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01 1999

Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis

Christian Kravagna

Auf der einen Seite besteht ein weit verbreitetes politisches Ohnmachtsgefühl. Die Einflußmöglichkeiten von Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Betriebsräten und anderen untergeordneten Ebenen auf den politischen Prozeß werden als ständig schrumpfend betrachtet. Selbst nationale Politik argumentiert immer häufiger mit der Abhängigkeit ihrer Entscheidungen von übergeordneten Instanzen, z. B. der EU. Schließlich ist verallgemeinernd von der Machtlosigkeit der Politik gegenüber der Wirtschaft die Rede. Unabhängig davon, ob man an die Allmacht der Globalisierung glaubt oder sie als ökonomistische Entschuldigung betrachtet, die Erfolgsaussichten politischen Engagements von unten sind im Bewußtsein vieler gesunken. Reale und drohende Arbeitslosigkeit scheinen zudem die Konzentration aufs ökonomische Überleben nahezulegen.
Auf der anderen Seite stehen Überlegungen, beides, nämlich ungenützte Potentiale des Engagements sowie frei gewordene Arbeitskraft, zu einem sinnvollen Dritten zu vermengen. Unter dem pikanten Titel "Die Seele der Demokratie" plädierte kürzlich der Soziologe Ulrich Beck für sein Konzept der "Bürgerarbeit".[1] Anstatt die "Untätigkeit mehrerer Millionen Menschen mit Milliardenbeträgen zu finanzieren" sollten diese Menschen (auf freiwilliger Basis) unter der Führung von "Gemeinwohlunternehmern" in Konzepte organisierten sozialen Engagements eingebunden werden, von der Sterbehilfe und Obdachlosenbetreuung bis "Kunst und Kultur". "Bürgerarbeit wird nicht entlohnt, aber belohnt. Und zwar immateriell, zum Beispiel ... durch Ehrungen." Nach dieser Vorstellung von Arbeit zum Preis der Sozialhilfe ginge es "um den Ausbau einer engagierten Bürgergesellschaft, die sich um öffentliche Angelegenheiten kümmert und mit ihren Initiativen das Gemeinwesen belebt." Die reduzierten Möglichkeiten politischer Partizipation sollen demnach durch Arbeit kompensiert werden. Der Staat spart Geld, und die Bürger sind sinnvoll beschäftigt. Sie werden dafür auch noch "belohnt", haben also keinen Grund, unruhig zu werden.

Wenn im folgenden einige Modelle partizipatorischer Kunstpraxis zur Sprache kommen, so sind sie durchaus vor diesem Hintergrund zu sehen. Also auch vor dem Hintergrund der Frage, in welchem Maße "soziales Handeln" politisch ist bzw. ein soziales Interesse an die Stelle des politischen tritt. Die folgenden Beispiele kommen aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. Aus dem Spektrum künstlerischer Ansätze, das sich partizipatorischer Methoden bedient, werde ich allerdings einen ganzen Komplex ausblenden. Es ist jene modische Tendenz der "Arbeit mit anderen", die den jungen dynamischen KuratorInnen des Mainstream-Ausstellungsbetriebs so lieb ist, weil sie ihm ästhetisch leicht verdauliche Häppchen des "Sozialen" einverleibt, ohne irgendwelche weiteren Reflexionen erforderlich zu machen.[2]

Der Begriff einer partizipatorischen Praxis ist, zumindest der Tendenz nach, von zwei anderen abzugrenzen: von Interaktivität und kollektivem Handeln. Interaktivität überschreitet ein bloßes Wahrnehmungsangebot insofern, als sie eine oder mehrere Reaktionen zuläßt, die das Werk in seiner Erscheinung - meist momentan, revidierbar und wiederholbar- beeinflussen, seine Struktur aber nicht grundlegend verändern oder mitbestimmen. Kollektive Praxis meint Konzeption, Produktion und Ausführung von Werken oder Aktionen durch mehrere, wobei unter diesen hinsichtlich ihres Status nicht grundsätzlich differenziert wird. Partizipation geht dagegen zunächst einmal von einer Differenzierung zwischen Produzierenden und Rezipierenden aus, ist an der Beteiligung letzterer interessiert und überantwortet ihnen einen wesentlichen Anteil entweder schon an der Konzeption oder am weiteren Verlauf der Arbeit. Während sich interaktive Situationen meist an ein Individuum wenden, realisieren sich partizipatorische Ansätze meist in Gruppensituationen. Kombinationen zwischen allen dreien existieren, Übergänge sind fließend, und rigide Kategorisierungen sind wenig zweckmäßig.

