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11 2006

Nicht ganz nacktes Leben: Ruinen der Repräsentation

Suzana Milevska

Übersetzt von Hito Steyerl

Die Hauptfrage meines Vortrags zielt auf die Implikationen politischer Repräsentationsregimes für den kulturellen Bereich und darauf, wie die visuelle Repräsentation, die einmal aus dem Politischen entsprang, wieder zurückübersetzt wird, nachdem sie durch das Prisma des Kulturellen verändert wurde. Ich befasse mich vor allem mit dem verwickelten Prozess der Anknüpfung gegenseitiger Beziehungen zwischen politischer und der visueller Repräsentation, da ich es für notwendig halte, den Ablauf dieser Prozesse offen zu legen. Ich möchte zeigen, dass die kulturelle Übersetzung politischer Repräsentationsregimes in Bilder genau deswegen stattfindet, um die Vektoren verschiedener Machtverhältnisse zu vermengen und unscharf zu machen. Ich werde auch das Thema der „Partizipation“ in der Kunst beleuchten und die Arten reflektieren, in denen die politische Forderung nach der Durchsetzung einer stärkeren Beteilung von Communities an Kunstprojekten eine Reihe kultureller Phänomene erzeugte und beeinflusste.

Ich finde es besonders wichtig, diese Themen in der fragilen Landschaft multikultureller Umgebungen und Kontexte zu verorten, und mein Beispiel kommt vom Balkan. Ich möchte die Tatsache betonen, dass die visuelle Repräsentation in solchen Umgebungen bestimmte, unerwartet heftige Unterbrechungen in der zeitgenössischen demokratischen Politik, in der Justiz und im Recht bewirken kann. Daher dreht sich mein Text um verschiedene Interpretationen des kürzlich herausgekommenen Films „Šutka Book of Records“ (2005) von Aleksandar Manić. Die Art, wie Roma in diesem Film repräsentiert werden, ist aus mehreren Gründen fragwürdig.

Es gibt in dem Film ungefähr 17 zentrale Geschichten, in denen die aufgenommenen einzelnen Charaktere unter ihren realen Namen oder Spitznamen vorkommen, aber meistens werden ihre Persönlichkeiten durch die Antworten von Dr. Koljo überschrieben, dem Erzähler, dessen Stimme im Off gegenwärtig ist, selbst dann, wenn wir ihn nicht im Bild sehen. In diesem Kontext ist mein Ziel nicht nur eine facettenreiche kritische Interpretation der Arten, wie das Leben von Romas im Film visuell dargestellt wird, sondern ich beziehe auch die klar bekundeten Reaktionen des Publikums mit ein.

Ich betone hier die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der starken Botschaft des unerwarteten öffentlichen „Auftritts“ einer kollektiven Präsenz. Damit beziehe ich mich auf die organisierten Proteste, die durch den Start des Films am 2. Februar 2006 hervorgerufen wurden. Während der Premiere im Kino „Kultura“ in Skopje und während mehrerer darauffolgender Nächte protestierten ungefähr 100 Roma aus Skopjes selbstverwaltetem Bezirk Šuto Orizari, besser bekannt unter dem Namen „Šutka“ (einem nördlichen Vorort von Skopje, der seit dem katastrophalen Erdbeben von 1963 von 50–65.000 Menschen bewohnt wird und seit 1995 eine eigene Verwaltung hat) gegen die Art der Repräsentation ihrer Gemeinschaft und einzelner Roma in dem Film. Vor allem wandten sie sich gegen ihre Repräsentation als arme, primitive und exotische Meister sensationeller und absurder Fähigkeiten wie Geistervertreiben, spirituelles Heilen oder sexuelle „Unternehmen“, während keiner ihrer „Meister“ mit Leistungen des Intellekts oder der Bildung gezeigt wurde. Nach den ersten Aufführungen des Films wurden mehrere Proteststatements in mazedonischen Zeitungen und bei lokalen und nationalen Fernsehsendern veröffentlicht.[1]

