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09 2017

Kunst und Revolution - Vorwort zur Neuauflage 2017

Gerald Raunig

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Kunst und Revolution ist im Zeitraum von 2001 bis 2005 geschrieben, als Forschung im Rahmen des europäischen Projekts republicart, freundschaftlich umhüllt vom Ungefüge unsres damals noch immer im Werden begriffenen Instituts, des eipcp, und als philosophische Habilitation an der Universität Klagenfurt, wo Peter Heintel und die Gutachter_innen einen ziemlich unkonventionellen Zugang zum akademischen Apparat ermöglicht haben. Zugleich ist das Buch der Abschluss ­einer impliziten Trilogie zu Fragen der politischen Kunst. In Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung (1997-1999) sollte eine Kritik der Autonomie der Kunst die Basis für Theoretisierung und Affirmation interventionistischer Kunst am Beispiel der Gruppe WochenKlausur liefern. Der im Bann der Wiener Bewegung gegen Schwarzblau von 1999/2000 geschriebene kleine Band Wien Feber Null. Eine Ästhetik des Widerstands (2000) bedient sich formal, aber auch in angeeigneten Textpassagen an Peter Weiss‘ berühmtem antifaschistischem Buch, auf der Suche nach einer Sprache, in der die aufgeregte Vielheit des Wiener Widerstands um die Jahrtausendwende nicht einfach nur beschrieben, sondern affektiv aktualisiert werden kann. Der vorliegende dritte Band war schließlich als philosophische Annäherung an aktivistische Kunstpraxis geplant und geriet zu einer historischen Untersuchung des Verhältnisses von Kunst und Revolution „im langen 20. Jahrhundert“ aus dem Blickwinkel der Jetztzeit – ein gegenwärtiges Werden, geprägt durch minoritäre Geschichten transversaler Widerstände seit dem späten 19. Jahrhundert und durch ein ausgedehntes Hier und Jetzt in und um Wien.

Weit mehr als eine wissenschaftliche Arbeit ist das Buch eine in der reißenden Mitte der sozialen Bewegungen dieser Jahre geschriebene Affirmation von neuen kon­stituierenden Praxen. Die globalisierungskritische Bewegung war ebenso Ausgangspunkt des Buchs wie die Diskurse um konstituierende Macht und Multitude (nach Antonio Negri) und um politische Repräsentations­kritik von Félix Guattari, Gilles Deleuze und Michel Foucault über die Zapatist_innen und John Holloways „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ bis hin zu queer-feministischen Positionen. Diskursive Kunsträume wie das Depot, die Kunsthalle Exnergasse und die Akademie, Zeitschriften wie die Kulturrisse, die Anschläge, die Grundrisse oder das Webjournal transversal, Empire-Lesekreise und politisch-theoretische Auseinandersetzungen in Mailinglisten, die Präsenz der interes­santesten internationalen Akteur_innen und­ ­Autor_innen in Vorträgen und Diskussionen, das alles hatte Wien für einige Jahre zu einem Ort der Verdichtung von sozialer Bewegung und politischer Theorie­produktion gemacht. Um 2004/5 kam eine weitere aktivistische Erfahrung hinzu, die Bewegung der Prekären, in der Wien nochmals eine gewisse Rolle spielen sollte, diesmal im Verbund mit Dutzenden anderer europäischer Städte unter dem Namen Euromayday.

Was die für Kunst und Revolution zentrale Frage der Verkettungsformen von künstlerischen und revolutio­nären Maschinen betrifft, diente die antirassistische, queer-feministische und nomadische Praxis der VolxTheaterKarawane als exemplarische Folie. Selbst eingebettet in die translokale noborder-Bewegung, ließ sie die traditionellen Spielarten des Verhältnisses von Kunst und Politik hinter sich und erprobte die Infragestellung und Ausweitung von Grenzen auf verschiedensten Ebenen. Ihre oft durch Sprünge und Brüche geprägte Entwicklung von den experimentellen Theaterprojekten im besetzten Haus bis hin zu unterschiedlichen Höhepunkten der globalisierungskritischen Bewegung in Wien, Salzburg, Genova oder Strasbourg möglichst affin zu verfolgen und theoretisch zu verdichten, schien damals wie heute adäquater als eine breite Darstellung ähnlicher Praxen im gleichen Zeitraum.

