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09 2015

Europa und die Geflüchteten: die Erweiterung

Étienne Balibar

Aus dem Französischen von Birgit Mennel

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Während sich die Minister_innen der 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union am Montag, den 14. September 2015, in Brüssel nicht auf die Umsetzung des von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Plans einer Aufteilung einigen konnten (der selbst unzureichend ist angesichts des Rhythmus, in dem die vor allem aus Syrien stammenden Geflüchteten nun ankommen), ist wohl der Moment gekommen, um das historische Ereignis auszuloten, mit dem die „Gemeinschaft“ europäischer Staaten konfrontiert ist, und ebenso die Widersprüche, die dieses Ereignis zwischen ihnen und innerhalb eines jeden einzelnen von ihnen zutage fördert. Über ganz Europa breitet sich die Prognose, die Kanzlerin Angela Merkel für ihr Land formuliert hat: „Was wir jetzt erleben, wird unser Land verändern.“ Ich für meinen Teil würde sagen: es wird Europa verändern. Aber in welchem Sinn? Die Frage ist noch nicht entschieden, auch wenn es rasch dazu kommen kann. Wir betreten eine Zone, die von brutalen Fluktuationen geprägt ist und in der Hellsichtigkeit und Entschlusskraft gefragt sind.

Was sich derzeit ereignet, ist in Wirklichkeit eine Erweiterung der Union und der europäischen Konstruktion selbst. Doch im Unterschied zu früheren, von den Staaten gewollten oder akzeptierten „Erweiterungen“, die durch Verhandlungen vorbereitet und mit Verträgen besiegelt wurden, kommt die gegenwärtige Erweiterung durch Ereignisse im Rahmen eines „Ausnahmezustands“ zur Durchsetzung und erfolgt nicht einvernehmlich. Mehr noch als die bisherigen Erweiterungen wird sie daher auf Schwierigkeiten stoßen und zu politischen Auseinandersetzungen führen, deren Ausgang keineswegs feststeht. Vor allem aber ist diese Erweiterung paradox, weil sie nicht territorial ist (auch wenn sie territoriale Implikationen mit sich führt), sondern demografisch: was derzeit „Europa beitritt“ (und großenteils „integriert“ werden soll), das sind nicht neue Staaten, sondern Männer, Frauen und Kinder. Es sind virtuelle europäische Bürger_innen. Indem diese Erweiterung zentral Menschen betrifft, ist sie auch eine moralische Erweiterung: eine Erweiterung der „Definition“ Europas, die die Idee, die es sich von sich selbst macht, ebenso angeht wie die Interessen, die es verteidigt, und die Ziele, die es sich setzt. In ihren Zusammenhang werden uns all diese Dimensionen zum Begriff einer politischen Erweiterung führen, welche die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten „revolutionieren“ wird. Diese Erweiterung kann selbstverständlich scheitern, doch die europäische Konstruktion selbst wird sich ihr kaum widersetzen können (und vor allem werden manche der früheren Erweiterungen rückgängig gemacht werden). Aus diesem Grund sprechen viele in Europa (auch innerhalb seiner politischen Klasse) heute von einem Wahrheitsbeweis.

Es ist offensichtlich, dass die materielle und moralische Situation, die durch den Zustrom von Geflüchteten von der Türkei, Griechenland, Mazedonien, Italien über Ungarn, Österreich, Frankreich in Richtung der Länder Mittel- und Nordeuropas (besonders Deutschland und Schweden, die derzeit die größte Aufnahmebereitschaft zeigen) geschaffen wird, eine „Ausnahme“-Situation ist. Aber warum von einem Ausnahmezustand sprechen und damit einen mit furchterregenden rechtlichen und politischen Bedeutungen aufgeladenen Begriff ins Treffen führen, der Momente des Wankens jeglichen institutionellen Rahmenwerks des sozialen Lebens, Momente der Erzitterung der kollektiven Identität der Bevölkerungen heraufbeschwört? Ich werde zumindest drei Gründe anführen.

