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09 2003

Souveränität der Präsenz. Real Public Space als Situation

Alice Creischer / Andreas Siekmann

Im November des letzten Jahres sind wir nach Buenos Aires gekommen, um ein Projekt mit dem Arbeitstitel ExArgentina[1] zu beginnen. Das Projekt verstand sich zunächst als eine Form von ökonomiekritischer Untersuchung zur Wirtschaftskrise in Argentinien und zu den internationalen Lobbys, die davon profitieren. Unsere Investigation stützt sich als künstlerische Praxis auf den Begriff der Genealogie, wie er von Foucault entwickelt wurde – eine partikulare und lokale Kritik, die wie ein Bremsklotz auf globale und zentrale theoretische Produktionen wirken würde. Wenn Foucault von einem Aufstand des unterdrückten Wissens mit den Methoden einer nicht effektivierbaren Wissenschaft spricht, dann geht es in erster Linie um die Sichtbarkeit dieses Wissens. Diese Nichteffizienz der Methoden, die sichtbar machen, scheint übertragbar zu sein auf das Reservoir von künstlerischen Kategorien, die ihre optischen Instrumente in ihrer Anmaßung von Autonomie sehr fein geschliffen haben. Die Methoden der Sichtbarmachung dieses Wissens sind nicht austauschbar, sondern sie sind wie die Inhalte Ausdruck einer Involviertheit. Es geht also um keine letztgültige Analyse, eher geht es um die Suche nach einer Darstellungsweise, wie man das Wahrgenommene und die Schlussfolgerungen, die Empörung und die Solidarität so erinnerlich halten kann wie ein Gedicht oder ein Bild, das erst in dieser Form zur "aktuellen Taktik" werden kann.

 

Bewegung sichtbar machen

Wir blieben sieben Monate in Buenos Aires, reisten auch nach Posadas, Tucuman, Cordoba und Bahia Blanca. Nach dieser Zeit war es klar, dass es nicht nur um eine Form der Untersuchung geht, sondern darum, wie eine soziale Bewegung geschildert werden kann, die hier so eindringlich präsent ist und in die viele der bisherigen TeilnehmerInnen des Projektes involviert sind. Wir stehen also vor dem Problem, wie wir diese Bewegung schildern können, und zwar in einem hegemonialen Bereich, der so sehr und so häufig die Bilder ausbeutet, ihre Mitteilungen domestiziert und sie einer Universalität unterwirft, die jede Aussage unsichtbar macht. Wir stehen auch vor der Herausforderung, uns an eine integre künstlerische Praxis zu erinnern, die beweist, dass es möglich ist, solche Bewegungen in Würde sichtbar zu machen.

In Argentinien begannen wir, Reisebriefe zu schreiben – wie dieses altmodische Literaturgenre aus dem 18. Jahrhundert, als die Briefe eine Art Spiegelfunktion für die eigene Gesellschaft hatten. Das ist genau das, was die aktuelle Beschreibung der Zustände in Argentinien dem europäischen Blick antut. Ein Teil des letzten Briefe scheint uns ein präzise Beschreibung von dem zu sein, was "real public space" sein könnte, wenn öffentlicher Raum nicht mehr existiert, weil er komplett besetzt ist von privaten ökonomischen Interessen oder der Exekutive. Für uns ist "real public space" kein Ort, sondern eine Situation. Im Brief beschreiben wir die Besetzung des öffentlichen Raums durch die Wahlkampagnen und – am Ende – eine dieser seltenen Situationen von "real public space". Wir schrieben den letzten Brief, als wir schon wieder in Deutschland waren. So…

"… beginnen wir die Erzählung der Eindrücke vom Ende her und von dieser neuartigen Erfahrung von Entfernung, die so ist, als ob ein optisches Gerät nun nicht mehr taugt und neu eingestellt werden müsste. Aber man kommt mit dem Einstellen nicht nach, weil man sich selbst währenddessen immer weiter entfernt. Oder es ist so, wie von dem Hintersitz eines Autos aus durch die Heckscheibe nach hinten zu starren – in diese rasende Verkleinerung der Dinge, Personen und Ereignisse bis zu ihrem bloßen Punktsein.