Die Kunstgeschichtsschreibung, die Kunstkritik und die Ästhetik schweigen gern von politischer Kunst und dem Politischen an spezifischen Kunstpraxen, erst recht aber von den Verkettungen von Kunst und Revolution. So viele große Namen der Kunstgeschichte auch in Revolutionen involviert waren, die gefährlichen Kreuzungen von künstlerischem und politischem Aktivismus werden regelmäßig verharmlost, verniedlicht oder absichtsvoll ausgestrichen. Die Verkettung darf hier nicht sein, Kunst wie Revolution verlieren ihre maschinische Qualität durch die Historisierung und Rasterung der Kunstwissenschaften. Wenn Gustave Courbet sich in den 1860er Jahren mehr und mehr für Kulturpolitik interessiert, weiß die Kunstgeschichte nur von einem künstlerischen Abstieg Courbets zu berichten, den Revolutionär Courbet, das Mitglied des Rats der Pariser Commune, blendet sie ohnehin zur Gänze aus. Wenn die Situationist_innen eine wichtige Rolle in der Vorgeschichte des Pariser Mai 1968 spielen, bleibt gerade diese Phase im Gegensatz zum künstlerisch-antikünstlerischen Beginn in den 1950er Jahren oder zu Guy Debords Filmen aus den 1970er Jahren eigentümlich dunkel. Und wenn in heutigen Praxen Kunstmaschinen und revolutionäre Maschinen zu temporärer Überlappung kommen, werden sie vielleicht kurzfristig im Kunstfeld verwertet und vermarktet, jedoch nicht als transversale Praxen in die Kanons der akademischen Disziplinen aufgenommen werden.

In unserer aktuellen Erfahrung molekularer sozialer Bewegungen, aber auch in den minoritären Geschichten marginaler Historiographie gibt es eine Vielheit von Formen des Verhältnisses der beiden Maschinen. Die Kombination Kunst/Revolution ist kein skurriler Ausnahmefall, sondern im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts eine Figur, die wiederkehrt, wenn auch unter verschiedenen Vorzeichen und in unterschiedlichen Gestalten. Aber was passiert genau, wenn revolutionäre Maschinen auf Kunstmaschinen treffen, wenn sich auf eine gewisse Zeit Zonen der Überlappung entwickeln? Was ereignet sich auf der Fluchtlinie von Kunst und Revolution? Und vor allem: Wie ist die Beschaffenheit dieser Verkettung? Um die Vielheit der Formen begrifflich differenzieren zu können, werden in Kunst und Revolution als provisorische Engführung vier Modi vorgeschlagen, wie sich revolutionäre und Kunstmaschinen zueinander verhalten: sequenzielle Verkettungen des zeitlichen Nach­einander, negative Verkettungen des inkommensurablen Neben- und Gegeneinander, hierarchische Verkettungen des (selbstbestimmten) Über- und Untereinander und transversale Verkettungen des strömenden Durcheinander. In dieser letzten Form kommen die Kunstmaschinen und die revolutionären Maschinen zur Überlappung, nicht um einander einzuverleiben, sondern um in ein zeitlich begrenztes, konkretes Austauschverhältnis zu treten. Natürlich könnte man auch Praxen der anderen drei Modi gleichsam auf ihren Transversalitätsfaktor überprüfen, auf die Qualität der gegenseitigen nicht-heteronomen Durchdringung, in welcher Art und in welchem Ausmaß also revolutionäre Maschinen und Kunstmaschinen ineinander greifen.

Die späten 1990er und die 2000er Jahre waren Jahrzehnte des Experimentierens und Erfindens von transversalen Praxen, die immer neue Formen der maschinischen Überlappung ermöglichten und Anlass für wachsendes diskursives Interesse und theoretische Auseinandersetzung gaben, bis hin zur euphorischen Aussage eines der wichtigsten Theoretiker_innen des Felds, Brian Holmes, Aktivismus wäre die wichtigste Form aktueller Kunst. In diesen Jahrzehnten hat sich ein – wenn auch fragiles – transnationales Feld der transversalen Praxen entwickelt: manchmal sogar als hegemonial imaginiert, dann allerdings eher von Seiten des bürgerlichen Kunstapparats, dem es noch immer um die Begrenzung und Einhegung der Kunst zu tun ist, manchmal, wiederum von derselben Seite, massiv angegriffen, als „Polit-Kunst“, „schlechte Kunst“, „Nicht-Kunst“.

Vielleicht interessiert heute weniger die Frage Brian Holmes‘ nach der Bedeutung von Aktivismus als künstlerischer Praxis als die diametral gegenüberliegende Suche nach revolutionären Lebens- und Subjektivierungsweisen, die mit einer konzeptuellen Anleihe bei Foucault und Guat­tari provisorisch mit dem Begriff einer Ethiko-Ästhetik der Subsistenz belegt werden könnte: ungefügige Lebensweisen, queere Sorgepraxen, neue Formen des Zusammenlebens. Es lassen sich in Kunst und Revolution unterschiedliche Spuren auch solcher Praxen der molekularen Revolution finden, die im Weiteren vor allem entlang der jüngsten Entwicklungen in Spanien aktuali­siert werden, und zwar mithilfe des Aufgreifens einiger Interpretationslinien der Pariser Commune in Kunst und Revolution.