Der erste Grund liegt darin, dass ein wesentlicher Teil der europäischen „Verfassung“ (einer ihrer „Eckpfeiler“) nicht mehr funktioniert: die Schengen-Übereinkommen, die durch die Dublin-Verordnungen (I, II und III) vervollständigt wurden. Die Aussetzung dieser Bestimmungen wurde zur Gewissheit, als die deutsche Regierung erklärte, es werde die auf das Ankunftsland in der Schengen-Zone beschränkende Zulassungsregel nicht auf die syrischen Geflüchteten anwenden. Die Entscheidung vom 13. September, die Grenze zu Österreich erneut zu schließen, weil die Aufnahmekapazitäten Deutschlands erschöpft seien und die anderen europäischen Länder (die sich prinzipiell weigern, ihren Teil der Last zu übernehmen oder diese nur in Worten und auf lange Sicht akzeptieren) keinen guten Willen zeigten, ändert daran nichts, ganz im Gegenteil. Sie zeigt vielmehr, dass die Öffnung und Schließung der „inneren“ Grenzen Europas von willkürlichen Entscheidungen der Staaten abhängt und dass die Bewegungsfreiheit ausgesetzt ist.

Der zweite Grund ist, dass Europas „Migrationsproblem“ aufs Engste mit dem Kriegszustand im Mittleren Osten verknüpft ist, der sich von Afghanistan bis nach Nordafrika erstreckt (mit seinem Epizentrum in Syrien und im Irak) und die hauptsächliche Quelle des Zustroms von Geflüchteten bildet. Nun handelt es sich dabei um einen flächendeckenden Bürgerkrieg, der durch Interventionen von außen zum Teil hervorgerufen und immer weiter verschärft wurde, und um eine in unserer Weltgegend seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellose Grausamkeit und Zerstörungsfähigkeit, die eine eigene Dynamik angenommen hat. Dieser Krieg wird nicht von heute auf morgen zu beenden sein (schon gar nicht durch jene „Schläge“, zu denen die USA und in bescheidenerem Ausmaß Frankreich und Großbritannien ausholen). Die Zahl der Opfer und Flüchtenden wird also weiter ansteigen. Der Exodus konzentriert sich momentan auf die „Puffer“-Länder (Türkei, Jordanien, Libanon, Tunesien), doch er hat über sie hinauszugehen begonnen und droht sie explodieren zu lassen. Der von dieser Kriegsansteckung betroffene Raum umfasst auch Europa (einschließlich der Risiken einer Ausbreitung des Terrorismus und ihren imaginär wie real unvermeidlichen Überlagerungen mit dem "Polizieren" der Migrationsbewegungen).

Und schließlich kann von einem Ausnahmezustand auch deshalb gesprochen werden, weil sich durch die Migrationskrise – mehr noch als durch andere wichtige ideologische und politische Konfliktfaktoren in Europa (wie etwa die Austeritätspolitiken) – ein Bruch bezüglich der konstitutiven Werte des demokratischen Staates abzeichnet, durch den Europa letztlich mit sich selbst konfrontiert wird, und zwar auf eine Art und Weise, die zumindest in manchen Ländern gewaltsame Formen annehmen kann. – Alle diese Aspekte sind selbstverständlich miteinander verbunden.