 

Kampagnen als totale Besetzung des öffentlichen Raums

An diesem Ende ist Kirchner mit 22 Prozent der Stimmen Präsident von Argentinien. Trotz 2 Prozentpunkten mehr an Stimmen hat Menem auf eine Kandidatur zum zweiten Wahlgang verzichtet. Auf unserem Bildschirm in Berlin bleiben die Gesichter vom Sieger und vom Verlierer so undeutlich wie in Live-Bildern von Personen in einer Raumkapsel. Sie werden von nervösen Linien attackiert, und sie erinnern uns sofort an die Porträts von Menem, die erst ganz kurz vor der Wahl von den Kampagnenmachern zugelassen wurden, um eine Beschmierung zu verhindern. Es war ein abgewandtes Gesicht im Profil, von eben diesen horizontalen Linien durchzogen, so als ob die Kamera nur mit äußerster technischer Anstrengung diese Gestalt einfangen konnte. So vielbeschäftigt ist diese Person, die gerade aus einem Wagen in ein Gebäude eilt. Diese Anstrengung tragen nun beide Gesichter. Aber vor dem Bildschirm in Berlin ist dies zugleich nur ein Phänomen von Entfernung und Gleichgültigkeit – irgendwelche Präsidentschaftswahlen in irgendeinem unruhigen, bankrotten Land.
Hier wird die Wahl mit der Floskel: ein Stocken im dringend notwendigen Reformprozess abgehandelt. Schlimmstenfalls kommt Lopez Murphy als Alternative vor – ein Law-and-Order-Despot, dessen Gesetzesvorschläge darauf aus sind, Aufträge wie für sein eigenes Security-Unternehmen zu schaffen. Er hat in Buenos Aires gewonnen, er hat den größten Anteil der Stimmen erhalten, ebenso wie im ersten Wahlgang Menem. 80 Prozent aller ArgentinierInnen haben sich der Wahlpflicht gebeugt. Diesmal haben sie die Wahlzettel nicht bemalt – kein Clement ohne Arme –, sie haben keine Flüche darauf gekritzelt, noch Parolen darauf geklebt – all das, was in der vorherigen Wahl passierte und was eine deutliche Absage an diese Ja/Nein-Gehorsamkeit war, ‚Freiheit‘ aufzuführen.
Wir schreiben dies so ausdrücklich hin, weil wir zunächst nicht begreifen können. In den 80er Jahren wurde in der Provinz Tucuman eine Person namens Bussi wieder gewählt. Er ließ alle Obdachlosen aus der Stadt San Miguel de Tucuman ins Umland aussetzen, wo viele von ihnen verhungerten. In der Stadt war keine Armut mehr sichtbar. Bussi war während der Juntazeit bereits Gouverneur gewesen.
Was für eine Unterstellung ist diese Geschichte? Wer wird damit als dumm verurteilt, und wer als grausam? Die Unterstellung geht davon aus, dass es eine Verbindung gibt – oder zumindest eine Projektion von Verbindung – zwischen dem Wählen, den eigenen Absichten und der eigenen alltäglichen politischen Situation. Sie berücksichtigt nicht die Fiktionalität repräsentativer Politik und die Gewalt, mit der diese Fiktionen sich in die Wirklichkeit umsetzen.

Wir erinnern uns nun an einzelne Wahlplakate mit ihrer Komik. Rodriguez Saa stand vor Raffinerien mit der Überschrift ‚100 Prozent Argentina‘, obwohl der Verkauf der Raffinerien an internationale Konzerne die erste Welle von Massenarbeitslosigkeit verursachte. Kirchner versprach ‚en serio‘ (im Ernst) ein Land mit nationaler Industrie und einem funktionierenden Gesundheitssystem. Menem, derjenige also, der eine Symbolfigur für ‚die Krise‘ ist und der wegen Waffenschieberei und Korruption voriges Jahr unter Arrest stand, bewarb sich als Una Marca Registrada (eine eingetragene Marke). In Uruguay gibt es einen Badeort, der Punta del Este heißt und der zum größten Teil aus Apartmenthäusern besteht, in denen reiche ArgentinierInnen wohnen. Dort sahen wir einen Pavillon, der ganz zugeklebt war mit Menem-Plakaten, ein Zirkuszelt mit einer geklebten blauweißen Papierhaut und gekrönt von der Neonschrift ‚Menem‘ 2003. Es kam uns so vor, als ob diese Plakate mit den Filmplakaten von Familien- oder Anwaltsfilmen vor den großen Multiplexkinos in den Einkaufscentern austauschbar geworden wären, d.h. mit dem kollektiven Unterbewusstsein von Doris Day, von Milchflaschen auf dem Rasen vor dem Bungalow, von lichtdurchfluteten Versicherungsgebäuden, Schulen, Hospitälern und Fabriken, von einem nationalen Wohlfahrtsstaat, der die Bevölkerung pflegt und braucht. Diese Versorgung hat ihre notwendige Ergänzung in der Bedrohung des Wohlstandes von außen, im Ernstfall für Feinde von innen und in einer Technik des Krieges, an dessen Produktion die Familie beteiligt ist.