"Partizipation" als Praxis oder Postulat spielt in der Kunst des 20. Jahrhunderts (fast) immer dort eine Rolle, wo es um die Selbstkritik der Kunst geht, um die Infragestellung des Autors, um die Distanz der Kunst zum "Leben" und der Gesellschaft. Die Aktivierung und Beteiligung des Publikums bezweckt die Transformation des Verhältnisses zwischen Produzenten und Rezipienten in dessen traditioneller Variante der Werk-Betrachter-Beziehung. Deren eindimensionale, hierarchische "Kommunikationsstruktur" produziert einen konsumistischen, distanzierten Betrachter, sie stellt "eine Schule asozialen Verhaltens" dar, wie Stepanova 1921 schreibt.[3] Die Intention der Auflösung dieser Situation in eine Dynamik der Wechselseitigkeit entwickelt sich entlang einer Kritik der rein visuellen Erfahrung und zielt häufig auf die Aktivierung des Körpers als Voraussetzung von Beteiligung. Dieses physische Involviertsein kann eine phänomenologische Grundlage haben, wie sie El Lissitzky für seine "Demonstrationsräume" (1926) beschreibt: "so soll unsere Gestaltung den Mann aktiv machen. Dies sollte der Zweck des Raumes sein. ... Bei jeder Bewegung des Beschauers im Raume ändert sich die Wirkung der Wände. ... Er ist physisch gezwungen, sich mit den ausgestellten Gegenständen auseinanderzusetzen."[4] Beteiligung kann aber auch, wie bei den Dadaisten, über Akte der Provokation initiiert werden. In den beiden "proto-partizipatorischen" Richtungen des Dadaismus sowie des russischen Konstruktivismus und Produktivismus sind wohl die Anfänge einer "Geschichte der Partizipation" als Sub-Geschichte der Avantgarde zu suchen. In der Sowjetpresse, so Tretjakow, "beginnt die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum ... zu verschwinden. Der Lesende ist dort jederzeit bereit, ein Schreibender ... zu werden."[5] Je nach ideologischer Grundlage verbinden sich mit Partizipation als Programm unterschiedliche Ansprüche auf Veränderung: revolutionäre ("Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis"), reformatorische ("Demokratisierung der Kunst") oder, von geringerem politischen Gehalt, spielerische und/oder didaktische, wahrnehmungs- und "bewußtseinsverändernde" Ansprüche.
Nach dem Krieg kommt zunächst vieles, was sich partizipatorischer Methoden bedient, aus der Cage-Schule: Fluxus, Happening, Rauschenberg. Cage realisiert  in der Musik eine Forderung, die Benjamin schon Hanns Eisler zuschreibt, nämlich "den Gegensatz zwischen Ausführenden und Hörenden ... zu beseitigen."[6] "4'33"" (1952) besteht aus nichts anderem als den Geräuschen im Konzertsaal. Das Publikum produziert zwar im wesentlichen diese Geräusche, ist aber noch nicht wirklich aktiv. Ähnliches gilt für die gleichzeitig entstandenen "White Paintings" von Rauschenberg, die nichts als die Bewegungen der Betrachter reflektieren. Rauschenbergs "Black Market" (1961) fordert dann tatsächlich die Handlung des Publikums ein. Gegenstände sollen einem Koffer entnommen und durch andere ersetzt werden. Die Grenze zwischen Kunst und Leben soll überbrückt werden, indem Rezipienten zu Mitspielern werden.
Die Neo-Avantgarden der 50er Jahre sind von "Wirklichkeit" besessen. Nachdem die Geräusche der Umgebung in die Musik, die Gegenstände in die Bilder integriert wurden, geht es um "realzeitliche" Abläufe in Happenings oder Events. Das "blurring of art and life" strebt nach einer "konkreten Kunst", die im "realen Leben" angesiedelt ist oder überhaupt in ihm aufgeht. Kaprow, geprägt von Deweys Kunst als Erfahrung, definiert ästhetische Erfahrung als Partizipation. Handeln wird zur Bedingung von Erfahrung, da ansonsten kein Happening zustandekommt. Die Art der Handlungen ist den alltäglichen Routinen abgeschaut, die in kollektiver, meist spielerischer Praxis eine neue, ästhetische Qualität verliehen bekommen. In letzter Konsequenz geht es um die Rückführung der neu bewerteten Handlungen in den Alltag: "Doing life, consciously."[7] Für Maciunas, der sich sowohl auf Dada als auch die russischen Produktivisten beruft, nimmt der Künstler einen elitär-parasitären Status in der Gesellschaft ein. Dem "anti-professionellen" Fluxus-Künstler obliegt es daher, die Ersetzbarkeit des Künstlers zu demonstrieren, indem er zeigt, "daß alles Kunst sein kann und jeder sie ausüben kann."[8] Was als Partizipation im Rahmen von "Kunst" beginnt, sollte sich also in einer allgemeinen ästhetischen (Lebens-)Praxis erfüllen. Es ist dies ein Demokratisierungsprogramm, dessen Scheitern in der Autorisierung des Laien durch den Künstler vorgezeichnet ist. In der Beuysschen Variante erfährt es allerdings dann eine Verknüpfung mit realer Politik, was nichts daran ändert, daß alles andere eher infragegestellt wird, als der Status des Künstlers.
Neben den offenen, zufallsorientierten, anarcho-poetischen und teilweise auch destruktiven (z. B. Vostell) Konzeptionen existiert in den 60er Jahren eine andere Richtung, die stärker didaktisch orientiert ist und sich mehr an Objekte bindet. Man versucht hier, den Begriff des Kunstwerks durch "Kommunikations-Objekte" oder "Handlungs-Objekte" zu ersetzen, die eine mehr oder weniger festgelegte Benutzung nahelegen. Basierend auf kulturkritischen Überlegungen zur Konditionierung der Alltagswahrnehmung durch Konsumindustrie und soziale Verhaltenszwänge, sollen derartige Objekte, die keiner bereits ritualisierten Verwendungsweise unterliegen, im Zuge von Prozessen der Annäherung und des versuchsweisen Gebrauchs unmittelbare, elementare Erfahrungen ermöglichen. Eine solche Position, wie sie z. B. Franz Erhard Walther verkörpert, ersetzt zwar Betrachtung durch Handlung, teilweise auch kollektive. Sie bleibt aber, indem sie die "echte" Erfahrung gegen die "entfremdete" ausspielt, einer Autonomie-Ästhetik verpflichtet, die eine Gegenwelt beschwört ohne Widerstandspotentiale zu eröffnen.

 