Soziale Revolution

„Man stellt fest, dass ein bestimmter Revolutions­typ nicht möglich ist, aber gleichzeitig begreift man, dass ein anderer Revolutionstyp möglich wird und zwar nicht durch eine bestimmte Form des Klassenkampfes, sondern durch eine molekulare Revolution, die nicht nur die sozialen Klassen und Individuen in Bewegung setzt, sondern auch eine maschinische und eine semiotische Revolu­tion.“ (Guattari, Wunsch und Revolution, 69)

Was genau meinte Félix Guattari, als er 1977 im Gespräch mit dem jungen Medien-Aktivisten Franco Bifo Berardi darauf hinwies, dass gerade in der Unmöglichkeit eines bestimmten Typus der Revolution ein anderer Typus möglich wird? Wie ließe sich diese Differenz vierzig Jahre danach interpretieren und aktualisieren? Besteht die Möglichkeit jener anderen Form der Revolution nach wie vor? Wie können in den neuen Inwertsetzungen und Indienstnahmen des maschinischen Kapitalismus, unter Bedingungen verschärfter globaler Arbeitsteilung und wachsender politischer Repression, kolonialer Kontinuität und neokolonialer Ausbeutung, neue Formen des Zusammenlebens entstehen? Wie kann auch die Revolution erneut maschinisch werden, eine veritable molekulare Revolution?

Zunächst scheint in Guattaris Unterscheidung eine Kritik der Revolution durch, oder eines bestimmten Typus von Revolution, der sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert schon als großes und homogenisierendes Paradigma durchgesetzt hat. Es ist dies die linear-molare Perspektive auf die Revolution, die die verschiedenen­ Komponenten­ der revolutionären Maschine auf einer Zeitlinie anordnet,­ auf eine Periode des Widerstands als Höhepunkt den mehr oder weniger gewaltvollen Aufstand folgen lässt, der quasi naturgemäß auf die Übernahme des Staatsapparats hinausläuft. Die revolutionären Wunschströme begradigen sich in diesem Paradigma und beschränken sich auf die Fixierung auf einen einzigen „Köder“, den Staat. Die Vielfalt der revolutionären Maschinen reduziert sich auf das Ereignis des Aufstands, ihre räumlichen und zeitlichen Asymmetrien und Asynchronien büßen die ihnen eigenen viel gefalteten Dimensionen ein, die sozial-situierten Ökologien verlieren sich in den kanonisierten Parametern der klassischen Revolutionstheorien.

In den analytisch scheinbar fein trennbaren „zwei Typen von Revolution“ klingt damit auch ein Unterschied an, den bezeichnenderweise sowohl Marx als auch Bakunin in ihren Schriften zur Pariser Commune von 1871 entwickeln, jener zwischen „politischer“ und „sozialer Revolution“. Politische Revolution wäre das Projekt der Übernahme des Staatsapparats, der Übergang der Staatsmacht von einer herrschenden Klasse auf die andere, die Beschränkung der Revolution auf den Austausch des Personals und der Ideologie: die richtigen Leute an die Stelle der falschen zu setzen, die richtigen Inhalte an die Stelle der falschen, somit den Staat nicht völlig neu zu formen, sondern seine Form intakt zu halten, um ihn im Sinne der Revolution einzusetzen, den Staatsapparat damit als etwas Neutrales zu verstehen, das man nur gut und demokratisch bedienen muss.

In der Theorie werden die beiden Aspekte der Revolution, das Soziale und das Politische, nicht unbedingt gegeneinander oder ausschließlich gesetzt, eher als zwei Hälften der Revolution. Setzt sich allerdings die Logik der politischen Revolution durch, so neigt sie auch zur Verdrängung der sozialen Revolution, und wird damit nicht einfach nur eine halbe Revolution, sondern weit weniger als das: Wenn die politische Logik sich über die soziale Kooperation setzt, höhlt sie die sozialen Ökologien auf Dauer aus, stellt ihre Ströme still, lässt ihre Sorgepraxen austrocknen. Und selbst einer erfolgreichen Revolution, die sozialen und ökonomischen Aspekten genau so viel Augenmerk schenkt wie im engeren Sinn politischen, bleibt das Problem der Strukturalisierung, Staatsapparatisierung, Verschließung (in) der Institu­tion. So viele Revolutionen, gerade die „großen“ wie die Französische oder die Russische Revolution konnten diesem Terror der Strukturalisierung wenig entgegenhalten. Parteien der institutionalisierten Revolution, Apparate der Verschließung der Revolution in den Institutionen, Staatsapparate als Folterbänke sozialer Maschinen.