Schieben wir hier einige Anmerkungen ein, die das Handeln der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel seit dem Ausbruch der Krise Ende August betreffen. Sie spielte wahrscheinlich eine entscheidende Rolle in der Definition des politischen Charakters dieser Krise. Tatsächlich war es Merkel, die im Versuch die Kontrolle zu bewahren (die ihr möglicherweise gerade entgleitet) den Ausnahmezustand erklärte, indem sie „unilaterale“ Maßnahmen ergriff. Und vor allem war sie es, die – durch die Aufnahme einer immensen Völkerwanderung* von Kriegs- und Verfolgungsopfern – zu seinem Einsatz eine neue Grundlegung unserer Rechtsstaaten machte sowie eine Konfrontation, die jegliche „Toleranz“ gegenüber xenophoben und rassistischen Strömungen ausschließt. Diejenigen (und ich bin einer von ihnen), die die Art und Weise absolut missbilligen, wie die Kanzlerin Merkel von Deutschland aus das Steuer übernahm, um ganz Europa Austeritätspolitiken aufzuzwingen – und vor allem Griechenland zu demütigen und zu enteignen –, müssen heute den Wert ihres Handelns anerkennen und das aussprechen. Ihr Handeln ist ein Beweis dafür, dass sich die Komplexität der politischen Realitäten nicht durch die Brille der Ideologie lesen lässt. Selbstverständlich handelte Merkel nicht alleine: Sie hat den Elan zur Solidarität verstanden, den ein bedeutender Teil der deutschen Gesellschaft zeigte (und damit das Risiko auf sich genommen, einem anderen Teil die Stirn zu bieten, der sich jetzt Gehör zu schaffen beginnt). Man kann unterstellen, und das tun einige, dass sie den recht verstandenen Interessen der deutschen Wirtschaft und deren Bedarf an demografischem Zuwachs und qualifizierten Arbeitskräften (reichlich vorhanden unter den Geflüchteten) folgte, indem sie gegen die xenophoben Vorurteile vorging und sich des Vorteils entsann, den ihr Land einst aus den Beiträgen anderer Geflüchteter gezogen hatte. Man kann sich sogar vorstellen, dass „Merkiavelli“ (wie sie der Soziologe Ulrich Beck nannte) eine Gelegenheit sah, die es zu ergreifen galt, um das Image der Unmenschlichkeit gerade zu rücken, das ihr die „Regelung“ der griechischen Krise eingebracht hatte. All diese Erklärungen greifen jedoch zu kurz, und vor allem erfassen sie nicht den objektiven Effekt der Entscheidung Merkels, welche die Rahmenbedingungen des „Verfassungsproblems“ in Europa verändert und den latenten Konflikt um die europäische „Identität“ zuspitzt, und zwar hinsichtlich der sozialen Ordnung wie auch unter kulturellen Gesichtspunkten. Es ist möglich (ich bezweifle das), dass Merkel als „bewusst“ Handelnde nicht sofort verstanden hat, wohin sie ihr Engagement führt (und uns mit ihr): entscheidend ist, dass sie einen Punkt überschritten hat, an dem es kein Zurück mehr gibt, dessen Konsequenzen es nun zu tragen und dessen Bedeutung es zu verteidigen gilt. Hic Rhodus, hic salta.

Ich werde vier Ordnungen von gravierenden Konsequenzen anführen. Die ersten betreffen die Verwaltung der Grenzen Europas, aber auch ihren Verlauf und ihre Beziehung zur nationalen Souveränität. Das Schengen-Übereinkommen stützte sich auf die faule Annahme, dass die Funktion der Überwachung von Ein- und Ausreisen im Gemeinschaftsraum „vergemeinschaftet“ werden kann, während die Staaten zugleich in Fragen der Sicherheit oder des Schutzes weiterhin als souverän galten und für die auf ihrem „eigenen“ Territorium befindlichen Individuen in der Verantwortung gehalten blieben. Daher die katastrophale Situation, der sich Italien, Griechenland oder sogar Ungarn stellen müssen, während die anderen europäischen Staaten, beherrscht von einem geheiligten Egoismus, den Blick abwenden oder sich verbarrikadieren. Andererseits hatte die Europäische Union durch ihre selektiven „Erweiterungen“ auch versucht, zum einen die Idee aufrechtzuerhalten, sie sei dazu berufen, sich alle europäischen Nationen einzuverleiben (zumindest westlich einer bestimmten „Zivilisationslinie“, deren Brüchigkeit am ukrainischen Krieg deutlich sichtbar wird), und zum anderen die Idee zu propagieren, die Mitgliedschaft zu ihr gehe mit „Beitrittsbedingungen“ einher, deren (mehr oder weniger strenge …) Einhaltung durchgesetzt werden müsse. Daher die anachronistische Enklavensituation, in der sich heute manche Länder des ehemaligen Jugoslawien (wie Serbien und Mazedonien) befinden, die den Druck der Bewegung der Geflüchteten mit voller Wucht spüren und „Eingangstore“ ins Herz Europas sind. Diese Situation ist sicherheitspolitisch wie auch humanitär untragbar: Entweder müssen die Balkanländer in dieses Europa als vollberechtigte Partner und Unterstützungsempfänger integriert werden, oder Europa schafft die gemeinschaftlichen Sicherheitsprozeduren ab, zu einem Zeitpunkt, in dem sie gleichwohl zu einer zentralen Herausforderung seiner „Regierung“ werden.

