren Anliegen. Sie waren Teil seines intellektuellen Werdegangs, ein Schlüssel zum Verständnis für das, was in seine Gedankenwelt vordrang und wie er sich als Intellektueller benahm.[17] 1985 unterstützte Pierre Bourdieu Mouloud Mammeri bei der Gründung von Awal, einer Zeitschrift für Berberstudien am Zentrum für Studien der Amazigh Kultur (CERAM) in Paris. Aus gutem Grund schrieb daher Bourdieu in Le Monde den Nachruf auf Mouloud Mammeri, der bei einem Autounfall am 25. Februar 1989 ums Leben gekommen war. In einer Hommage an Mammeri betrachtet Bourdieu die postkoloniale Odyssee seines befreundeten intellektuellen Reisenden genau und stellt fest:

„[…] die Geschichte der Beziehung von Mouloud Mammeri zu seiner ursprünglichen Gesellschaft und Kultur kann als Odyssee beschrieben werden, mit einer anfänglichen Distanzierungsbewegung zu unbekannten Ufern voller Verführungen, gefolgt von einer umständlichen und langsamen Rückkehr voller Fallen in sein Geburtsland. Diese Odyssee ist in meinen Augen der Pfad, den all jene, die aus einer beherrschten Gesellschaft, Klasse oder Region innerhalb dominanter Gesellschaften hinausgedrängt werden, betreten müssen, um sich selbst zu begegnen und wiederzufinden. In diesem Sinn ist der Werdegang von Mouloud Mammeri exemplarisch für mich.“[18]

Bourdieu bezieht sich auf Mammeris Schriften und Forschungen – man könnte sogar sagen, er identifiziert sich damit – auf einer Grundlage, die sie als eine Arbeit anerkennt, „die durch den Sieg über die kulturelle Scham zu einer Wiederaneignung seiner eigenen Ursprungskultur [als] wahrhafte Sozialanalyse führt“[19].

Distanz und Nähe waren für Bourdieu konstante Forschungsstrategien. Sein Ausdruck von Nähe war ohne Zweifel von seinem intellektuellen Umfeld und dessen Einflüssen mitbestimmt. In seinem letzten Lebensabschnitt stellte Bourdieu sogar fest, dass seine Verbindung mit und die Unterstützung durch Raymond Aaron ihn am Beginn seiner akademischen Karriere von den „nichtwissenschaftlichen“ Ausdrucksformen abgelenkt hatten. Literarische und novellistische Kommunikationsformen, die den affektiven Qualitäten seiner Forschung mehr Platz eingeräumt hätten, wurden zugunsten eines akademischen Stils zurückgedrängt, dem Autorität und Legitimität durch das damals in Nordamerika soziologisch Dominante gewährt wurde. Aber dennoch hat er angefangen, sich von dieser zwangsverordneten Darstellungsform zu befreien. The Bachelor’s Ball ist in dieser Hinsicht völlig verschieden.

Bourdieu kann als jemand verstanden werden, der eine praktizierte Nähe und Distanz gegenüber der Welt praktizierte, in die er eingeführt worden war und in der er seinen Lebensunterhalt bestritt – der Akademie. Nach der Veröffentlichung von Homo academicus[20] hatte er keine Befürchtungen mehr, dass Politik seine intellektuelle Berechtigung einschränken könnte, ganz im Gegenteil. Gegen Ende des Films Sociology is a Martial Art, mit dem der vorliegende Artikel begann, gibt es eine Szene, in der Bourdieu seine Arbeit in einem von VertreterInnen verschiedener Ethnien betriebenen Radiosender diskutiert und er von Jugendlichen befragt wird, sowie eine weitere, sehr aufgeheizte Szene, die ein Diskussionsforum in einem großen Saal auf dem Land zeigt. In diesen beiden Situationen versucht Bourdieu, seine Ideen in Begriffen zu vermitteln, die nicht auf eine akademische Ausdrucksweise oder einen Stil beschränkt sind, der ausschließlich der Kommunikation mit anderen AkademikerInnen dient. Er hielt es für gleichermaßen wichtig und für die akademische Forschung produktiv, sich innerhalb und außerhalb des Elfenbeinturms ohne jene moralische Attitüde zu bewegen, die er „Antiintellektualismus“ nannte.[21]



[1] Vgl. Nirmal Puwar / Sanjay Sharma, „Short Circuiting Knowledge Production“, EduFactory. Conflicts and transformations of the university, http://www.edu-factory.org/index.php?option=com_content&task=view&id=55&Itemid=39, abgefragt am 25. 3. 2008.

[2] Pierre Bourdieu, Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung, Konstanz 2001.

[3] Edward W. Said, Humanism and Democratic Criticism, Basingstoke 2004, S. 140.

[4] Ibid.

[5] Abdelmalek Sayad, The Suffering of the Immigrant, Cambridge 2004.

[6] Vgl. James D. Le Sueur, Uncivil War. Intellectuals and Identity Politics During the Decolonization of Algeria, Philadelphia 2001.

[7] Vgl. Robert Young, Postcolonialism. An Historical Introduction, Oxford / Malden, Mass. 2001.

[8] Vgl. Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS), Birmingham University, The Empire Strikes Back. Race and Racism in 70s Britain, London 1982.

[9] Pierre Bourdieu / Loïc J. D. Wacquant, „On the Cunning of Imperialist Reason“, in: Theory, Culture, Society, Jg. 16, Nr. 41.

[10] Vgl. Pierre Bourdieu / Alain Darbel / Jean-Pierre Rivet / Claude Seibel, Travail et travailleurs en Algérie, Paris / Den Haag 1963.

[11] Vgl. die Publikation zur Ausstellung: Franz Schultheis / Christine Frisinghelli (Hg.), Pierre Bourdieu: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz 2003 (Anm. d. Übers.).

[12] Pierre Bourdieu, „Algerian Landing“, in: Ethnography Nr. 5, 2004, S. 433.

[13] Pierre Bourdieu / Abdelmalek Sayad, Le déracinement. La crise de l’agriculture traditionelle en Algérie, Paris 1964.

[14] „Ein Gespräch mit Pierre Bourdieu von Franz Schultheis. Collège de France, Paris, 26. Juni 2001“, in: Franz Schultheis / Christine Frisinghelli (Hg.), Pierre Bourdieu in Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz 2003, S. 23–50, S. 48.

[15] Vgl. Deborah Reed-Danahay, „Tristes Paysans: Bourdieu’s Early Ethnography in Béarn and Kabylia“, in: Anthropological Quaterly 77.1, 2004, S. 87–106; Paul A. Silverstein, „Of rooting and uprooting: Kabyle habitus, domesticity, and structural nostalgia“, in: Ethnography Nr. 5, 2004, S. 553.

[16] Pierre Bourdieu, The Bachelor’s Ball. The Crisis of Peasant Society in Béarn, übers. von Richard Nice, Cambridge 2007. (Eine deutsche Übersetzung ist vom Universitäts-Verlag Konstanz unter dem Titel Junggesellenball. Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft für Mai 2008 als Bd. 34 der Edition Discours angekündigt [Anm. d. Übers.].)

[17] Tassadit Yacine, „Pierre Bourdieu in Algeria at war: Notes on the birth of an engaged ethnosociology“, in: Ethnography Nr. 5, 2004, S. 487.

[18] Pierre Bourdieu, „The odyssey of reappropriation“, in: Ethnography Nr. 5, 2004, S. 618.

[19] Ibid., S. 619.

[20] Pierre Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt a. M. 1998. 

[21] Vgl. Bourdieu 2001, op. cit.