So weit zu dem Traum der Wahlplakate in ihrer Nachbarschaft zum Kino. Wenn dieser Traum die Wahrheit sein soll, dann nicht wegen einer Nähe zur Realität, sondern wegen der Macht, die seine öffentliche Präsenz durchsetzt. Die Wahrheit ist unumstößlich, solange die Kampagne Wahlen ‚rollt‘ (wie es in einem altmodischen Marketingdeutsch heißt). Dies – diese unfehlbare Harmonie der Kampagne – wird finanziert von IWF und Weltbank, weil ihr Ablauf sich selbst beweist. Der IWF hat den Wahlboykott von vorigem Jahr als Mangel an Bildung interpretiert. Das Geld für die Parteiapparate ist also als eine Bildungsmaßnahme gedacht.
Es gab Kandidaten, die Reden hielten, claquiert von einem ‚Volk‘, das aus den Provinzen gecastet wurde und bezahlt mit Empanadas oder T-Shirts. Man sagte, dass die Hochrechnungen in den Zeitungen sich nach der Bezahlung der jeweiligen Parteien richteten, ebenso wie manche Wetten anstellten, mit welchem Geldaufwand wer wie viele Stimmen kauft. Es gab riesige Graffitis auf Autobahnbrücken oder Unterführungen mit der Aufschrift ‚Menem / Romero‘ oder ‚Kirchner / Scioli‘. Gegen Ende des Wahlkampfes wurden – im Auftrag derselben Peronistischen Partei, aber des gegnerischen Lagers – Menem-Plakate überklebt mit dem Slogan ‚Menem al Gobierno / Bush al Poder‘ (‚Menem an die Regierung / Bush an die Macht‘). Diese Polemik hat Raffinesse, weil sie einen gleich lautenden Slogan kopiert, mit dem der Kandidat Hector Campora sich 1973 nur an die Regierung wählen ließ, damit der alte Peron an die Macht zurückkehren konnte. So lautet der patriotische Mythos, der nun ‚beschmutzt‘ ist durch den Ersatz von Peron durch den verhassten Bush. Dieselben Techniken also, die wir in Europa Kommunikationsguerilla nennen mögen, sind in der Macht von Parteien, weil sie bis in die Zeit zurückreichen, in der diese Parteien verboten waren und Verbindungspersonen in den einzelnen Barrios ihre Slogans an die Wand malten – nur dass sich in den Jahren der Macht diese Subversivität in ein Instrument von Kontrolle gewandelt hat.

Es ist sicher, dass niemand an die Versprechungen der Plakate glaubte. Vielleicht war die Entscheidung, zu wählen und die Wahlscheine nicht in Unordnung zu bringen, nicht einer Logik der Verheißung, sondern einer Logik jener Angst zu verdanken, die die Kampagnen erregten wegen ihrer Allgegenwärtigkeit und wegen der Drohungen, mit denen sie eskortiert wurden. In der Fernsehwerbung wurden oft Armenviertel wie eine Ermahnung gezeigt, es nicht dahin kommen zu lassen und die eigene Haut noch einmal mit der eigenen Stimme vor einem Sein in dieser Armut zu retten. Uns kam es so vor, als ob diese Warnung von den reichen Funktionären an eine Schicht von kleinen Leuten gerichtet wurde, die ihre frische Dezimierung noch spürten und deren ehemalige Nachbarn die letzte Welle von Obdachlosen bildeten. Sie halten wie eine schmerzhafte Erinnerung den Raum in der Stadt besetzt.

 