Heal the world - Die Rhetorik der NGPA

Der Zusammenhang, in dem partizipatorische Konzepte während der letzten Jahre am prominentesten diskutiert wurden, ist jenes Konglomerat inhomogener Praktiken, für das sich das Etikett "New Genre Public Art" durchgesetzt hat. Für dasselbe Phänomen sind die Begriffe "community-based art" und "Kunst im öffentlichen Interesse" in Gebrauch. Wie selbst ihre Proponenten feststellen, handelt es sich hierbei keineswegs um wirklich "neue" Praktiken, vielmehr um solche, die seit den 70er Jahren verfolgt, jedoch von einer elitären und objektfixierten Kunstwelt marginalisiert worden seien. Ihre Zeit sei jetzt gerade deshalb gekommen, weil die unterschiedlichen Praktiken nun in der Kategorie der "öffentlichen Kunst" verhandelt würden, in deren Rahmen sie erst zu einer Art Bewegung werden und in dem sie einen Paradigmenwechsel bezeichnen. Letzterer entwirft, kurz gefaßt, folgende Geschichte der "Public Art": nachdem zunächst öffentliche Orte eher willkürlich mit autonomen Kunstwerken verschönert wurden, kam es in einem nächsten Schritt zu ortsspezifischen künstlerischen Eingriffen, die sich an den architektonisch-räumlichen Gegebenheiten orientierten. Nach dem Werk und dem Ort rückt nun in einem weiteren Schritt das Soziale in den Mittelpunkt , eine lokale Bevölkerung(sgruppe), Minderheit oder "community".
Der NGPA geht es zuerst und vor allem um eine Definition ihres Publikums. Dafür gibt es - neben den individuellen Anliegen - zumindest zwei objektive Begründungen. Einmal waren viele der (älteren) sozial und politisch engagierten KünstlerInnen lange Zeit vom dominanten Kunstsystem soweit an den Rand gedrängt, daß sie sich zwangsläufig außerhalb der Institutionen andere Arbeitsfelder erschließen mußten. Zum anderen haben lokale Widerstände gegen "Kunst im öffentlichen Raum" und die darüber geführten Diskussionen (siehe Serras "Tilted Arc") gezeigt, daß die Frage des Publikums von den herkömmlichen Public Art-Programmen nicht ausreichend ernst genommen wurde. Eine Praxis, die von lokal definierten, relativ überschaubaren Öffentlichkeiten ausgeht und darüberhinaus meist zeitlich begrenzt ist, schien den offiziellen Programmen für öffentliche Kunst daher eine willkommene Lösung anzubieten.
Jede Kritik der NGPA sieht sich mit dem Problem konfrontiert, daß sie sich entweder einzelnen künstlerischen Projekten oder dem strategischen Diskurs, der über das Label hergestellten Identität, zuwenden kann. Allzu sehr unterscheiden sich die unter den Begriff gebrachten Praktiken voneinander, und damit sehr oft auch die Praxis von ihrer Theoretisierung. Das "Compendium" von über 80 KünstlerInnen und -gruppen, das Suzanne Lacy ihrem diskursbestimmenden Buch Mapping the Terrain: New Genre Public Art anhängt, reicht von Vito Acconci und dem Border Art Workshop über Group Material und Jenny Holzer bis Paper Tiger TV und Fred Wilson, von Identitätspolitik über Medienaktivismus bis Institutionskritik. Ein kleinster gemeinsamer Nenner läßt sich kaum finden. Dem steht eine starke Tendenz zur diskursiven Homogenisierung gegenüber, die sich wohl nur aus Motiven der Durchsetzung einer "Bewegung" bzw. eines "Paradigmenwechsels" erklären läßt. Wenn ich mich im folgenden dennoch gerade mit der Rhetorik der NGPA befasse, dann weil ich ihre Rolle innerhalb der gegenwärtigen Re-Definition des Kunstbegriffs höher bewerte als jene der Praxis selbst. Geht man davon aus, daß es zu den zentralen Punkten dieses künstlerischen Selbstverständnisses gehört, von der symbolischen Ebene auf die "reale" zu wechseln, also an die Stelle der Deutung und Kritik des Sozialen die soziale Praxis zu setzen, dann ist es vor allem die Rhetorik dieser pragmatischen Haltung, die Aufschlüsse über das zugrundeliegende Weltbild geben kann.
Mary Jane Jacob, als Kuratorin community-orientierter Projekte neben Suzanne Lacy eine der wichtigsten MentorInnen der "neuen öffentlichen Kunst", skizziert deren historischen Ort folgendermaßen: "If, in the 1970s, we were extending the definition of who the artist is along lines of nationality or ethnicity, gender and sexual orientation; and in the 1980s the place of exhibitions expanded to include any imaginable venue ...; then in the 1990s we are grappling with broadening the definition of who is the audience for contemporary art."[9] "Erweiterung" des Publikums meint hier vor allem Differenzierung des Publikums. Aus dem einen anonymen Kunstpublikum werden gewissermaßen spezifizierte Publika, die sich über den direkten Kontakt mit dem Künstler/ der Künstlerin als solche konstituieren, sich von Projekt zu Projekt unterscheiden und häufig in die Realisierung von Arbeiten einbezogen sind: "This work activates the viewer - creating a participant, even a collaborator."[10] Aus der "dialogischen Struktur" der Einbindung der Community in den kreativen Prozeß soll die Arbeit ihre Relevanz für eben diese Gemeinschaft beziehen.
Was an den programmatischen Schriften von Lacy, Jacob, aber auch Lucy Lippard, Suzi Gablik und Arlene Raven auffällt, ist das weitgehende Fehlen politischer Analyse, während gleichzeitig viel von sozialer Veränderung die Rede ist. Kompensiert wird dieses politische Defizit durch ein Begriffsinventar, das deutlich pastorale Züge aufweist: "To search for the good and make it matter: this is the real challenge for the artist", steht in großen Lettern auf dem Cover von Lacys Buch. Ausgehend von der Diagnose eines elitären, selbstbezogenen Kunstbetriebs auf der einen Seite und einer ganzen Reihe von "sozialen Krankheiten"[11] andererseits, versteht sich die "connective aesthetics" (Suzi Gablik) als Brücke zwischen der Kunst und den "wirklichen Menschen". Um diese Brücke mittels ihrer "dialogischen Struktur" bauen zu können, trennt sie zunächst die beiden zu verbindenden Seiten: hier das Engagement der Kreativen, das auf einem bestimmten Begehren beruht, nämlich dem "longing for the Other"[12] oder "desire for connection"[13]; dort die "real people" in "real neighborhoods,"[14] worunter (vornehmlich nicht-weiße) Arbeiter- und Armenviertel zu verstehen sind.
Die Rhetorik der NGPA verschleiert kaum den Prozeß des "othering", der Konstruktion eines "Anderen" als Bedingung weiterer Projektionen. Die "anderen" sind sowohl arm und benachteiligt als auch Repräsentanten des Echten und Wirklichen, somit einerseits hilfsbedürftig und andererseits Quelle der Inspiration.[15] Ähnlich ambivalent ist das Bild der Kunst. In ihrer institutionalisierten Form als abgehoben und bürgerlich dekadent betrachtet, stellt sie zugleich ein Kreativitätsreservoir dar, ohne dessen Qualitäten das Leben der "anderen" nicht bereichert werden kann: "The community-based art (...) can not only expose the energy and depth of ordinary people but also help these people develop their human potential in individual and communal acts."[16] "Care and compassion", Fürsorge und Mitleid, sind etwa für Gablik die zentralen, als "weiblich" definierten Werte der "konnektiven Ästhetik", Lacy und Lippard betonen das "Einfühlungsvermögen". Ohne daß je darauf verwiesen würde, stehen die Autorinnen mit ihrer geschlechtsspezifischen Zuordnung moralischer Einstellungen dennoch in jener Denkrichtung, wie sie Nancy Chodorow und Carol Gilligan vertreten, wonach das soziale Verhalten von Frauen sich durch eben jene Fähigkeiten der Fürsorge und Empathie grundsätzlich von der männlichen Orientierung an Recht und Gerechtigkeit unterscheide.[17] Dieser differenzlogische Schematismus entspricht der starren Dichotomie von individualistischer "Museum Art" und kollaborativer NGPA, den letztere, unter Leugnung der fließenden Übergänge auch in den eigenen Reihen, so gerne behauptet. Daß Frauen in diesem "Genre" tatsächlich vergleichsweise sehr stark vertreten sind, belegt jedoch weniger geschlechtsspezifische Sozialcharaktere als die bekannten Machtverhältnisse im institutionellen Kunstfeld.
Damit die Kunst im Prozeß der sozialen Interaktion aber tatsächlich ihre "heilende Funktion", von der alle AutorInnen sprechen, erfüllen kann, bedarf sie zusätzlich einer erzieherischen Dimension. Um eine "Gesellschaft, die von ihren Lebenskräften entfremdet ist, heilen" zu können[18] - Jacob bringt die Figur des Schamanen wieder ins Spiel -, müssen die "einzigartigen Wahrnehmungen und kreativen Mechanismen von KünstlerInnen"[19] an die nicht-künstlerischen Teilnehmer weitergegeben werden. Die pastorale Mischung aus Fürsorge und Erziehung erklärt die teilweise pseudo-religiösen Züge der NGPA, die spirituellen Qualitäten ihrer Gemeinschafts-Beschwörung sowie bestimmte Tendenzen, Communities auf traditionalistische Rituale wie, z. B. "Parades", zu verpflichten. Die Kritik am Individualismus und das Streben nach einer gemeinschaftlichen Grundlage ästhetischen Handelns, nach der "Versöhnung" sozialer Sphären, der Bürgerbeteiligung an den Prozessen der Bedeutungsproduktion - all das bezeugt eine große Nähe der konnektiven Ästhetik zur Gesellschaftstheorie des Kommunitarismus.[20]
Es sei jedoch noch einmal daran erinnert, daß hier ein homogenisierender Diskurs äußerst divergente Praktiken überlagert. Seine traditionalistischen, essentialistischen, moralisierenden und mystifizierenden (Gabliks "Wiederverzauberung der Kunst") Elemente dürfen daher nicht als Grundlage der Bewertung einzelner künstlerischer Vorgangsweisen herangezogen werden. Es ist allerdings notwendig, die konservativen Tendenzen der NGPA kenntlich zu machen, weil sie ein Spektrum teilweise durchaus produktiver und progressiver Ansätze illegitim für sich zu vereinnahmen drohen.