Allgemeiner gesprochen aber wird sich zeigen (wie ich schon anderorts argumentiert habe), dass Europa keine Grenzen im klassischen Sinn „hat“: Es hat weder Grenzen, die ihm eigen wären, noch auch die Grenzen, die diejenigen der Nationen wären, aus denen es sich zusammensetzt. Vielmehr ist es selbst eine „Grenze“ neuen Typs, wie er für die Globalisierung charakteristisch ist, ein borderland* bzw. ein Komplex aus Sicherheitsinstitutionen und -dispositiven, die sich über sein ganzes Territorium ausbreiten, um Bevölkerungsbewegungen (vor allem zwischen dem „Norden“ und dem „Süden“) auf eine Art und Weise zu „regulieren“, die mehr oder weniger diskriminierend, d. h. mehr oder weniger gewaltsam, mehr oder weniger demokratisch festgelegt und kontrolliert sein kann.[1]

Daraus ergibt sich die zweite Reihe von Konsequenzen: Sie betreffen die Migrationsregime, die Europa zu begrenzen, aber vor allem rechtlich und politisch zu bestimmen versucht, indem es alles tut, um nicht als „Einwanderungskontinent“ zu erscheinen – was zugleich eine (negative) Form der Selbstdefinition ist. Ich werde hier die, gleichwohl bedeutsame, Kontroverse beiseite lassen, die der Fernsehsender Al Jazeera durch seine Entscheidung ausgelöst hat, die Verwendung des Begriffs „Migrant_in“ zu untersagen.[2] In der gegenwärtigen Polemik über die Etablierung von „Quoten“ zur Aufteilung der Geflüchteten in Europa halten Deutschland und die Europäische Kommission mit all ihren Kräften an der Unterscheidung zwischen „Geflüchteten“ und „Wirtschaftsmigrant_innen“ fest. Sie tun das, um die Öffentlichkeit (die gegenüber Ersteren wohlwollend, gegenüber Zweiteren aber mehrheitlich feindselig eingestellt ist) für sich zu gewinnen und zugleich im administrativen Umgang mit den Ankommenden eine Differenz aufrechtzuerhalten, zumal andernfalls nur noch die Abschaffung der Grenzen zu verlautbaren bleibe („Tür und Tor öffnen“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung).[3]

Ich will für meinen Teil nicht sagen, dass diese Unterscheidung keinerlei Sinn macht, auch wenn erstere Kategorie einen internationalen Rechtsstatus definiert (weshalb viele Vereine zur Unterstützung von Geflüchteten an ihr festhalten), was bei zweiterer ganz und gar nicht der Fall ist.[4] Es gibt keinen „Status Migrant_in“ in der Welt von heute, nur eine „biopolitische“ Behandlung, wie Foucault sagen würde. In der gegenwärtigen Situation sieht man jedoch sehr gut, dass die Differenz soziologisch willkürlich ist, da die „wilde“ Globalisierung die Verarmungszonen tendenziell in Kriegszonen verwandelt und umgekehrt. Es sind überdeterminierte Todeszonen, deren Bewohner_innen massenhaft die Flucht ergreifen, auf die Gefahr hin, dass sie alles verlieren. Und vor allem stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln – wenn nicht mit Gewalt im großen Stil – die Europäische Union eine Politik der „Rücküberstellung“ der unerwünschten Ankommenden durchsetzen will, die von einer „Aufnahme“ ausgeschlossen bleiben. Was auf individueller Ebene schon seit Jahrzehnten nicht funktioniert hat, hat nicht die geringste Chance, in massenhaftem Maßstab zu funktionieren. Oder aber die als „Wirtschaftsmigrant_innen“ Zurückgeschickten fallen Netzwerken von Konzentrationslagern anheim, die aus ihnen letztlich „Geflüchtete“ machen. Eine weitere perverse Mechanik des Ausnahmezustands.