Was ich in diesem Kontext betonen möchte, ist, dass es eine dringende Notwendigkeit gibt, die Diskussion von Agambens Begriffen einer „Zone der Unbestimmtheit“, dem „Ausnahmezustand“, den „Ausnahmeräumen“ und dem „nacktem Leben“ auf das Feld der visuellen Repräsentation in zeitgenössischer Kunst und Medien auszuweiten und die Arten zu überdenken, in denen solche Repräsentationen Kultur durch Politik formen und umgekehrt. Ich schlage vor, obwohl die Repräsentationen des „nackten Lebens“ in diesem Film als „nicht ganz nacktes Leben“ interpretiert werden können und von der Komplexität und Strenge der extremsten Phänomene des „nackten Lebens“ weit entfernt sind, diese für ein Verständnis dessen, wie Kultur in Politik übersetzt wird und wie Biomacht funktioniert, extrem wichtig sind.
Wenn Giorgio Agamben die Extremsituation von „Lagern“ in zeitgenössischen Städten und die Unterscheidung zwischen Leben, „nacktem Leben“ und dem Tod in solchen Kontexten diskutiert, konzentriert er sich auf die Beziehung zwischen Souveränität, „Biomacht“ und die Ausnahme von der Regel in den Momenten der Ausrufung des „Ausnahmezustands“. Aber Agamben reflektiert nicht im Detail das Thema verschiedener visueller Regimes der Repräsentation und die Arten, in denen Bilder von „Zonen der Unbestimmtheit“ und des „Ausnahmezustands“ in der zeitgenössischen Kunst, in Filmen und Medien perpetuiert werden.

Exakt in dem Moment, in dem das „nackte Leben“ gegen eine solche Definition argumentiert, wird die Ambivalenz zwischen „innen“ und „außen“ deutlicher und zeigt die Ähnlichkeit der Struktur einer Kommune mit einem „Lager“, sie wird zu einem „nómos des politischen Raumes, in dem wir auch heute noch leben“[2]. Das Thema des nackten Lebens wird zum Symptom einer neuen, globalen Ordnung. Foucault betonte bereits die Serie von Technologien, die vom Staat verwendet werden, um das biologische Leben der Nation durch souveräne Macht zu überwachen und zu kontrollieren. Indem der „Ausnahmezustand“ sowohl den Ausschluss des „nackten Lebens“ als auch dessen Einschluss innerhalb der politischen Ordnung vollzieht, konstituiert er die verborgene Grundlage, auf der das gesamte politische System beruht.

 
Skopje als „Lager“

Historisch führte die Konzeptualisierung der Stadt als eines disziplinären, von Mauern umgebenen Raums zum Prozess der Einschließung/Ausschließung. Die klar definierte Unterscheidung zwischen den AußenseiterInnen und den innen stehenden, zwischen Subjekten und Gesetzlosen wurde durch viele verschiedene architektonische, soziale und kulturelle Entscheidungen gerechtfertigt. Agamben behauptet, dass das zeitgenössische urbane Leben in „Zonen der Unbestimmtheit“ eingeteilt ist, und ein Prototyp der räumlichen Unbestimmtheit ist das Lager. Während das Lager ursprünglich ein außergewöhnlicher, ausgeschlossener Raum war, von Geheimnissen umgeben und fest verschanzt, wird es heute zum nómos, zu einer verborgenen Matrix der Moderne. Die Unterscheidungen zwischen dem Innen und dem Außen verschwinden auf visueller Ebene, und wenn sie weiter existieren, so tun sie dies in sehr viel subtilerer und verstrickterer Form. Die Produktion des „nackten Lebens“, das der Form und des Wertes entkleidet ist, weitet sich aus auf den Raum jenseits der Mauern, auf die Gesellschaft als ganze.[3]

Im Ausnahmezustand wurde die Ordnung, die einmal in Form von Häusern, Straßen und Städten lokalisiert war, seit dem antiken Griechenland entortet, und so wird die Verbindung zwischen Ordnung und Verortung unscharf. Das Lager ereignete sich erst, als dem Nichtverortbaren ein permanenter und sichtbarer Ort zugewiesen wurde – der Ausnahmezustand.[4]

Skopjes städtische Entwicklung, ähnlich jener bekannten Definition Foucaults eines Spiegels, ist sowohl utopisch als auch heterotopisch.[5] Die Stadt wurde als Fantasie imaginiert, als Reflektion einer idealen, modernistischen Schönheit, die sich in der Realität in ein seltsames und obskures Monster verwandelte. Skopjes Zentrum wurde 1963 völlig neu entwickelt, als es zum großen Teil durch ein katastrophales Erdbeben zerstört worden war. Die Verwüstung führte zu einem enthusiastischen Traum der Rekonstruktion der Stadtmitte durch einen internationalen Wettbewerb. Der renommierte, modernistische japanische Architekt Kenzo Tange gewann 1965 den internationalen UN-finanzierten Wettbewerb, der ein Ergebnis beispielloser weltweiter Solidarität war. Er entwarf also den Masterplan für den Wiederaufbau des vom Erdbeben getroffenen Skopje.