 

GET DOWN AND PARTY. TOGETHER.

Adrian Pipers "Funk Lessons" (1982-84 an verschiedenen Orten) folgen einem Verständnis von Partizipation, das sich vom pastoralen Typus kontrastreich abhebt. Die kollektiven Tanzperformances verbinden politische Inhalte mit lustvollen Erfahrungen. Im Unterschied zum idealtypischen Stufenmodell der NGPA, Krankheitsdiagnose - Therapieplan - Heilung, haben die "Funk Lessons" ausdrücklich experimentellen Charakter ("A Collaborative Experiment in Cross-Cultural Transfusion"). Die Unvorhersehbarkeit beginnt schon damit, daß sich Teilnehmer auf ein Angebot hinauf einfinden und nicht von vornherein nach bestimmten Kategorien etwas wie "Community" oder "die anderen" (die Arbeiter, die Alten, die Obdachlosen usw.) definiert wird. Gemeinschaft entsteht, wenn überhaupt, im Verlauf der Veranstaltung; sie erhebt darüber hinaus keinen Anspruch auf Dauerhaftigkeit; sie hat nichts Essentielles an sich.
Ausgehend von der verbreiteten rassistischen Ablehnung seitens der weißen Mittelschicht gegenüber dem Funk-Idiom als "black working-class culture", setzt Piper Funk als "kollektives Medium der Selbstüberschreitung" didaktisch dazu ein, um "kulturelle und rassische Barrieren zu überwinden." Sie erklärt die musikalisch-tänzerischen Grundelemente, die kulturellen Hintergründe und Beziehungen zu anderen, "weißen" Musiken. Was gleichsam als learning-by-doing beginnt, entwickelt sich je nachdem, wie sich tiefsitzende Abneigungen, Ängste, Unsicherheiten oder aber Enthusiasmus und Neugier in Reaktionen äußern und wie Gegenreaktionen einen vielstimmigen Dialog in Gang setzen, der die ursprüngliche "Lernsituation" in offene Diskussion verwandelt, die durchaus auch heftig geführt werden kann. Partizipation an einem solchen Prozeß bedeutet weniger an einem dumpfen Gefühl von Gemeinschaft teilzuhaben, als in eine Auseinandersetzung einzutreten, die die Grenzen von Politik und Persönlichkeit berührt. Die Teilnehmer in eine ambivalente Situation von Angeboten (ästhetische Erfahrung, Information) und Anforderungen (Artikulation von Widerständen, Mitverantwortung für den kollektiven Prozeß) einzubinden, bedeutet für den Standpunkt der Künstlerin, ein riskantes Szenario mit offenem Ausgang zu entwerfen.
Das Bemerkenswerteste an Pipers "Funk Lessons" im Vergleich zu den vielen wohlmeinenden Absichten vor allem der "pastoralen" Richtung ist vielleicht das offen artikulierte Eigeninteresse: "My motivation in doing the 'Funk Lessons' performances also has a very large self-interested component (of course). The ignorance and xenophobia that surround the aesthetic idiom of black working-class culture have affected the audience's comprehension of my performance work since 1972."[21] Um dieses Idiom als Teil der persönlichen Identität weiterhin in der künstlerischen Arbeit verwenden zu können, schien es notwendig, einen Versuch zu unternehmen, dieses mit dem vornehmlich weißen Mittelklassepublikum in irgendeiner Form zu teilen. Diesen Aspekt der Arbeit, der sicher nicht der wichtigste ist, hervorzuheben, scheint angebracht, weil er sich diametral unterscheidet von der Kehrseite der Weltverbesserungsrhetorik, wie sie in einem "acknowledgment" Suzanne Lacys manifest wird: "Most important to me are the many invisible communities ... who have inspired my work over the years, those who suffer various forms of discrimination, violence, and injustice."[22]

 

Radikale Demokratie ...