Kampagnen der Vertreibung

Also nun zur Stadt selbst, zu diesem physischen, von Armut besetzten Raum. In der Stadt begann gleichzeitig mit der Macht, Fiktionen präsent zu machen, eine Kampagne der Vertreibung, eine Kampagne der Auslöschung von allen Formen der Selbstorganisation, die als Symptom der Krise betrachtet wurden. Zuerst wurden die besetzten Häuser in Buenos Aires geräumt, die als Orte für Stadtteilversammlungen, Volksküchen, kulturelle und politische Initiativen dienten. Indymedia, die Chronistin dieser Vertreibungen und selbst vertrieben bei der Räumung einer ehemaligen Bankfiliale, zitiert Menems Versprechen: ‚die Straßen von Kommunisten und anderen Delinquenten zu säubern, um das soziale Chaos zu stoppen‘, die mit ähnlichen Äußerungen der Konkurrenten austauschbar sind.
Einige Wochen vorher begann eine Debatte in den Medien der etablierten Intelligenz über die neuen sozialen Bewegungen und die westliche Rezeption, die man unter dem Stichwort Turismo Piquetero zusammenfassen kann. In dieser Diskussion gelang eine endgültige Verschiebung der bisherigen Ursache der ‚Krise‘ – von der Korruption einer Politikerkaste, die sich zusammen mit den internationalen Finanzkonzernen bereicherte, hin zu den ‚Symptomen‘: der Armut, dem Protest, der Selbstorganisation von Armen, um weiterzuleben, den Forderungen nach Ermöglichung des Überlebens, die sich eben nicht ausschließlich an einen Staat richten, sondern an das Eigentumsparadigma einer gesamten Klasse, der Impertinenz dieser Symptome, nicht zu verschwinden. Dies alles wird zum Objekt des Voyeurismus von Fremden. Aber welche Lust des Betrachtens verbindet die Fremden mit den Personen, die sich organisieren? Welche Majestätsbeleidigung ist es, nicht die Macht, sondern ihr Abjekt zu studieren? Wir stellen diese Fragen mit dem Nachdruck der Voyeure.
Als erstes wird ‚el Padelai‘ geräumt, ein seit 20 Jahren besetztes Haus, in dem zur Zeit der Räumung über 500 Personen lebten. Die meisten davon waren jünger als 18 Jahre. 300 Polizisten räumen das Gebäude mit Tränengas und Gummigeschossen. Sie nehmen 86 Personen fest und verletzen mehr als 40. Es folgen die Treffpunkte der Arbeitslosenorganisation San Telmo und Florencia Varela, die Gemeinschaftsküche in Almirante Brown, der Treffpunkt der H.I.J.O.S., das Haus der Asamblea Paternal, das soziale Zentrum ‚Azucena Villaflor‘, um nur einige der ersten zu nennen.
Indymedia schreibt: ‚Der Repressionsapparat ist überall und ständig präsent. Vor jedem Supermarkt und jeder Bank stehen Polizeitruppen mit ihren schusssicheren Westen. Straßensperren gehören genauso zum Alltagsbild, wie oftmals mit Maschinenpistolen ausgerüstete Robocops auf politischen Protesten.‘ Wir haben diese Bilder auch gesehen, aber sie haben uns zuerst nicht erschreckt – so alltäglich war ihre Präsenz, und so unbedroht lebten wir selbst hinter unserem Guckloch. Alle Maßnahmen werden durch eine neue ‚Antiterror‘-Gesetzgebung legitimiert, die genau ein Jahr nach dem 11. September durch die US-Botschaft und die dazu autorisierten Beamten der Legislative abgeschlossen wurde. Das Gesetz soll eine Zusammenarbeit von Sicherheits- und Armeekräften und den Geheimdiensten ermöglichen. Es ermächtigt diese Organisationen, gegen ‚terroristische Kriminalität‘ auf bloßen Verdacht hin vorzugehen. Terroristische Kriminalität kann alles bedeuten. Es ist dieselbe Willkür und Entrechtung, die seit dem 11. September in beinahe allen ‚Demokratien‘ passiert und einen neuen Standard von Staatsgewalt setzt.

 

Ein Sänger als Souverän seiner Präsenz

Die Räumung der Anzugfabrik Brukman ist das zentrale Ereignis im Wahlkampf von Buenos Aires. Brukman gehört zu den ungefähr 180 selbstverwalteten Betrieben des Landes, die täglich die Möglichkeit einer Produktion ohne Chef und ohne Eigentümer beweisen. Am Karfreitag drangen um 2 Uhr nachts circa 150 schwer bewaffnete Polizisten in die Fabrik ein, auf Befehl des neuen Richters Grimoldi, der ein Mitglied der Junta war. Die Clique des Präsidenten Duhalde hatte diesen Richter in den Tagen zuvor in das Amt eingesetzt und die Akten von Brukmann für geheim erklärt. Sie bewies wieder einmal ihre schnelle Bereitschaft, Politik zu militarisieren. Die Arbeiterinnen konnten in kurzer Zeit eine große Menge von Personen mobilisieren, die gegen diese Räumung vier Tage lang protestierten, bis die Polizei die 7000 Menschen vor der Fabrik vertrieb, verfolgte und viele gefangen nahm.
Die Tage zwischen der Räumung, dem Protest und der Vertreibung machten deutlich, dass es nicht so ist, als ob es zwei getrennte Parteien von Macht und Empörung gibt, sondern dass sie verbunden sind durch ein Gewebe von Vermittlungs- und Rechtsprechungsapparaten, die von der einen Seite angerufen und von der anderen Seite benutzt werden. In dem Bereich der Fiktionalität des Wahlkampfes war die Räumung von Brukman ein Schauprozess, der im Auf- und Abtreten der Instanzen und Einsprüche die Unantastbarkeit des Privateigentums und den damit einhergehenden Sinn von Staatsgewalt als dessen Schutz beweist. Die Erklärung der beiden Richter, die die Räumung anordneten, war, dass ‚in Hinblick auf ökonomische Interessen keine Souveränität des Lebens und körperliche Unversehrtheit gegeben ist‘. Sie ruft große Empörung hervor und wird danach zurückgenommen, aber sie steht wie eine neue Säule im Raum, wie eine Präambel zu einer neuen Verfassung.