Während die politische Revolution darauf abzielt, die institutionellen Apparate zu übernehmen, spielt die Musik der sozialen Revolution zunächst auf einem ganz anderen Terrain, jenem, das wir mit Guattari maschinisch-sozial nennen können. Sie besteht in der Sammlung und Versammlung, Neuerfindung und Neuzusammensetzung der Sozialität jenseits des Staats und vor dem Staat. Soziale Kooperation, soziale Ökologie, sozial-­maschinische Umhüllung wird immer schon da gewesen sein, unterhalb des Radars der Apparate. Es geht darum, diese umhüllende Sozialität der sozialen Revolution zu stützen und auszuweiten und bis in die Staatsapparate hineinzutragen.

„Die Kommune war die entschiedene Negation jener Staatsmacht und darum der Beginn der sozialen Revolution­ des 19. Jahrhunderts“, schreibt Karl Marx in seinem noch im Lauf der Pariser Commune verfassten­ Text „Bürgerkrieg in Frankreich“. Und interessanter Weise kommt Bakunin dieser Beschreibung der revo­lu­tionären Commune erstaunlich nahe. Er versteht in seinen ebenfalls zeitnah geschriebenen Reflexionen unter dem Titel „Die Commune von Paris und der Staatsbegriff“ die soziale Revolution antagonistisch zur politischen Revolution und schreibt: „Im Gegenteil zu jener, meiner Ansicht nach, vollkommen falschen Idee der Sozialdemokraten, dass eine Diktatur (unumschränkte Herrschaft einzelner Menschen) oder eine konstituierende Versammlung (Parlament) – welche aus einer politischen Revolution hervorgegangen sind – die soziale Revolution durch Gesetze und Verordnungen aussprechen und organisieren kann, waren unsere Freunde, die revolutionären Sozialisten von Paris, überzeugt, dass dieselbe nur durch die selbständige und fortwährende Betätigung der Massen, der Gruppen und Vereinigungen des Volkes entstehen und sich voll entwickeln kann.“

Die Pariser Commune war kein plötzliches aufständisches Ereignis, aus dem Nichts entstanden, als spontane Füllung der Staatsmacht nach dem Auszug der nationalen Regierung Thiers nach Versailles. Sie war „entschiedene Negation jener Staatsmacht“, „fortwährende Betätigung der Massen“, soziale Revolution – eine persistente, instituierende, revolutionäre Maschine mit all ihren Komponenten des Widerstands, der Insurrektion und der konstituierenden Macht. Jahre vor dem Auszug der Regierung und der Bildung des Rats der Pariser Commune im März 1871 hatten Gegenmächte in Paris schon begonnen, sich zu konstituieren. In der Krise des Regimes von Napoleon III. verbreiteten sich im Laufe der zweiten Hälfte der 1860er Jahre soziale Unruhen, Streiks und neue Formen der Versammlung. Mit der auf Druck von unten erfolgten Gewährung der Presse- und Versammlungsfreiheit kam es ab Mitte 1868 zu mehreren Schüben der exponentiellen Zunahme von Versammlungen, bei denen sich die Pariser_innen an allen möglichen Orten trafen und begannen, eine Vielheit von Positionen in sehr unterschiedlichen Fragen zu entwickeln: Kritik des Eigentums, Höhe der Wohnungsmieten, „Frauenfrage“, Schaffung und Verwaltung von Volksküchen uvm. Die heterogene soziale Zusammensetzung der Treffen war aber nicht nur Grundlage für thematische Vielfalt. Hunderte Versammlungen mit bis zu tausend Teilnehmenden veränderten sukzessive den sozialen Zusammenhang in den Quartiers und transformierten Alltag und Lebensweisen in Paris in eine Ökologie der sozialen Revolution.

Zunächst ging es um die Möglichkeit und Ausbreitung dieser Auseinandersetzung in direkter Kommunikation der versammelten Körper, im subsistenziellen Territo­rium des Quartiers und in konkreten Versammlungsräumen. Zugleich gab es mit der Aufhebung der Zensur aber auch eine wilde Verbreitung von verschiedensten medialen Formen über die ganze Stadt hinweg: Zeitungen, politische Plakate, Anschläge, Verlautbarungen, Lithografien, öffentlich affichierte Karikaturen, Proklamationen, Verlautbarungen und Murales prägten den Stadtraum. Und in paradoxem Wechsel beschleunigten und verlangsamten, zerstreuten und versammelten sich die Klänge, Bilder, Körper und Wörter in ihren Bewegungen durch die Stadt. Diese Veränderung des Stadtraums durch eine enorme Ausbreitung neuer Versammlungsformen und Medien bestimmte die sozialen Umhüllungen neu und brachte neue soziale Ökologien hervor.