Tange stellte sich eine dramatische „Stadtmauer“ vor, die als kontinuierlicher, mittelalterlicher und festungsartiger Wohnungsblock das bestehende Stadtzentrum Skopjes neu definierte, aber sich kaum auf die schon existierenden Stadtstrukturen bezog. Tatsächlich ähnelte sie in der Form den realen Überresten der Ruine der mittelalterlichen Mauer, nur dass das, was einst nur als Form des Schutzes gegen den Feind und eine klare Trennung zwischen dem Innen und Außen der Stadt gedacht war, jetzt in eine allumfassende und geschlossene Struktur zerfiel, die ihre eigenen BürgerInnen ausschloss. Die „Stadttor“-Hochhäuser definieren immer noch die Fußgängerbrücke in Skopjes Stadtzentrum, als ob das Zentrum das einzige städtische Element sei, das zählt.[6]

Trotzdem wurde dieser Planungsvorschlag niemals genau realisiert: Er wurde überdies als ein Entwurf realisiert, der viele Lücken und undefinierte ästhetische Räume und Funktionen von Räumen freiließ. Es gibt heute im Stadtzentrum einige leere und unbebaute Orte, die die sozialen Spaltungen und Konflikte in der mazedonischen Gesellschaft noch sichtbarer machen. Der vorherrschende architektonische Unterschied zwischen dem linken und rechten Ufer des Flusses Vardar wird durch die verschiedenen ethnischen und religiösen Hintergründe der Mehrheit ihrer BewohnerInnen unterstrichen. Er betont die elitistische Monstrosität einer unkritischen Anwendung des internationalen Modernismus auf eine unterentwickelte Stadt, wie Skopje sie vor dem Erdbeben war.[7]

Die konzeptuelle Spannung, die von der Phrase des „sozialistischen Modernismus“ ausgeht, ist das Ergebnis des offensichtlichen Kontrastes zwischen den Begriffen „sozialistischer Realismus“ und Modernismus. Obwohl der Modernismus viele verschiedene Begriffe erschuf, setzte sich einer seiner Leitsätze zumindest in der Kunst durch – seine Umkehr der Hierarchien der Repräsentation, die als antirepräsentative endeten.[8] Dieser „Ikonoklasmus“ steht in exakter Opposition zur Konzentration auf das „Reale“ im „sozialistischen Realismus“. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass der Modernismus eine Avantgardekomponente hatte, die das Ästhetische mit dem Politischen verknüpfte, und das Singuläre mit dem Kommunitären. Leider führte innerhalb der programmatischen architektonischen Manifeste, wie jenen, die von Le Corbusier und Tange ausgerufen wurden, die Ästhetisierung des Politischen oft zu einer unvermeidlichen Entfremdung. Sie hatte auch die Verstärkung der Unterschiede zwischen den politischen, sozialen, und kulturellen Eliten innerhalb der „Stadtmauer“ und den sozial und ethnisch marginalisierten Subjekten (armen ArbeiterInnen oder ethnischen Minderheiten) außerhalb des „Stadttores“ zum Ergebnis.

Um zum Hauptargument von Agamben zurückzukehren: Was er sagt, ist nicht, dass zeitgenössische Räume dasselbe wie deutsche Nazilager sind, sondern dass die Logik der Lager dazu tendiert, sich in der gesamten Gesellschaft fortzusetzen. Das Auftauchen von Lagern zeigt nur an, dass der Ausnahmezustand zur Regel geworden ist und die Gesellschaft in einen unbeschränkten und entorteten biopolitischen Raum verwandelt. Daher erklärt die Ausnahme in der Art eines Teufelskreises die allgemeine Situation und sich selbst. „Was in den Lagern geschehen ist, übersteigt den rechtlichen Begriff des Verbrechens dermaßen“, sagt Agamben, „dass man es oft einfach unterlassen hat, die spezifische juridisch-politische Struktur zu betrachten, in der diese Ereignisse stattgefunden haben.“[9] Er schließt daraus, dass das Lager nicht nur ein historisches Faktum ist und ein Phänomen, das 1896 von den Spaniern in Kuba erfunden wurde. Das Nazilager ist die ultimative Extremsituation, die man sich vorstellen (oder nicht vorstellen) kann, aber Agamben beginnt seine Untersuchung von hinten in umgekehrter Reihenfolge und fragt, was die rechtliche Struktur ist, die solche Ereignisse ermöglichte.