Seit den späten 80er Jahren arbeiten Michael Clegg und Martin Guttmann an künstlerischen Projekten in öffentlichen Räumen, für deren Funktionsweise die aktive Beteiligung der lokalen Bevölkerung Voraussetzung und entscheidendes Kriterium ist. Der erste derartige Versuch, "A Model for an Open Public Library", 1987, bestand in der Plazierung eines aus den Beständen der Künstler bestückten Bücherregals an verschiedenen Orten in New Jersey. Die befremdliche Erscheinung eines Bücherregals im Freien, noch dazu an nicht besonders frequentierten Orten, hatte eher poetische, fast surreale Züge und funktionierte wohl mehr im dokumentarischen Zusammenhang einer späteren Galerie-Ausstellung. In einem kurzen Text, "Entwurf für eine 'Open-Air' Bibliothek", 1990 in Durch erschienen, formulieren Clegg & Guttmann bereits die grundlegenden Gedanken ihrer später in Graz und Hamburg realisierten "Offenen Bibliothek": "Eine Bibliothek ohne Bibliothekare und ohne Überwachung, deren Bücherbestand von den Benützern selbst durch ein Tauschsystem, demzufolge jedes entlehnte Buch nach Gutdünken des Benützers durch ein anderes zu ersetzen ist, bestimmt wäre. Eine solche Bibliothek könnte als Institution zu einer Selbstdefinition der Gemeinschaft beitragen ... und wäre damit eine Art Porträt einer Gemeinschaft."[23]
Es geht also einerseits um die Idee der "sozialen Skulptur", die auf der Interaktion mit einem Publikum beruht, durch deren Intensität und konkreten Verlauf das Werk erst als solches konstituiert wird bzw. seine spezifische Funktion bekommt. Das zweite Moment, die Konzeption des "Porträts" einer Gemeinschaft, leitet sich aus früheren fotografischen Arbeiten der Künstler her, denen ein erweiterter Porträt-Begriff zugrundeliegt. Obwohl der Gedanke des sozialen Porträts von der Konzeption der "Offenen Bibliothek" nicht loszulösen ist und er - auch in seiner Problematik - nicht undiskutiert bleiben sollte, scheint er für unseren Zusammenhang von eher sekundärem Interesse. Relevanter für die Frage nach Hintergründen und Potentialen partizipatorischer Verfahren ist hier das modellhafte Durchspielen oder Testen der Idee einer kulturellen Institution, die weitgehend ohne Hierarchien, Kontrollmechanismen und bürokratische Regelungen auskommt.
Nach einer ersten Version der "Offenen Bibliothek" 1991 in Graz und einem Modell für ein frei zugängliches Werkzeuglager (Toronto 1991), das nach dem selben Prinzip funktionieren sollte, stellt die Hamburger Version der "Offenen Bibliothek", ausgeführt im Herbst 1993, die erste ausgereifte Variante dar. In drei demographisch unterschiedlichen Bezirken wurden Schaltkästen der E-Werke mit Regalbrettern und Glastüren ausgestattet und so zu öffentlichen, frei zugänglichen Bibliotheken umfunktioniert. Im Vorfeld des Projekts wurden Anwohner über das Konzept informiert und um Buchspenden gebeten. Lediglich eine Minimalregel zur Benutzung der Bibliothek wurde vor Ort schriftlich festgehalten: "Entnehmen Sie bitte die Bücher ihrer Wahl und bringen sie diese nach einer angemessenen Zeit zurück. Ergänzungen des Bücherbestandes sind willkommen." Das Fehlen von weiteren Vorschriften und Instanzen der Überwachung überträgt die Verantwortung für das Funktionieren und das Geschick der Einrichtung ihren Nutzern. Clegg & Guttmann sehen darin "ein Experiment mit einer radikal demokratischen Einrichtung."[24]
Die politische Dimension einer solchen "Versuchsanordnung" liegt in der Herausforderung eines selbstbestimmten kollektiven Handelns, dessen weitgehende Regellosigkeit innerhalb der Normalität einer institutionell verwalteten repressiven Gesellschaft keinen Platz hat. Fragen, die sich daraus ergeben, formulierten Clegg & Guttmann änläßlich ihres Grazer Projekts: "What happens when you leave books unprotected by guards or librarians? How will people react to such an utopian proposition? People are very opinionated about questions like that. But they have no data to rely on. We wanted to find out what the real situation was."[25] Die das Projekt begleitenden soziologischen Studien haben sowohl ein hohes Maß an Beteiligung, die sich u. a. in der fast vollständigen Erneuerung des Bibliotheksbestands im Laufe der Projektdauer manifestierte, als auch eine grundsätzlich positive Reaktion auf den "utopischen Vorschlag" ergeben: "Begründungen für die Attraktivität des Projekts nahmen vor allem Bezug auf den geleisteten Vertrauensvorschuß, auf die eröffneten Kommunikationsmöglichkeiten und die Verstärkung von Solidarität auf der Basis von Austauschbeziehungen."[26] Auch wenn die Beteiligung an dem Projekt von Bezirk zu Bezirk variierte und letzlich eine Spannweite hatte, "die von Vandalismus bis zur Unterstützung durch Bürgerinitiativen reichte,"[27] verweist die Gesamtheit der daraus entstandenen kommunikativen Situationen und sozialen Beziehungen auf eine Bedürfnisstruktur, die der "utopischen" Dimension einer radikal demokratischen Einrichtung eine reale Grundlage verleiht. Sie ist es letztlich auch, die den großen Worten vom "breaking down the boundaries to life", mit denen Clegg & Guttmann ihre Praxis in der Anspruchsgeschichte der historischen Avantgarden positionieren, ihre etwas überzogene Rhetorik nachsehen läßt. Obwohl die Arbeit von Clegg & Guttmann seit längerem fest im Kunstbetrieb verankert ist und sie diesen Hintergrund auch ganz selbstverständlich für "außerkünstlerische Projekte" nützt,[28] bezieht sie ihre theoretische Grundlage aus einer speziellen Lektüre von Peter Bürgers Theorie der Avantgarde. Sie greift die dort beschriebene Intention der historischen Avantgarden auf, die Kunst in Lebenspraxis zu überführen, ignoriert aber Bürgers Historisierung dieses Anspruchs, der zufolge die Überführung der Kunst in Lebenspraxis nicht stattgefunden hat und "wohl auch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht stattfinden kann."[29] Nach Bürger haben "die Mittel, mit deren Hilfe die Avantgardisten die Aufhebung der Kunst zu bewirken hofften, inzwischen Kunstwerkstatus erlangt," daher könne "mit ihrer Anwendung der Anspruch einer Erneuerung der Lebenspraxis legitimerweise nicht mehr verbunden werden." Für Bürger institutionalisiert die Neoavantgarde die Avantgarde als Kunst  und negiert damit die genuin avantgardistischen Intentionen."[30] In bezug auf Bürger scheint es tatsächlich eine "very particular interpretation", die avantgardistische Rhetorik aufrecht zu erhalten und sie auch noch mit einer "position of leadership"[31] zu verknüpfen. Dennoch zeichnet diese Interpretation der Avantgardegeschichte als "an inspiration for a process of democratizing institutions"[32] einen Weg, sich von der großen Erzählung revolutionärer "Avantgarde" zu verabschieden, ohne ihre gesellschaftskritischen Potentiale aufzugeben. Teilansprüche der historischen Avantgarde, wie sie bei Bürger gefaßt sind, etwa die "Aufhebung des Gegensatzes zwischen Produzenten und Rezipienten",[33] die kollektive Rezeptionsform oder die Vorstellung, daß "Kunst und Lebenspraxis eine Einheit bilden, wenn die Praxis ästhetisch ist und die Kunst praktisch,"[34] versprechen Arbeiten wie die "Offene Bibliothek" durchaus einzulösen. Wie effektiv solche Praktiken in bezug auf die Demokratisierung der Institution Kunst sein können, ist eine offene Frage. Die interessantere Frage wäre aber, was es für die emanzipatorische Symbolkraft einer zweifellos erstaunlich funktionierenden radikaldemokratischen Versuchsanordnung bedeutet, wenn sich - wie in Hamburg - herausstellt, daß eine solche Einrichtung unter der Bevölkerung mit dem größten ökonomischen und Bildungskapital am erfolgreichsten ist, jener Bevölkerungsgruppe, die auch unter normalen Umständen am demokratischen Prozeß (z. B. Wahlen) am meisten partizipiert.[35] In diesem Zusammenhang wäre dann auch die Problematik des "Porträts einer Gemeinschaft" zu diskutieren, wenn dieses nicht anderes abzubilden droht als die etwas stereotype Vorstellung von einer dem sozialen Niveau korrespondierenden Demokratiefähigkeit.