Im Jahr 2011 hat sich eine ähnliche Versammlungsbewegung in einem wesentlich größeren geopolitischen Raum ausgebreitet, vom arabischen Nordafrika über die US-amerikanische Occupy-Bewegung bis zu späteren Besetzungsbewegungen in Istanbul, Jerewan oder Hongkong. Die nachhaltigste Entwicklung der sozialen Ökologie fand jedoch in Spanien statt, in einem jener europäischen Länder, in denen die Krise die härtesten Effekte zeitigte. Auch wenn wir hier wieder bei einem europäischen Beispiel angelangt sind, werden bei näherer Betrachtung die vielfältigen außereuropäischen Einflüsse der Bewegung, die fälschlich als Indignados gebrandet wurde, klar: Nicht nur die unmittelbar davorliegende Erfindung von neuen Protestformen im Rahmen der „Arabischen Revolution“, sondern auch die diversen lateinamerikanischen Bewegungen, vor allem die zapatistische, wie auch die frühen Erfahrungen linker Regierungen um die Jahrtausendwende sind Ausschlag gebend für das, was seit 2011 in Spanien vor sich geht. Die gewaltlose In­sur­rektion des 15. Mai 2011 (15M) erfolgte als Mobilisierung vor allem der Jüngeren in fast allen Städten Spaniens, als direkte Folge der hauptsächlich digitalen Aufrufe von Democracia Real Ya! unter dem Slogan „Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine“. Aber aus den großen Demonstrationen wurde in den meisten Städten etwas unerwartet Nachhaltigeres: „Como en Tahrir, como en Tahrir!“ war einer der Sprechchöre auf der Puerta del Sol in Madrid. Und „wie auf dem Tahrir-Platz“ in Kairo blieben die Demonstrant_innen, besetzten den zentralen Platz ihrer Stadt, begannen die acampadas, und dasselbe geschah in vielen Städten Spaniens. Nicht für eine Nacht, nicht für eine Woche, auch nicht für ein Monat, sondern darüber hinaus, bis zu 90 Tage lang.

So war auch die 15M-Bewegung im Gegensatz zur Bedeutung ihres Namens nicht einfach das Ereignis eines Tages. Kein reiner Aufstand, sondern eine langfristige, nichtlineare Bewegung, mit sprunghaften Verbindungen und genealogischen Linien in alle Richtungen. Die drei Komponenten der revolutionären Maschine fanden gleichermaßen ihre Aktualisierung: Formen des Widerstands, die sich seit den 2000er Jahren vor allem in den Bewegungen gegen Prekarisierung (Euromayday) und Wohnungsnot (V de vivienda) verdichtet hatten und zur Wende des Jahrzehnts durch neue Einflüsse etwa der Universitätsbesetzungen oder der Jasminrevolution in Tunesien aufgefrischt wurden; das Ereignis 15M, das sich in eine Reihe der postnationalen Insurrektion und massenhaften Mobilisierung eingliederte, und schließlich vor allem die Vielfalt von Erfahrungen konstituierender Macht in den Besetzungen und Versammlungen der Wochen, Monate und Jahre darauf.

Die Versammlungen waren auch hier Orte der Invention. Sie konnten sehr lange dauern, und die Versammelten waren geduldig genug, diese Längen nicht nur auszuhalten, sondern produktiv zu wenden. Kollektive Moderation, andauernde Sorgearbeit, die Weiterentwicklung der spezifischen Zeichensprache und die Methodologie der radikalen Inklusion brachten für Hunderttausende die intensive Erfahrung von Selbstorganisation in der Mannigfaltigkeit. Und wo die Versammlungen trotz Geduld und neuer Methoden an ihre Grenzen stießen, setzten sich die sozialen Ökologien ins Technopolitische fort: Soziale Medien, hier vor allem in der Aneignung des Monopolisten Twitter für die politische Aktion, und andererseits, für experimentellere Aktivismen in der Erfindung einer Alternative zu Facebook, dem Netzwerk n-1.cc, das es in seiner besten Zeit immerhin auf über 40.000 Nutzer_innen brachte, ermöglichten eine Verschiebung von räumlichen und zeitlichen Koordinaten: Nicht einfach nur Medien oder Sphären der Information und des Meinungsaustausches, sondern reißende Mitten, in denen die Wünsche wirklich die Häuser verließen und auf die Straße gingen, und weiter in ein Territorium der Wunschproduktion zwischen dem, was früher einmal als real und virtuell unterschieden wurde. Ineinander Übergehen von Körpern und Maschinen, soziale Umhüllung durch technologische Gadgets, temporäre Architekturen und die sorgende Praxis der acampada.