 
Kulturelle Politik

Eine meiner Hauptfragen ist, welche „kulturell-politischen“ und „juridisch-politischen“ Strukturen es KünstlerInnen ermöglichen, mit verschiedenen Gemeinschaften von marginalisierten Menschen, Obdachlosen, Flüchtlingen, Subalternen, ethnischen Gruppen usw. in einer Weise zu arbeiten, die nicht nur das ohnehin existierende System des Ausschlusses und der Isolation verstärkt, sondern auch neue Paradoxa hervorbringt.[10] Ich möchte einige Phänomene in Frage stellen, die stattfinden, wenn KünstlerInnen die Dynamiken von Gemeinschaften und Individuen, die sie darstellen wollen, missachten. Auch wenn sie mit besten Absichten initiiert werden, enden solche Darstellungen oft im Widerspruch zu den ursprünglichen Intentionen.

Es ist notwendig, alle positiven und negativen Argumente im Zusammenhang mit der Wirkung, die Kunstprojekte auf die Realität haben, zu diskutieren und dabei Themen wie das „nackte Leben“, „Biomacht“ und „Ausnahmezustand“ einzubeziehen. Auf der einen Seite werden diese Phänomene von der Kunst und KulturproduzentInnen oft vernachlässigt oder in eine rein ästhetische Richtung entwickelt, entweder so, als ginge die Kunst diese nichts an, oder als ob KünstlerInnen nicht für die Effekte ihrer sozialen Experimente verantwortlich seien. Auf der anderen Seite wird dieser Aspekt in Agambens Arbeit, obgleich eine detaillierte Theorie von „Räumen des Ausnahmezustands“ konzeptuell überzeugend gewesen sein könnte, zugunsten einer allgemeineren Theorie der Unsicherheit heruntergespielt, und sie schließt mit einigen vagen, ethischen Gesten. Wenn das Problem nur in der Privilegierung von „BürgerInnenrechten“ gegenüber „Menschenrechten“ bestünde, könnte es durch die Verabschiedung internationaler Menschenrechtsabkommen gelöst werden oder durch die Erweiterung von Antidiskriminierungsverpflichtungen in der Verfassung.

Die Situation von Nicht-BürgerInnen und Flüchtlingen enthüllt aber die Grundlagen aller politischen Subjekte.[11] Wenn Politik im Ausnahmezustand ununterscheidbar wird von der Logik des Krieges, werden wir alle Objekte einer „Entscheidung“, deren Rechte nicht mehr das entscheidende Kriterium darstellen. Agamben wiederholt diese Behauptung häufig, aber konzentriert sich vor allem auf das Thema der umfassenden Unsicherheit, sodass sein Projekt eher eine ethische Sensibilität anbietet als eine normative Verfassungstheorie. Es ist daher ethisch zwingend, uns daran zu erinnern, dass „wir die Erwartung aufgeben müssen, dass Sicherheit dadurch geschaffen werden kann, dass wir das Leben von anderen unsicherer machen.“[12] Die anhaltende existenzielle Krise und das buchstäblich „am Rande“ stattfindende Leben der Roma aus Šutka kennt auch einige Erfolgsgeschichten, die es aber irgendwie nie in die Medien schaffen.

 
Ruinen der Representation

Obwohl im Falle der meisten Kunstprojekte, die mit „Zonen der Unbestimmmtheit“ und dem „nackten Leben“ darin arbeiten, die KünstlerInnen weit davon entfernt sind, das Leben der anderen unsicherer, anders oder außergewöhnlich machen zu wollen, werden tatsächlich die schon existierenden Unsicherheiten und Außergewöhnlichkeiten verstärkt – wie im Fall des „Šutka Book of Records.“ Ich finde es daher wichtig, die vorherrschende Produktion von Projekten in Frage zu stellen, die ihre wesentlichen Ziele und Erfolge in der Aufnahme von Beziehungen mit der Subalternität sehen.