 

... und Gegen-Bewußtsein

Den Projekten von Clegg & Guttmann, insbesondere der "Offenen Bibliothek", ist zweifellos ein hohes Maß an konzeptioneller Reflektiertheit und Präzision in der praktischen Umsetzung zu bescheinigen. Dadurch unterscheiden sie sich auch von einer Reihe anderer Projekte, die über eine rhetorisch-spielerische Ebene nicht weit hinauskommen. Dennoch erscheint die Konstruktion einer singulären Stellung, wie sie in der Diskussion dieser Arbeit immer wieder vorgenommen wird, etwas fragwürdig. Der abstrakte, generalisierende Bezug auf partizipatorische Ansätze in der Kunst der 60er und 70er Jahre, die verallgemeinernd als "gescheitert" betrachtet werden, dient dabei letztlich nur zur Markierung der historischen Sonderstellung von Clegg & Guttmann. Die Künstler selbst betonen, daß sie "das Projekt nicht als Wiederbelebung der (etwas naiven) Arbeiten der 60er Jahre sehen."[36] Und Michael Lingner, der sich explizit mit der kunsthistorischen Dimension der "Offenen Bibliothek" befaßt, grenzt deren Funktionsweise radikal von allen früheren Versuchen der Übertragung von Handlungskompetenzen an das Publikum ab. Zwar habe es "vielfältige Versuche der künstlerisch-produktiven Einbeziehung des Publikums" gegeben, doch seien die "auf Selbstbestimmung des Publikums gerichteten künstlerischen Handlungskonzeptionen der 60er Jahre ... bis heute nicht praktiziert, sondern weitgehend bloß als Idee präsentiert und rezipiert worden."[37] Nur aus Lingners hauptsächlichem Bezugspunkt, den "Handlungsobjekten" von Franz E. Walther, läßt sich erklären, daß er in der Art und Weise, wie Clegg & Guttmann "alles daran setzen, das selbstbestimmte Handeln des Publikums tatsächlich praktizierbar zu machen, statt sich auf die Durchsetzung dieser Idee im Kunstkontext zu beschränken," einen "fundamentalen Unterschied ihrer künstlerischen Position gegenüber der Geschichte" erkennt.[38]
Von solchen "fundamentalen" Differenzen kann allerdings keine Rede mehr sein, sobald man sich historischen Modellen zuwendet, die jenem der "Offenen Bibliothek" tatsächlich nahestehen. Als eines der elaboriertesten Konzepte partizipatorischer Kunstpraxis, welches gleichzeitig über lange Zeit hinweg konsequent verfolgt wurde, möchte ich hier die Projekte erwähnen, die Stephen Willats seit den 60er Jahren ausgeführt hat. An Willats' Arbeit kann auch exemplarisch gezeigt werden, daß die pauschale Rede von der "Naivität" bzw. lediglich ideellen Natur älterer Modelle partizipatorischer Praxis so nicht haltbar ist.
Stephen Willats produziert in den frühen sechziger Jahren kinetische Objekte und plastische Konstruktionen, die teilweise bereits auf Interaktivität mit dem Publikum ausgerichtet sind. Kritische Überlegungen zum elitären Charakter des Museums und zur ausschließenden Struktur des Kunstsystems führen Willats jedoch sehr bald zur Ausarbeitung neuer Arbeitsmethoden, die zwar auf dem "kommunikativen" Grundzug der frühen Objekte aufbauen, aber den Schwerpunkt von der Beziehung zwischen Menschen und Objekten auf intersubjektive, also soziale Beziehungen verlagern. Wenn Kunst als Kommunikationsform gedacht wird, dann muß sie sich nicht in der kommunikativen Beziehung zwischen Künstler und Publikum erschöpfen, sondern kann in bestehende soziale Räume und deren Beziehungen investiert werden. Der für Willats in dieser Hinsicht zentrale Begriff heißt "Selbstorganisation" und meint das Herstellen oder Intensivieren von sozialen Verhältnissen innerhalb einer Gruppe von am ästhetisch-kreativen Prozeß Beteiligten. Willats rückt das "Publikum" ins Zentrum des künstlerischen Prozesses: "I consider that the audience of the work of art is as important as the artist, and that the active involvement of people in the origination of art work is an essential part of the process of generating interventions in the social process of culture."[39]
Für dieses Verständnis von Partizipation sind vor allem zwei Punkte  festzuhalten: das "Publikum" (nun ja Mitproduzent) ist bereits in die Entstehung des Kunstwerks eingebunden, und nicht erst in die Aktualisierung einer vorgegebenen Partitur, wie in anderen Modellen, etwa der Fluxus-Künstler, oder in die Umsetzung einer von mehreren vorgegebenen Möglichkeiten. Und zum zweiten ist von "Interventionen in den sozialen Prozeß" die Rede, d. h. von einem Handlungsraum jenseits des eigentlichen Kunstzusammenhangs. Den Projekten von Willats geht es also weniger um die abstrakte Idee von "Partizipation" als in irgendeiner logischen Folge des "Tods des Autors" stehend, sondern sie orientieren sich von vornherein primär am konkreten Lebenszusammenhang jener Menschen, die an ihnen beteiligt sind, und sie zielen immer auch auf eine Veränderung dieser Lebensverhältnisse: "From the outset it became obvious that a model of practice would be required that would bind it to the context in which the artwork was to be presented, and which could embody the priorities, languages and behaviours of the audience."[40]
Die Neudefinition des Verhältnisses von Kunst und Öffentlichkeit, um die es hier geht, erweitert nicht bloß numerisch einen mit den Konventionen und Kriterien der Kunst vertrauten Rezipientenkreis um die unbestimmte Dimension des Normalbürgers, der damit auch an den Werten des Kreativen und Ästhetischen aktiv teilhaben würde. Kennzeichnend für Willats' Modell ist vielmehr die Konzentration auf ein zwar anderes, aber wiederum sehr spezifisches Publikum, welches größenmäßig zunächst mit dem Kreis der jeweiligen Projektteilnehmer mehr oder weniger ident ist. Dies hat seinen Grund darin, daß nicht nur die Aufhebung der Trennung zwischen Produzenten und Publikum angestrebt wird, sondern diese Gruppe(n) zugleich auch das Thema, den Inhalt der Arbeit darstellt.
Die gesellschaftskritische Position, aus der heraus Willats mit jenem spezifischen Publikum kooperiert, basiert auf der Einsicht in die institutionellen Zwänge moderner Lebensbedingungen, die sozialen Normen und kulturell vorherrschenden Codes, die das Alltagsleben, die Verhaltensweisen und Wahrnehmungen der Menschen dominieren. Exemplarisch verkörpert findet Willats diese repressiven Strukturen in den charakteristischen Wohnblöcken der Nachkriegsmoderne, die auf das psychische wie soziale Leben ihrer Bewohner - einer widersprüchlichen "Gemeinschaft von Isolierten" - wesentlichen Einfluß haben. Die Projekte, die Willats mit den Bewohnern erarbeitet, sind auf das In-Gang-Setzen von Wahrnehmungsprozessen ausgerichtet, die zu einer Analyse und möglichen Veränderung sowohl der individuellen Verhältnisse zur Umgebung als auch der sozialen Beziehungen untereinander führen sollen. Dabei geht Willats von einem latent vorhandenen "Gegen-Bewußtsein" (counter-consciousness) aus, das sich den gesellschaftlichen Zwängen gegenüber im subversiven Umkodieren von Zeichen und einem Spektrum von Handlungen äußert, das von Graffitis über Zerstörungen bis zu "mißbräuchlichen" Nutzungen von öffentlichen Räumen reicht. Ein Teil der Arbeit besteht darin, unterschiedliche Formen von Gegen-Bewußtsein zu artikulieren und durch die Konfrontation mit anderen von der individuellen Ebene auf die gesellschaftliche zu heben.
Willats' Modell einer partizipatorischen Praxis läßt sich an einem Projekt wie "Vertical Living" (1978) veranschaulichen. Nach Auswahl eines typischen gemeindeeigenen Wohnblocks, Skeffington Court in West London, erfolgt die erste Kontaktaufnahme mit dem Hausmeister und der hier lebenden Mutter eines Freundes, um zunächst in offener Weise über die Idee einer Zusammenarbeit mit Bewohnern zu diskutieren und sich potentielle Teilnehmer vorstellen zu lassen. Nach Konstituierung einer größeren Teilnehmergruppe führt Willats über drei Monate hinweg Einzelgespräche, die sich auf die Beziehung zwischen dem Gebäude und den täglichen Lebensgewohnheiten, dem Freizeitverhalten und sozialen Kontakten beziehen. Die Tonbandaufzeichnungen der gesammelten Gespräche eröffnen dann einen Problemhorizont, auf dessen Basis noch einmal spezifischer über bestimmte Probleme gesprochen werden kann. Schließlich werden von jeweils einem/r BewohnerIn in Zusammenarbeit mit dem Künstler Schautafeln hergestellt, die durch Fotos und Texte einen bestimmten Sachverhalt, ein Problem, ein Defizit oder eine Erwartung adressieren. Die Tafeln werden am Gang neben dem Lift aufgestellt, wobei der architektonischen Struktur insofern Rechnung getragen wird, als in regelmäßigen Abständen neue Tafeln zwei Stockwerke höher plaziert werden. Zusätzlich werden Antwortblätter verteilt, auf denen andere Mieter Lösungsvorschläge für angesprochene Probleme artikulieren können, die wiederum gesammelt und öffentlich präsentiert werden. Der Projektverlauf generiert neben der notwendig gewordenen physischen Beweglichkeit innerhalb des Blocks vor allem eine kommunikative Dynamik, die ein Netz sozialer Beziehungen hervorbringt, das als so produktiv empfunden wird, daß ähnliche Strukturen auch nach Ende des Projekt von den Mietern selbst weitergeführt werden. Auch wenn Willats von einem Kunstbegriff als sozial relevanter Praxis ausgeht, bezweckt er keine unmittelbare "Verbesserung" sozialer Situationen. Die jeweiligen Interventionen eröffnen lediglich einen neuen Handlungsrahmen, der, wenn er angenommen oder weiterentwickelt wird, auch nachhaltige Veränderungen möglich macht.