Welche andere Perspektive, denn als „unerwünschte“ Geflüchtete oder Migrant_innen von Grenze zu Grenze oder von Lager zu Lager geschoben zu werden, öffnet sich also denjenigen, die durch Krieg oder Elend in Richtung Europa gejagt werden und denen es unter Lebensgefahr gelingt, dort anzukommen (während viele ihrer Angehörigen zurückbleiben)? Welche Perspektive soll Europa ihnen bieten? Es kann nur die eines Zugangs zur europäischen Bürger_innenschaft sein. Die Idee einer solchen Bürger_innenschaft muss also endlich konkrete Gestalt annehmen bzw. aus jenem Schwebezustand heraustreten, in dem sie durch die Weigerung der Staaten gehalten wird, den Weg zur „Supranationalität“ freizugeben. Wenn ich am Anfang dieses Artikels geschrieben habe, dass wir einer demografischen Erweiterung der Europäischen Union beiwohnen, so wollte ich damit auf diese Perspektive hinweisen. Es handelt sich um eine geregelte und normalisierte Perspektive, aber sie ist unumgänglich. Alle wissen, dass Geflüchtete derzeit nicht ankommen, um wieder zu gehen: jedenfalls nicht alle und nicht in absehbarer Zeit. Wenn nicht eine neue Bevölkerung von Deklassierten geschaffen werden soll, die allen Arten von Verfolgung und den Devianzerscheinungen der Marginalität ausgesetzt bleibt (denken wir an die Roma und an die „Klandestinen“), oder aber eine Bevölkerung von Fremden, die für mehrere Generationen ins innere Exil abgedrängt werden (denken wir an die palästinensischen Lager im Nahen Osten), dann muss die Tür zur möglichen Integration weit geöffnet werden, das heißt der Zugang zu Arbeit sowie zu gleichen sozialen und kulturellen Rechten geschaffen werden. Der Schlüssel zu all diesen Rechten und ihrem „rechtmäßigen“ Besitz aber – gegenüber und entgegen den rassistischen Stigmatisierungen – ist die Bürger_innenschaft (oder Mitbürger_innenschaft, wie ich andernorts gesagt habe).[5] Weil das Problem in diesem Maßstab und unter dieser Art von Umständen neu ist (und nicht gleichgesetzt werden kann mit dem der Vertriebenen* des Zweiten Weltkriegs, der ungarischen Geflüchteten nach 1956, der franko-algerischen „pieds-noirs“ nach 1962, etc.), müssen neue, wirklich europäische Modalitäten und Perspektiven eines Zugangs zur Bürger_innenschaft erfunden werden, die auch deren Definition verändern. Im Idealfall sehe ich zwei Perspektiven: Die erste bestünde darin, neben dem Zugang zur europäischen Bürger_innenschaft über die nationale Bürger_innenschaft, wie er heute existiert (man ist „europäische Bürger_in“, weil man französische, deutsche, polnische, griechische etc. Bürger_in ist), einen unmittelbaren Zugang im Rahmen einer „föderalen Nationalität“ zu schaffen. So etwas hat (allerdings auf der Grundlage persönlicher Entscheidung) in föderalen Staaten wie etwa in Ex-Jugoslawien existiert. Sollte dieser Vorschlag als zu subversiv oder zu riskant erscheinen (weil er auch dazu beitragen kann, dass Geflüchtete und ihre Nachkommen weiterhin auffällig erscheinen, solange die „Eintrittskarte“ zur europäischen Bürger_innenschaft für die meisten von uns die Nationalität bleibt), dann gibt es noch immer eine andere, wahrscheinlich bessere Möglichkeit: die Verallgemeinerung des „ius soli“ in der gesamten Europäischen Union durch eine von den Mitgliedstaaten umzusetzende Richtlinie (nach dem Vorbild dessen, was in Griechenland kürzlich beschlossen wurde).[6]

Auf diese Weise würde Europa den Kindern der Geflüchteten eine Zukunft garantieren, und bekanntermaßen bildet diese Perspektive einen der mächtigsten Integrationsfaktoren für die Eltern selbst. Sie ist Teil von „Würde“ und „Sicherheit“. Es wäre natürlich angebracht, sie mit einer allgemeinen Anerkennung doppelter Staatsbürgerschaften zu kombinieren, denn den Geflüchteten Integration anzubieten impliziert nicht (außer in den Obsessionen militanter Xenophober), dass man ihnen den Bruch mit ihrer Geschichte und ihrem Herkunftsland abverlangt, selbst wenn sie aus diesen unter traumatischen Umständen herausgerissen wurden.