Šutka ist ein Raum, in dem der Ausnahmezustand eine permanente räumliche Ordnung erlangt hat. Es ist eine Siedlung in Skopje, wo der Ausnahmezustand „die Regel und wo öffentlich und privat, politisches Leben und ökonomisches Leben, das gute Leben der Polis und das bloße Leben des Oikos, ununterscheidbar geworden sind“[13], und wo es „nicht nur die Einschließung der zoê in die Polis ist oder einfach die Tatsache, dass das Leben als solches das Hauptobjekt des Machtkalküls geworden ist. Entscheidend ist stattdessen, dass der Bereich des Lebens anfängt, mit dem politischen Bereich übereinzustimmen, und Ausschließung und Einschließung, Außen und Innen, bios und zoê, das, was der Fall ist, und das, was gut, ist in eine Zone irreduzibler Ununterschiedenheit eintreten.“[14] Agamben charakterisiert eine solche Situation, in der die faktische Existenz von Menschen in eine Aufgabe verwandelt wird, als oikonomia des nackten Lebens.[15]

Ich werde meine Ausführung mit einer Diskussion des philosophischen Begriffs des „Singulär-Plural-Seins“[16] fortführen, wie er von Jean-Luc Nancy formuliert wurde, um Partizipation als eine der ausschlaggebenden, gesellschaftlichen Tendenzen heute zu extrapolieren, die benötigt wird, um den allumfassenden, durch die Verwarenförmigung menschlicher Beziehungen und das dadurch erzeugte „nackte Leben“ definierten  Neoliberalismus zu kontrollieren. Nancys Begriff des Seins ist immer ein Begriff des Mit-Seins. Ihm zufolge bedingt Sein immer ein „mit“ als unausweichliche Konjunktion, die verschiedene Singularitäten miteinander verbindet.[17] Nancy ist ein Philosoph der Koessenzialität des Mit-seins, da er nicht an irgendeinen philosophischen Solipsismus und an eine „Philosophie ‚des Subjekts‘ im Sinne einer unendlichen Einschließung eines Für-sichs in sich selbst[18] glaubt. Er geht so weit, zu sagen: „[…] ‚Selbst‘ gibt es nur aufgrund eines ‚Mit‘, das es in Wahrheit strukturiert.[19] Er hält die Heidegger’sche existenzale Analytik für unvollständig, da in ihr das Mitsein, obgleich dieses mit-wesentlich mit dem Dasein ist, immer noch eine untergeordnete Position einnimmt.[20]

Wenn Nancy behauptet, dass das Teilen der Welt gleichzeitig Existenz ko-impliziert, bezieht er sich auf das Problem, dass wir in diesem Moment nicht wirklich „wir“ sagen können, dass wir die Bedeutung des Zusammen-seins vergessen haben, des Gemeinsam-seins und der Zugehörigkeit, dass wir ohne Beziehungen leben. Um dieses Wissen zu erlangen und die Praxis eines „Wir“, ist es Nancy zufolge wichtig zu verstehen, dass „Wir“ nicht ein Subjekt im Sinne einer Selbstidentifikation ist und dass „Wir“ auch nicht aus Subjekten zusammengesetzt ist.[21] Nancy erinnert uns hier daran, dass die Aporie des „wir“ die Hauptaporie der Intersubjektivität ist, und er weist auf die Unmöglichkeit hin, ein universales „Wir“ zu bestimmen, das immer aus denselben Komponenten besteht.[22] Welche Partizipation auch immer in einem Kunstkontext diskutiert werden soll, sie verweist immer auf ein gewisses „Wir“, auf eine gewisse Identifikation mit einer bestimmten Gemeinschaft, in der verschiedene Mitglieder ausgewählter Gemeinschaften (Teile des Publikums, Berufsgruppen, Obdachlose oder Kinder) ko-existierende Bestandteile eines gewissen „Wir“ werden sollen. Sogar wenn die Bedingungen der Partizipation des Publikums oder einer ausgewählten Gruppe klar definiert sind, muss immer ein „Wir“ geschaffen werden, damit ein Projekt als partizipatorisches funktioniert. Der andere Teil dieses „Wir“ ist der/die KünstlerIn, KuratorIn, die Kunstinstitution oder sogar der Staat (in einigen öffentlichen Kunstprojekten), der sich angeblich um die unsichtbaren, marginalisierten oder vernachlässigten „Anderen“ kümmert, als Gegenstück desselben „Wir“. Das übliche Problem mit diesem imaginären „Wir“ ist, dass es meistens nur für die Dauer dieses bestimmten Kunstprojekts existiert; selten sind Beispiele, in denen die KünstlerInnen nachhaltige Projekte schaffen, die noch dann fortgeführt werden, wenn sie den Zirkus verlassen.