Die einzelnen Tendenzen partizipatorischer Kunst - die spielerische und/oder didaktische, die "pastorale" und die "soziologische" - haben zumindest eines gemeinsam: den institutionskritischen Hintergrund, also die Kritik am sozialen Ausschließungscharakter der Institution Kunst, dem sie "einschließende" Praktiken entgegensetzen. Für alle bedeutet "Beteiligung" mehr als die Ausdehnung des Rezipientenkreises. Die Form der Beteiligung und die Beteiligten selbst werden konstitutive Faktoren inhaltlicher, methodischer und ästhetischer Aspekte. Die einzelnen Tendenzen unterscheiden sich allerdings stark in ihren Vorstellungen von "Gemeinschaft" und ihren Kriterien für soziale Relevanz. Die einen verstehen die Community als präexistent und tendieren deshalb dazu, ihr (feststehende) Identität zuzuschreiben. Für andere ist Gemeinschaft ein im Projektverlauf hervorgebrachtes temporäres Phänomen mit Entwicklungspotential.
Der Wert oder Erfolg partizipatorischer Praktiken scheint letztlich weder allein nach dem Ausmaß von Handlungskompetenz beurteilbar, das sie den Beteiligten eröffnen, noch am Maßstab der "konkreten Veränderung." Gerade gegenüber dem oft erhobenen Postulat der Nützlichkeit scheint Skepsis angebracht. Was angesichts der weitgehenden gesellschaftlichen Folgenlosigkeit von Kunst einmal notwendig schien, auf der Möglichkeit "realer" Wirkung zu beharren, steht unter anderen Vorzeichen, wenn es immer mehr die übergeordneten politischen Instanzen sind, die Engagement, Solidarität und Bürgerbeteiligung einklagen. Die Nützlichkeit sozialen (künstlerischen) Handelns paßt unter Umständen ins Kalkül eines Staates, der sich seine Bürger nicht mehr leisten kann und sie deshalb zur Selbsthilfe aufruft. Das eingangs zitierte Konzept der "Bürgerarbeit" ist nur ein Beispiel für das Austauschen von politischen Partizipationsmöglichkeiten durch "soziale Praxis." Unter solchen Bedingungen scheint die Frage berechtigt, ob nicht Veränderungen auf "nur" symbolischer Ebene, wie sie bestimmte Modelle partizipatorischer Praxis intendieren, gegenüber den "konkreten" wieder aufgewertet werden müßten. In vielen Fällen sind sie es, die zumindest die Idee politischer Handlungsfähigkeit bewahren. Nicht zuletzt deshalb, weil sie zunächst beim politischen Bewußtsein und den Grundlagen von Mitbestimmung verweilen, ohne sich sofort dem Pragmatismus der Problemlösung zu verschreiben.

aus: Marius Babias, Achim Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen, Dresden: Verlag der Kunst 1998


[1] Ulrich Beck, "Die Seele der Demokratie", Die Zeit, Nr. 49, 28. Nov. 1997, S. 7-8.