Schließlich bringt die „unilaterale“ Entscheidung Deutschlands zur Aufnahme der Geflüchteten – durch die der Ausnahmezustand geschaffen wurde, der uns einer „demografischen“ Erweiterung entgegenführt – für ganz Europa eine vierte Ordnung von „Konsequenzen“ mit sich: nämlich strukturelle ökonomische Konsequenzen. Man pocht auf die Perspektiven einer Veränderung des Arbeitsmarkts, und diese sind zweifellos wichtig, aber man beginnt auch über die Kosten der Aufnahme und Integration der Geflüchteten zu reden, über die Kosten der Unterstützungsleistungen durch die Gemeinschaft, die notwendig sind, damit gewisse europäische Länder die mit Bergung, Registrierung und Transfer verbundenen Lasten tragen können (insbesondere Griechenland, Italien und ganz allgemein die Länder des mediterranen Südens, die nicht die reichsten sind bzw. die am meisten unter den Austeritätspolitiken leiden), sowie über die Subventionen, die den logischen Gegenpart zum Zwang der „Aufnahmequoten“ darstellen (weshalb ebenfalls logischerweise Ungarn, das die Quoten energisch ablehnt, auch keine Subventionen will – wohl aber den Rettungsfonds akzeptiert).

In Wirklichkeit bedeutet Europas Öffnung für Geflüchtete kurzfristig eine dem aktuellen „Regime“ widersprechende Veränderung der Doktrin und Wirtschaftspolitik. In absoluten Zahlen machen die Geflüchteten nur einen minimalen Teil der europäischen Bevölkerung aus (das Äquivalent einer sehr kleinen weiteren Nation). Doch es fehlt ihnen an allem und sie werden noch lange eine Belastung für so manche Gemeinden, Regionen und Länder bilden, die darauf nicht vorbereitet sind oder selbst vor wirklichen ökonomischen und finanziellen Schwierigkeiten stehen. Man will die gemeinsame Last gleichmäßig (bzw. gerecht) auf Länder verteilen, die von den Politiken der Austerität und eines „unverfälschten“ Wettbewerbs in die Ungleichheit gedrängt wurden. Die neoliberale Tendenz muss folglich umgekehrt werden, das Budget der EU muss signifikant erhöht werden (mit gemeinsamen Lasten und einem gemeinsamem Budget), es braucht einen Integrations-„Plan“ in europäischem Maßstab (Unterkunft, Bildung, Arbeitsmöglichkeiten), die Solidarität zwischen den Staaten muss vorangetrieben und es muss gemeinsam eine neue Gesellschaft geschaffen werden – wobei besonders darauf zu achten ist, dass die Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt sich nicht nachteilig auf die „alten Europäer_innen“ auswirkt oder umgekehrt (ein sicheres Rezept für Xenophobie und soziale Unruhen). Aber diese Planung oder schlicht Organisierung der Aufgabenteilung wird ihrerseits Veränderungen in der Geldpolitik und Fortschritte in der „föderalen“ Konstruktion erforderlich machen, sei es durch demokratische Entscheidungen und Umsetzungen (was ihnen eine Erfolgschance lässt) oder durch technokratisch auferlegte Zwänge (was sicher zum Scheitern führt). Man wird zu verstehen beginnen, dass Europa, um die Aufgabe zu erfüllen, die ihm plötzlich zukommt, ein anderes Europa werden muss, ein Europa, das sich „transformiert“, ja seine politische Form ändert.