Interessanterweise enthält das immer neu erschaffene „Wir“ jedes Mal, wenn es nötig ist, verschiedene Teile und Gegen-Teile, aber es wird nie präzisiert, was mit den vorherigen Teilen/TeilnehmerInnen passiert oder was geschieht, wenn das Projekt seine Mittel erschöpft hat.[23] Die Roma-DemonstrantInnen scheinen auf diesen gebrochenen Vertrag eines „Wir“ zu reagieren, da sie sich aus dem einst versprochenen „Wir“ ausgeschlossen und durch den Filmregisseur betrogen fühlten, der angeblich während der Dreharbeiten dort lebte, aber nie daran dachte, sein Endprodukt seinen HauptdarstellerInnen zu zeigen, bevor es die internationalen Festivals erreichte.[24]

Das Fehlen eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gruppe, das Fehlen einer gemeinsamen Identität mit der/m KünstlerIn oder InitiatorIn verhindert oft einen wirklichen partizipatorischen Effekt. Ein wirklicher partizipatorischer Effekt ereignet sich jedoch genau dann, wenn die Bedingungen der Partizipation nicht auf einer streng definierten Gemeinschaftlichkeit und vorhersehbaren Entscheidungen in Bezug auf die Teilnahme beruhen oder auf einer klaren Identifikation mit dem/r KünstlerIn oder dem Konzept hinsichtlich sozialer, kultureller oder politischer Gemeinschaftlichkeiten. Zusätzlich können die klar abgegrenzten entwerkten Gemeinschaften, die sich einer Komplizenschaft mit dem Staat verweigern, immer leichter durch Methoden und Praxen der Kunst verführt werden, da sie weniger in die hohe Politik verstrickt sind.[25]

Um jedoch zum Paradox der Romaproteste gegen den Film „Šutka Book of Records“ zurückzukommen: Der Hauptgrund für diese Proteste lag genau in dem Faktum, dass das, was für den Filmregisseur eine Gemeinschaft war, deren Gemeinsamkeit im Aufstellen von Rekorden in merkwürdigen (und wir können sagen, lustigen) Aktivitäten lag, für die Gemeinschaft selbst keine Eigenschaft war, die alle Individuen teilten und mit der sich alle identifizieren konnten. Auf der einen Seite kann argumentiert werden, dass die Gemeinschaft des selbstverwalteten Stadtbezirks und der Roma-EinwohnerInnen von Šutka wirklich stattfand und in einem Deleuze’schen Sinne ihr Werden markierte, und zwar in dem Moment, als sie ihren Protest artikulierte gegen die Darstellung als Gemeinschaft, die etwas gemeinsam hat. Auf der anderen Seite kann man leicht zustimmen, dass die Proteste an die falsche Adresse gerichtet waren, dass die Hauptgründe für den permanenten Extremzustand der Roma-Gemeinschaften in Europa und besonders auf dem Balkan woanders liegen, und nicht im Film oder der Repräsentation im Allgemeinen.[26] Nichtsdestotrotz meine ich, dass die Unmöglichkeit der Repräsentation des „nackten Lebens“, die Unmöglichkeit, es in eine „angemessene“ Repräsentation zu übersetzen, mit der Paradoxalität von Gemeinschaft in Verbindung steht.