Condividuelle Revolution der Sorge

Maskulinistische Konnotation von Revolution und Produktion einerseits, feminisierte Repräsentation der Revolution und Reproduktion andererseits, so setzt sich die ebenso weit verbreitete wie hartnäckige Dichotomie, die viele Diskurse der Revolution prägt. Doch in der Arbeit der revolutionären Maschinen löst sich solcherlei falsche Abstraktion schnell auf. Nicht weibliche Repräsentation oder Metapher dessen, was in männlichen Kämpfen ausgetragen wird: Die Revolution ist nicht weiblich, nicht männlich, sie wird Revolution. Sie wird als Revolution, sie wird zur Revolution, queer-maschinische Mannigfaltigkeit, molekulare Vielheit. So wie in der Pariser Commune, als die Frauen den städtischen Raum füllten, jenen entleerten Raum, jene Öffentlichkeit als Loch, entleert durch den Krieg, der um Paris tobte, entleert durch den Auszug der Regierung nach Versailles. Als die Frauen die Kanonen der Nationalgarde gegen die Regierungstruppen verteidigten, weil sie eben da waren, weil sie in aller Frühe die Straßen füllten, weil die Revolution sich dort ereignet, wo – wie Rosa Luxemburg über die Commune schreibt – die Herrschaft „von allen verlassen“ ist, „herrenlos“.

Von allen verlassene Herrschaft, Herrenlosigkeit: Urbane Räume, Straßen, Plätze, verlassene Verwaltungen und Regierungsgebäude, die anders besetzt werden konnten. Während die Frauen auch in der Commune aus der Sphäre der Politik der Repräsentation ausgeschlossen waren, ihnen aktives und passives Wahlrecht verweigert wurde, beteiligten sie sich vor allem daran, jene entleerten, herrenlosen Räume der Stadt in Räume der Sorge umzufunktionieren: nun nicht mehr nur privatisierte Räume sozialer Reproduktion, die als weibliches Terrain essenzialisiert und abgewertet werden, in denen Sorge die private Hilfeleistung von Individuen ist. Sorgepraxis bedeutete Produktion von Sozialität, die Commune war eine condividuelle Revolution der Sorge.

Ein wichtiger Erfolgsfaktor der acampadas des Sommers 2011 bestand darin, dass sich die Besetzungen und Versammlungen in den verschiedenen Städten zwar nach einem Monat, manchmal nach drei Monaten auflösten, aber damit nicht einfach verschwanden: Sie nahmen eine neue Form an, breiteten sich aus auf die verschiedenen Viertel der Stadt, zugleich in die Mareas, die in verschiedensten Bereichen von der Gesundheit bis zur Bildung konkrete Konzepte entwickelten. Unter dem Slogan #tomaslasplazas wurden Tausende von Versammlungen in den Barrios gegründet.

Schon 2009 war als Antwort auf die rigiden Effekte der Krise die Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH) gegründet worden: um mit Banken und Behörden­ zu verhandeln, um Räumungen aufzuhalten oder aktivistisch zu verhindern, um die Rolle der Banken anzugreifen und um schließlich auch die rechtliche Lage zu verändern. Doch die wichtigste Praxis der PAH bestand darin, einen Prozess des Austausches, der dividuellen gegenseitigen Ermächtigung und der condividuellen Sorge zu beginnen, wo Hunderttausende in Spanien durch die Krise in radikal individualisiertes Leid getrieben worden waren. Gegen diese ökonomische, soziale und psychopathologische Individualisierung der Kriseneffekte ließen die Aktivist_innen der PAH Territorien condividueller Sorge entstehen. In den Versammlungen und Aktionen der Plattform wurde die Sorge geteilt: Con-dividuelle Teilung als Überwindung der radikalen In-Dividualisierung, der Selbstbeschuldigung in der Verschuldung, der Angst vor Räumung und Verlust von subsistenziellen Territorien des Wohnens und Zusammenlebens.

Das queer-feministische Kollektiv Precarias a la deriva hat diese neuen Formen der Sorgepraxis schon in den frühen 2000er Jahren mit einem Begriff belegt, der durch eine minimale Umstellung von Buchstaben eine Abkehr von der Vorstellung souveräner individueller Bürgerschaft (ciudadanía, von spanisch ciudad für Stadt) hin zur cuidadanía (von spanisch cuidado für Sorge) vollzieht. Das unübersetzbare cuidadanía drückt vor allem die Vielheit der Sorgebeziehungen aus, die nicht von Individuen ausgeht und nicht individualisierend, sondern condividuell funktioniert, die nicht klientelistisch und top-down organisiert ist, aber auch nicht totalisierend und kommunitär. Die Condividualität der cuidadanía bedeutet nicht Aufteilung, nicht Aufgehen in der Gemeinschaft, sondern gemeinsames Sorgetragen ohne Aufgabe der Singularität.