Selbstverständlich wird nichts von alledem spontan oder einhellig geschehen können. Der migrationsbedingte Ausnahmezustand lässt vor unseren Augen die innereuropäischen Widersprüche aufbrechen, die von der Ideologie eines „gemeinsamen Interesses“ und „gemeinsamer Normen“ mehr schlecht als recht verdeckt wurden. Und die Perspektive der neuen Erweiterung löst gewaltvolle Widerstände aus, die sich Stunde um Stunde in eine politisch organisierte „Quelle der Verweigerung“ verwandeln. Der Punkt, der am meisten erörtert wird – aufgrund der durch ihn hervorgerufenen Blockade im „gemischten“ europäischen Regierungssystem, das sich auf eine pseudoföderale Form mit (zumindest scheinbar) weitreichenden Rechten der Kommission und eine konföderale Form mit dem Regierungsrat als Entscheidungsinstanz und einem Vetorecht selbst für die kleinsten Staaten aufteilt – ist der Graben, der zwischen dem „alten Europa“ (im Westen) und dem „neuen Europa“ (im Osten) entstanden ist (oder sich offenbart hat): Alle Arten von ökonomischen, kulturellen, historischen, politischen Erklärungen wurden diesbezüglich aufgeboten, die auf der jeweiligen Ebene eine bestimmte Gültigkeit haben.[7] Aber es ist eine Tatsache, dass die „Verweigerung“ aus den Niederlanden oder Dänemark ebenso kommt wie aus Polen oder der Slowakei, ganz zu schweigen von England oder sogar Frankreich, das sich erst spät der Idee zwingender Quoten anschloss und dabei die Verpflichtungen zu minimieren versuchte. Die aufschlussreichste Kluft, jene Kluft, die tatsächlich zwei „Europas“ oder zwei Politiken für Europa voneinander trennt, durchzieht in Wirklichkeit alle Länder, wenn auch in unterschiedlichen Proportionen und Kräfteverhältnissen. Es ist sicher bemerkenswert („wundersam“, wie manche Zeitungen sagen)[8], dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung in signifikanter Übereinstimmung mit der Entscheidung der Kanzlerin die syrischen Geflüchteten zu unterstützen bereit ist. Aber genauso signifikant ist es, dass die Chefs der CSU – Eckpfeiler der Regierungskoalition und „Schwesterpartei“ der von Merkel angeführten CDU – sich offen von Merkels Politik entsolidarisiert haben und dabei sogar eine Allianz mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orban eingegangen sind, der an der Südgrenze Ungarns Betonbarrieren und Stacheldrahtzäune errichten ließ; sowie dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein Editorial publizierte, in dem sie verkündete, dass „Osteuropa Recht hat“.[9] Seit der „provisorischen“ Schließung der Grenze zu Österreich gratulieren sich dieselben Akteure offen zu einem „beispiellosen Rückzieher“ der Kanzlerin, sofern sie nicht so weit gehen, explizit ihren Rücktritt herbeizuwünschen. In Wirklichkeit ist das, was in Europa gerade entsteht, eine transnationale Front der Ablehnung der Geflüchteten; die offen rassistischen und gewalttätigen Gruppen bilden dabei nur die äußerste Speerspitze und die Argumentation schwankt zwischen Utilitarismus („wir haben keinen Platz“), identitärer Ideologie (ein Zustrom von Muslim_innen droht das je nach Land christliche oder laizistische Europa zu denaturieren) und Sicherheitsideologie (unter ihnen verstecken sich Dschihadist_innen). Vermutlich erleben wir zum ersten Mal etwas, das Rivalitäten und Nationalismen bislang immer zum Scheitern gebracht haben: die Entstehung einer geeinten xenophoben „Partei“ in Europa, die gegen Immigrant_innen und Geflüchtete ist. Infolgedessen wird sich das Europa der Solidarität einen entschiedenen und auf neue Allianzen gegründeten politischen Kampf wohl nicht ersparen können: einen Kampf, der mit der kompromisslosen Verurteilung von Gewalt gegenüber Migrant_innen beginnt und der sich fortsetzt in der Forderung nach Aufnahmebedingungen, wie ich sie oben angesprochen habe. Dieser Kampf, wenn er denn wirklich geführt wird, wird die Europäische Union tiefgreifend „transformieren“. Aber er ist nicht von vornherein schon gewonnen, um nur das Wenigste zu sagen. Von Frankreich aus betrachtet, wo der Front National das gesamte politische Leben vergiftet hat, kann man sogar sagen, dass er nur sehr schwer zu gewinnen sein wird. Er ist indessen unumgänglich, denn die „Sache der Geflüchteten“ wird, sofern sie in der Öffentlichkeit und in den Institutionen nicht vorankommt, sehr rasch und äußerst brutal wieder in den Hintergrund treten.