Nancy bemerkt, dass Gemeinschaft sich in Unterbrechung, Fragmentation, Aussetzung ereignet: „Gemeinschaft besteht aus der Unterbrechung der Singularitäten […]. Sie ist nicht [das] Werk [singulärer Wesen], sie besitzt jene nicht als ihre Werke.[27] Die Interpretation von Gemeinschaft als intrinsisch entwerkt und fragmentarisch hilft zu verstehen, wie partizipatorische Kunst in der Praxis funktioniert oder versagt, vor allem dann, wenn sie durch Institutionen kontrolliert wird. Dies steht auf gewisse Weise in Verbindung zu Agambens Warnung, dass „Singularitäten eine Gemeinschaft bilden, ohne eine Identität einzufordern, dass Menschen mit-angehören ohne eine darstellbare Bedingung der Zughörigkeit (und sei es in Gestalt der einfachsten Voraussetzung) – das ist es, was der Staat keinesfalls dulden kann.[28] Ähnlich wie Nancy denkt Agamben das Gemeinsam-Sein als etwas anderes denn als Gemeinschaft. In der Tat ist die für den Staat bedrohlichste Gemeinschaft ihm zufolge diejenige, die jede Identität und jegliche Bedingung der Herkunft ablehnt, die auf einer beliebigen Singularität beruht, nicht zugehören, sondern sich die Zugehörigkeit selbst aneignen will.[29] Partizipatorische Kunstprojekte sind verschieden von soziologisch hochgeschätzten kommunitären Projekten und unterscheiden sich genau in Bezug auf die Möglichkeit, die Bedingungen der Zugehörigkeit zu bestimmten schon existierenden und sozial definierten Gemeinschaften zu umgehen. Bourriaud fragt im Einklang mit Debords Kritik der Repräsentation und ihrer Vermittlung der Welt: „[…] ist es noch möglich, Beziehungen mit der Welt in einem Praxisfeld der Kunstgeschichte herzustellen, das traditionell für ihre Repräsentation vorgesehen ist?“[30] Die Antwort auf diese Frage liegt für ihn genau in jenen direkten Beziehungen, die KünstlerInnen durch ihre Kunstaktivitäten als soziale Zwischenräume herstellen können, und dies ist ihm zufolge ein Effekt der Urbanisierung. Indem er sich auf Althussers Begriff des „Zustands von Beziehungen, die Menschen auferlegt werden“, bezieht, interpretiert Bourriaud dieses System intensiver Beziehungen als direkte Quelle damit verbundener Kunstpraxen, als „Kunstform, deren Substrat durch Intersubjektivität gebildet wird und dessen zentrales Thema das Zusammen-Sein ist.“[31]

Marie Gee zufolge definiert Arza Churchman Partizipation als Entscheidungsfindung durch ungewählte BürgerInnen ohne öffentliches Amt oder die Beteiligung von Mitgliedern der Gemeinschaft an Planung und Entwürfen. Ohne dieses Element der Entscheidungsfindung in der Partizipation, oder wenn Entscheidungen durch gewählte oder öffentlich bestellte Repräsentanten erfolgen, wird sie es nicht einmal ‚Partizipation‘ nennen sondern eher ‚Involvierung‘.“[32] Es ist offensichtlich, dass diese Lücke zwischen „Partizipation“ und „Involvierung“ sowie zwischen der Erwartung seitens der Roma-Gemeinschaften in Skopje im Sinne einer Kritik der existierenden Probleme und dem Ziel des Filmregisseurs, nämlich einer bloßen „Darstellung des Zustands des Glücks, der Leidenschaft und der totalen Freiheit, die an diesem magischen Ort wahrgenommen werden können[33], jene Lücke ist, die die Verwirrung und letztlich die Proteste verursachte. Der Teufelskreis der unmenschlichen sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse für Roma und die Darstellung dieser Verhältnisse als „totale Freiheit“ erfordern eine dringende Unterbrechung. Anstatt die verschiedenen künstlerischen Entscheidungen bezüglich verschiedener Mittel und Regimes der Repräsentation auf moralisierende Weise zu kritisieren, ist die dringende Frage eher die, wie eine problematische Repräsentationspolitik ebenso überwunden werden kann wie ihre Übersetzung in Kultur, die die Zirkulation immer schon existierender Stereotypen ermöglicht.

 



[1] „Der Dokumentarfilm ‚The Šutka Book of Records‘ macht sich über die Personen aus der Romagemeinschaft lustig, erklärte Erduan Iseni, Bürgermeister der Stadtverwaltung Suto Orizari. Er sandte seinen Protest an die Regierung und andere Institutionen des Landes. Er hat den Film nicht gesehen, und wie er und der Parlamentsabgeordente Dzevad Mustafa sagten, würden sie ihn auch nicht anschauen, aber dieser Eindruck sei ihnen von den Protagonisten des Films vermittelt worden.“ („Der Bürgermeister von Šutka behauptet: The Šutka Book of Records diskriminiert Roma“, in: Dnevnik, 02.02.2006, 07.09.2006, http://star.dnevnik.com.mk/?pBroj=2978&stID=72604

[2] Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, S. 175.

[3] Bülent Diken and Carsten Bagge Laustsen: „Zones of Indistinction. Security, Terror, and Bare Life“, in: airspace & culture vol. 5 no. 3, August 2002, 291. 10. Okt. 2006, http://www.purselipsquarejaw.org/papers/zones_indistinction.pdf.