Molekulare Revolution

Wenn nun Guattari im Ausgangszitat von einem anderen Typus der Revolution spricht, so belegt er diesen anderen Typus in seinen Texten der 1970er und 1980er Jahre vor allem mit dem Namen „molekulare Revolution“. Molekularität ist in vielen Dimensionen zu denken, keineswegs auf den Dualismus mikro-makro zu reduzieren. Das Molekulare impliziert in all diesen Dimensionen Vielheit, Mannigfaltigkeit, die vielen Moleküle, die sich nicht vereinheitlichen lassen, sondern in ihren Verkettungen ihre Einzigartigkeit bewahren. Molekulare Revolution wirkt aus den Fugen und in die Poren des Alltags, aus und in den Molekülen der Lebensweisen.

Wenn politische Revolution dazu tendiert, den Staat überzucodieren und damit die sozial-maschinische Umhüllung zu verdrängen oder aus dem Blick zu verlieren, lässt sich das nicht einfach umkehren als Vorwurf, soziale Maschinen würden das Politische, das Institutionelle, die Notwendigkeit politischer Organisation missachten. Es geht vielmehr darum, die Staatsform, die Form der institutionellen Apparate nicht als neutral zu verstehen, sondern als notwendigerweise veränderlich, Or­ga­ni­sa­tions­fragen nicht zu universalisieren, sondern immer situiert zu diskutieren. Das impliziert zunächst, bei der Frage der Regierung nicht nur den (National-)Staat in den Blick zu nehmen, die molare Dimension der Revolution, sondern möglichst nah an das zu kommen, was Marx die lokale „Selbstregierung der Produzenten“ genannt hat. Im Gefolge der Versammlungs- und Club-Bewegungen der Jahre 1868 bis 1870 wurde Ende 1870 auch in Paris der Ruf nach lokaler Autonomie immer stärker, und damit geriet das Terrain der Stadt und ­ihrer ­Verwaltung, das Munizipale immer stärker in den Blick. Angesichts einer konservativen nationalen Regierung und der ständigen Gefahr der Wiederetablierung der Monarchie lag es nahe, die Idee der Commune in den Städten zu erproben, vom Quartier ausgehend, auf die neuen Lebensweisen in den subsistenziellen Territo­rien aufbauend, die Regierung der Städte radikal neu zu denken. Das geschah 1870/71 nicht nur in Paris, sondern in einigen französischen Städten. Die molekulare Revolu­tion bedeutete in diesem Zusammenhang auch, eine Vielfalt von revolutionären Maschinen im jeweils überschaubaren Rahmen der Städte und Stadtteile zu instituieren.

Damit stellt sich aber, wie Guattari in Wunsch und Revolution sagt, auch „die Frage, in welchem Verhältnis die molekulare Revolution zu dem steht, was nicht molekular ist. In erster Linie geht es dabei um das Verhältnis zum Staat – der mehr oder weniger weiterfunktioniert, auch wenn er nicht mehr der Ort der Machtübernahme ist.“ Gerade wenn der Staatsapparat nicht als Orte der Machtübernahme verstanden wird, wird er in all seinen Größenordnungen zum relevanten Faktor, der neu gedacht werden muss. Zunächst in der Frage der Organisationsform der Bewegungen selbst, dann in der notwendigen Pluralisierung als „viele Staatsapparate“ (in Überwindung der Fixierung auf den Nationalstaat), dann in der radikalen Veränderung seiner Form. Das bedeutet heute auch, die oft unhinterfragten problematischen Faktoren der repräsentativen Demokratie in Frage zu stellen, die Repräsentation so weit wie möglich auszudehnen, den Staatsapparat orgisch werden zu lassen.