[2] Als VertreterInnen dieses Soziochics wären etwa Rirkrit Tiravanija, Christine & Irene Hohenbüchler oder Jens Haaning zu nennen. In ihrer Kritik solcher Vorgangsweisen, denen sie "ausgeprägten Ausbeutungscharakter" zuschreiben, haben Alice Creischer und Andreas Siekmann den Begriff "Subunternehmertum" geprägt. Dieses lagert die Produktion aus, schöpft aber den Mehrwert ab. Siehe A. Creischer/A. Siekmann, "Reformmodelle", springer, III, 2, 1997, S. 17-23. Jene Variante, die sich mehr auf die sozial-kommunikativen Beziehungen zwischen KünstlerInnen und AusstellungsbesucherInnen beschränkt, hat Nicolas Bourriaud anläßlich der von ihm kuratierten Ausstellung "Traffic" "Relationale Ästhetik" getauft.

[3] Zitiert nach Benjamin Buchloh, "Von der Faktur zur Faktografie", Durch, 6/7, 1990, S. 9.

[4] ebd.

[5] Zitiert nach Walter Benjamin, "Der Autor als Produzent", in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991, S. 688.

[6] ebd., S. 694.

[7] Allan Kaprow, Essays on The Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley/London: Univ. of California Press, 1993, S. 195.

[8] Manifest von George Maciunas (1965), zitiert nach Estera Milman, "Historical Precedents, Trans-historical Strategies, and the Myth of Democratization", in: FLUXUS: A Conceptual Country (= Visible Language, Vol. 26, 1/2), Winter/Spring 1992, S. 31.

[9] Mary Jane Jacob, "Outside the Loop", in: Culture in Action, Seattle: Bay Press, 1995, S. 52.

[10] Suzanne Lacy, "Cultural Pilgrimages and Metaphoric Journeys", in: dies. (ed.), Mapping the Terrain: New Genre Public Art, Seattle/Washington: Bay Press, 1995, S. 37.

[11] ebd., S. 32.

[12] ebd., S. 36.

[13] ebd.

[14] Michael Brenson, "Healing in Time", in: op. cit., Culture in Action, S. 21.

[15] In ihrem Text "Won't Play Other to Your Same" in Texte zur Kunst, 3, 1991, hat Renée Green festgestellt, daß es sich bei der Konstruktion des "Anderen" um die Zuweisung eines Zustands handeln kann, die auch dazu dient, die "Gleichartigkeit" als Norm zu bestätigen.

[16] Brenson in op. cit., S. 27.

[17] Siehe dazu Seyla Benhabib, "Ein Blick zurück auf die Debatte über 'Frauen und Moraltheorie'", in: dies., Selbst im Kontext, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1995, S. 161-220.

[18] Lucy Lippard, "Looking Around: Where We are, Where We could be", in op. cit., Lacy, S. 126.

[19] op. cit. Jacob, S. 56.

[20] Für eine Kritik, die sich mehr mit den problematischen "Effekten" als mit den ideologischen Hintergründen befaßt, siehe Christian Höller, "Störungsdienste", springer, I, 1, 1995, S. 20-26, und Miwon Kwon, "Im Interesse der Öffentlichkeit...", springer, II, 4, 1996/97, S. 30-35. Ulf Wuggenig kritisiert wiederum die Abwehr der "populistischen Gemeinschaftsorientierung" der NGPA durch die "elitär und individualistisch orientierte" Kunstwelt. U. W., "Kunst im öffentlichen Raum und ästhetischer Kommunitarismus", in: Christian Philipp Müller, Kunst auf Schritt und Tritt, Hamburg: Kellner, 1997, S. 88f.

[21] Adrian Piper, "Notes on Funk I-IV", in: dies., Out of Order, Out of Sight, Vol. I: Selected Writings in Meta-Art 1968-1992, Cambridge, Mass./London: MIT Press, 1996, S. 201.

[22] op. cit., Lacy, S. 16.

[23] Clegg & Guttmann, "Entwurf für eine 'Open Air' Bibliothek", Durch 6/7, 1990, S. 136.

[24] Claus Friede, "Interview mit Clegg & Guttmann", in: Clegg & Guttmann, Die Offene Bibliothek, hg. von Achim Könneke, Hamburg/Ostfildern: Cantz, 1994, S. 18.

[25] Clegg & Guttmann, Breaking Down the Bounderies to Life: Avantgarde Practice and Democratic Theory, Nr. 1 der Schriftenreihe des AKKU, Wien, 1995, S. 57.

[26] Ulf Wuggenig, Vera Kockot und Kathrin Symens, "Die Plurifunktionalität der Offenen Bibliothek. Beobachtungen aus soziologischer Perspektive", in op. cit., Clegg & Guttmann, Die Offene Bibliothek, S. 88.

[27] ebd., S. 85.

[28] Im zitierten Interview mit Friede, S. 20.

[29] Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 72.

[30] ebd., S. 80.

[31] Clegg & Guttmann, op. cit., Breaking Down the Bounderies..., S. 43.

[32] ebd., S. 35.

[33] op. cit., Bürger, S. 72.

[34] ebd., S. 69.

[35] Siehe die Ergebnisse der soziologischen Studie in op. cit., Wuggenig et al, "Zur Plurifunktionalität der Offenen Bibliothek", S. 84.

[36] op. cit., Clegg & Guttmann, "Entwurf für eine 'Open Air' Bibliothek", S. 136.

[37] Michael Lingner, "Ermöglichung des Unwahrscheinlichen. Von der Idee zur Praxis ästhetischen Handelns bei Clegg & Guttmanns Offener Bibliothek", in: op. cit., Clegg & Guttmann, Die Offene Bibliothek, S. 50.

[38] ebd.

[39] Stephen Willats, Between Buildings and People, London: Academy Editions, 1996, S. 7

[40] ebd., S. 8.