Ein solcher Kampf braucht also eine starke Legitimität: in jedem Land und in der ganzen Union. Letztendlich ist jedoch allein direkte demokratische Legitimität in der Lage, die Widerstände zu entkräften und zu neutralisieren. Unter diesem Gesichtspunkt ist es erstaunlich, dass das Europäische Parlament noch nicht beschlossen hat, sich der Frage der „Geflüchteten“ und der „europäischen Migrationsherausforderung“ anzunehmen, und dass sie auch von den Staats- und Regierungschefs oder von der Kommission noch nicht in Angriff genommen wurde. So wenig, dass man sich fragen muss, ob diese Instanzen sich wirklich die Mittel an die Hand geben wollen, um die Politik zu gestalten, die sie vorschreiben. Man kann sich nämlich wohl sicher sein, dass eine Debatte im Europäischen Parlament den dort vertretenen xenophoben Kräften eine Gelegenheit böte, sich zu äußern, sich zusammenzuschließen und ihren Einfluss auch jenseits der extremen Rechten auszumessen. Und ebenso sicher ist, dass eine solche Debatte mit einer Kakophonie beginnen würde, wenn nicht sogar mit einer Abrechnung zwischen den Parteien und Ländern … Aber sie böte auch dem Europa der Solidarität und seinen Anführer_innen die Gelegenheit, die Unterstützung durch die Öffentlichkeit auf eine politische Ebene zu übertragen, die notwendigen Demarkationslinien zu ziehen und die Willenseinigkeit der europäischen Bevölkerungen bezüglich der Gestaltung der Zukunft zu proklamieren. Und um ein letztes Mal auf den „deutschen“ (oder vielmehr euro-deutschen) Aspekt der gegenwärtigen Frage zurückzukommen, sei hinzugefügt, dass nur diese demokratische Legitimierung Deutschland den Übergang von der unilateralen Initiative – die von den Umständen aufgezwungen und durch die ihm eigene „Moral“[10] begünstigt wurde – zur gemeinschaftlichen Solidarität ermöglichen kann, ohne die es, trotz seines Reichtums und seiner Entschlossenheit, „es nicht schaffen“ können wird („Wir schaffen es doch nicht!“). Es ist bemerkenswert (und in Wahrheit historisch entscheidend), dass Deutschland zum ersten Mal seit seiner Wiedervereinigung in den 1990er-Jahren wieder andere europäische Länder braucht, denen es nichts „diktieren“ kann: dieses Mal aber braucht es sie nicht nur für sich selbst, sondern im Interesse aller. Das ist eines der Merkmale des Ausnahmecharakters des „europäischen Moments“, den wir gerade erleben.

 


[1] Etienne Balibar: „L’Europe-frontière et le ‚défi migratoire‘“, Vacarme, Oktober 2015 (für eine englische Version vgl.: ders., „Borderland Europe and the Challenge of Migration“,  https://www.opendemocracy.net/can-europe-make-it/etienne-balibar/borderland-europe-and-challenge-of-migration).

[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.09.2015.

[4] Danièle Lochak, http://bondyblog.liberation.fr/201506100001/daniele-lochak-il-faut-supprimer-le-dispositif-dublin-mais-il-faut-surtout-supprimer-frontex/#.Vfbt8pcYF2A.

[5] E. Balibar, „Untertanen oder Staatsbürger?“ (1984), neu herausgegeben in: Ders., Die Grenzen der Demokratie, übers. v. Thomas Laugstien, Hamburg: Argument 1993.

[6] 19 von 33 europäischen Staaten haben heute das ius soli umgesetzt: http://eudo-citizenship.eu/docs/ius-soli-policy-brief.pdf.

[7] Vgl. zum Beispiel Jacques Rupnik : „Migrants : L’autre Europe face à ses contradictions“, in: Le Monde 02.09.2015.

[8] Vgl. Josef Joffe, „Das deutsche Wunder“, in: Die Zeit, Nr. 37, 12.09.2015.

[9] Vgl. Karl-Peter Schwartz, „EU-Flüchtlingspolitik: Osteuropa hat recht“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.09.2015.