Mit den Europawahlen von 2014 war in Spanien eine neue linke Partei an die Öffentlichkeit getreten. ­Während Podemos sich auf die EU, dann mehr und mehr auf den nationalen Raum konzentrierte und die Parlamentswahlen von 2015 und 2016 fokussierte, bildeten sich seit Anfang 2015 Plattformen und confluencias, in denen sich die sozialen Bewegungen um 15M, PAH, die Mareas und Sozial-Zentren auf der Ebene der Städte und Stadtverwaltungen formierten. Mit Perspektive auf die Gemeindewahlen von Juni 2015 entstand eine spanienweite munizipalistische Bewegung von unten. Trotz verschiedener Namen (Barcelona en Comú, Ahora Madrid, Cádiz Si se Puede, Zaragoza en Común, Participa Sevilla, Málaga Ahora, etc.) und unterschiedlicher Zielsetzungen eint diese Plattformen ihr Bezug zu den Prinzipien und Methoden der 15M-Bewegung sowie einige andere gemeinsame Konzepte: die Frage der Verschuldung, die Remunizipalisierung bestimmter Dienstleistungen, eine Stadtplanung, die gegen Gentrifizierung und Touristifizierung der spanischen Städte vorgeht, die Garantie von sozialen Rechten, vor allem was Wohnen und Bildung betrifft, orgische Formen der Repräsentation und Molekularisierung des Staatsapparats. Das Verhältnis der munizipalistischen Bewegung zu den municipios lässt sich nicht als Subjekt-/Objektbeziehung beschreiben, als revolutionäres Subjekt, das sich seines Begehrensobjekts bemächtigt. Es geht nicht um die Übernahme der durch die Aushöhlung der repräsentativen Demokratie entleerten Gefäße, der korrupten Parteien, der Bürokratie. Vielmehr geht es um die Veränderung der institutionellen Form selbst, der Subjektivierungsweisen und der instituierenden Praxen, die nicht erst nach der Übernahme des Staatsapparats beginnt, sondern vor und jenseits linearer Entwicklungsvorstellungen.

Im Juni 2015 ereignete sich ein kaum erwarteter Wahlsieg der munizipalistischen Bewegung, in A Coruña, Barcelona, Madrid, Zaragoza, Cádiz und einigen anderen Städten konnten die confluencias die Regierung übernehmen. In Barcelona wurde mit Ada Colau eine zentrale Aktivistin der PAH zur Bürgermeisterin gewählt. Das wurde möglich, weil Barcelona en Comú 11 der 40 Mandate im Stadtparlament erhielt und damit zur größten Fraktion reüssierte. Doch schon vor diesen erstaunlichen Wahlerfolgen hatte sich eine neue Institutionalität entwickelt: Barcelona en Comú wollte die Gemeinde nicht einfach nach geschlagener Wahl im Juni 2015 übernehmen, als überzeitlich konstanten Container, dessen Inhalt übernommen oder auch ausgetauscht wird.

Neben vielen Versammlungen, mikropolitischen Praxen und unterschiedlichsten Aktionen hatte die Plattform mitten in der Wahlbewegung des Frühjahrs 2015 auch eine militante Untersuchung unter den Angestellten der munizipalen Verwaltung in Barcelona initiiert. Die Forschungsfragen betrafen die Machtverhältnisse unter ihnen, ihre Arbeitsverhältnisse, die Beziehungen der Angestellten zu den Bürger_innen sowie zu den gewählten Vertreter_innen und die politische Struktur der Gemeinde. Die Untersuchung ergab, dass im Gegensatz zum Bild vom abgesicherten Beamten die Transformationen des maschinischen Kapitalismus und die damit einhergehende Prekarisierung auch nicht vor der Arbeitsorganisation des Staatsapparats haltgemacht hatten.

Die Situation von allgemeiner Korruption und Prekarisierung zu transformieren, bedeutete zunächst zurückzukommen auf den spezifischen Intellekt, das „technische Wissen“ der Verwaltenden als Expert_innen: Diejenigen, die den Apparat kennen, die ­wissen, wie er ­funktioniert, haben auch eine besondere ­Kompetenz ­darin, ihn zu verändern. In der militanten Untersuchung formulierten die Teilnehmenden daher Dokumente, Protokolle und Positionen, die inhaltliche Grundlage für Veränderungen ihrer eigenen Tätigkeit und Institutionalität sein sollten. Der wichtigste Effekt der Untersuchung bestand im Zusammenfließen der Subjektivierungen, das genau zwischen identifizierbaren Akteur_innen wie Barcelona en Comú und „der Verwaltung“ in Gang gebracht wurde.

Hier liegt auch die Potenzialität des orgischen Staatsapparats in der molekularen Revolution. Um innerhalb der Municipalismos neue instituierende Praxen zu erfinden und zu erproben, braucht es kein ungestörtes Funktionieren des Apparats, auch wenn er im Dienst der Bürger_innen oder einer guten Sache zu handeln glaubt. Es braucht vielmehr revolutionäre Maschinen, die sich nicht in ihren Strukturen verschließen, sondern permanent Zusammenbrüche wie Durchbrüche, Verästelungen wie Zusammenflüsse produzieren. Die molekulare Revolution bewegt sich mit diesen revolutionären Maschinen, als soziale Umhüllung, Vielheit der Sorgebeziehungen, Wiederaneignung der Stadt.

Málaga, im Sommer 2017


http://transversal.at/books/kunstundrevolution