[4] Ebd., S. 291.

[5] Foucault, Michel: „Andere Räume“ (1967). In: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essays. 5., durchgesehene Auflage. Leipzig: Reclam, 1993.

[6] Bei seinem sowohl gelobten als auch kritisierten Projekt wurde Tange stark von Le Corbusiers zentraler Planung und seinem autokratisch-autoritären Ansatz beeinflusst.

[7] Lydia Merenik: „The Yugoslav Experience or What Happened to Socialist Realism“, In: Moscow Art Magazine No. 22, 1998, 10 Oct. 2003, http://www.guelman.ru/xz/english/XX22/X2218.HTM. Merenik zitiert Marshall Bermans Wendung „ein Modernismus der Unterentwicklung“.

[8] Jacques Rancière: The Politics of Aesthetics, New York: Continuum, 2004, S. 24.

[9] Giorgio Agamben, a. a. O., S. 175.

[10] Die meisten der kürzlich erfolgten Ausschreibungen der Europäischen Union und z. B. der Europäischen Kulturstiftung nennen als Hauptziele kulturelle Diversität und Mobilität. Daher ist die Verbreitung von Kunstprojekten, die sich auf die Rechte diverser ethnischer Minderheiten oder marginalisierter Bevölkerungsgruppen beziehen, keine Überraschung. Artikel 151 des Vertrags von Amsterdam über die Europäische Union kann zur Karikatur werden, wenn er auf diese direkte und unverblümte Art veranschaulicht und angewendet wird.

[11] Agamben gründet sein Argument auf Einflüsse durch Hannah Arendts Artikel „We Refugees“ der in The Menorah Journal, January 1943, XXXI, veröffentlicht wurde, und er entwickelt es in seinem Text unter demselben Titel: 15 Okt. 2006, http://roundtable.kein.org/node/399.

[12] Vik Kanwar, „Book Review“, Giorgio Agamben, State of Exception, 02. Sept. 2006, http://kanwar.info/other.html.

[13] Akseli Virtanen, „Oikonomia of Bare Life: Agamben vs. Foucault on the possibility of good life in the biopolitical order“, 2003, 15 Sept. 2006, http://www.mngt.waikato.ac.nz/ejrot/cmsconference/2003/abstracts/managementgoodness/Vertanen.pdf.

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Jean-Luc Nancy: singulär plural sein, Berlin: Diaphanes 2004.

[17] Vgl. ebd., S. 36 f.

[18] Ebd., S. 58.

[19] Ebd., S. 144.

[20] Vgl. ebd., S. 143.

[21] Vgl. ebd., S. 119 f.

[22] Vgl. ebd.

[23] Irit Rogoff: „We – Collectivities, Mutualities, Participations“, 1. Sept. 2006, http://theater.kein.org/node/95.

[24] Ironischerweise gewann Aleksandar Manić’s Film „The Šutka Book of Records“ 2005 den Amnesty International Film Festival Preis beim internationalen Filmfestival von Ljubljana.

[25] Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988. Nancy schreibt über die Einschreibung eines „unendlichen Widerstands“.

[26] Ich möchte Hito Steyerl und Simon Sheikh für ihre Kommentare während des eipcp-Workshops “Polture and Culitics” (14. Okt. 2006, Maison de l’Europe) danken. Beide stellten die Möglichkeiten der Repräsentation in Frage, indem sie darüber diskutierten, ob es heute angemessene Repräsentation geben kann und ob es möglich ist, der Repräsentation als solcher zu entgehen.

[27] Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 70.

[28] Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Merve: Berlin 2003, S. 79.

[29] Ebd., S. 80.

[30] Bourriaud, Relational Aesthetic, S. 9.

[31] Ebd., S. 15.

[32] Marie Gee Yes in My Front Yard: „Participation and the Public Art Process“, High Performance #69/70, Spring/Summer 1995, 31 Jan. 2006, http://www.communityarts.net/readingroom/archivefiles/1999/12/yes_in_my_front.php.

[33] N. B. “Exciting documentary in front of the Macedonian audience. The Magic Realism of “The Sutka Book of Records” in the cinema Kultura, Vreme, 620, 02.02.2006, 05. Sept. 2006, http://www.vreme.com.mk/DesktopDefault.aspx?tabindex=9&tabid=1&EditionID=641&ArticleID=40701.