Es ist aber nicht richtig, zu sagen, dass ein Schauspiel aufgeführt wurde, in dem nach und nach all diese Instanzen die Bühne betreten, argumentieren und ihre Verbeugung machen. Man würde dann alle gleichsetzen: das Arbeitsministerium, verschiedene Polizeichefs, Richter, Staatsanwälte, Abgeordnete, Anwälte, Journalisten, Arbeiterinnen, Männer, Frauen und Kinder. Man würde alle als bloße Spieler vor der Kulisse von Macht abtun, die schon am ersten Tag ihre Polizeitruppen aufgestellt hat. Bevor man von Aufführung, Zweck und Ausgang spricht, muss man sich erinnern an einzelne Tage oder Stunden, an ihre Empörung und Schönheit. Wir erinnern uns zum Beispiel an eine Nacht, in der ein großes Tango-Orchester vor den Absperrungen spielte, mit denen die Polizisten die Fabrik blockierten. Es war anscheinend direkt vom Konzertsaal dorthin gekommen. Der Sänger benutzte nur dann ein Megaphon, wenn bestimmte Stellen des Liedes an die Polizisten gingen. Er sang dann eigenartig leise und gespreizt. Es war klar, dass der Sänger ein Souverän seiner Präsenz war, dass er seine Präsenz nur zum Teil der Beschimpfung in das Verhältnis zur Staffage von Macht stellte. Den großen Rest behielt er denen vor, die auf den Bordsteinkanten der Straße saßen oder auf dem Rasen im nah gelegenen Park."

 

Resümee

Wie viele andere sind wir damit beschäftigt, Kohärenzen herzustellen zwischen politischem Aktivismus, politischer Theorie und politischer Kunst. Aber oft kommt uns das vor wie ein Raum, der nur in unserem eigenen Kopf existiert, oder so als ob es eine Einbahnstraße von politischen Informationen und Debatten gibt, die wir im Bereich der Kunst aufnehmen und zeigen können.

Vielleicht ist diese Vermutung auch in sich falsch, weil sie von einem Austausch ausgeht, der von Identität zu Identität geschmiedet wird. So als ob wir als "Künstler" von "Argentinien" berichteten vor "Hausbesetzern", "Medienaktivisten" und "Philosophen". Nehmen wir diese Identitäten als gegeben an, so ordnen sie sich automatisch zu einer Pyramide, die auf dem Kopf steht. Die Aktivisten würden die untere Spitze bilden – sozusagen "das Reale", von der eine Linie zur Theorie abzweigt – eine normative Beziehung, in der die Theorie die politische Aktion beurteilt. Die andere würde zur Kunst abzweigen – eine Beziehung der Verwertung, in der die künstlerische Arbeit sich mit dem gesellschaftlichen Sinn der politischen Aktivität auflädt. Sie wären zu vergleichen in ihrem Aufbau mit den Gemälden in dem Raum des Istituto per gli Studi Filosofici, in dem wir beim Workshop in Napoli saßen, die von den banalen Wolkenrändern immer mehr in die Höhe der Geisteswelt verwiesen.

Diese Schematisierung wird schon von den verschiedenen Tätigkeiten und Engagements der einzelnen Personen, die berichten, erschüttert. So sind wir hier nicht als "Künstler" aufgetreten, sondern eher als Reisende, die einen Bericht zur Zurichtung und Freisetzung von öffentlichem Raum in Argentinien vortragen. Und es wäre utilitaristisch, nun zu fragen, wer etwas davon gebrauchen konnte, ob Adressen ausgetauscht oder Kooperationen geplant wurden. Die Tage in diesen Räumen taugen zu keinem schnellen Sinn, weil sie eben zu dieser Ansammlung von nicht effektivierbarem Wissen gehören.

Wir müssen uns aber fragen, was passiert, wenn sich die Treffen wiederholen, wenn sich viele von uns immer wieder treffen, berichten, reden. Welcher Raum entsteht da und wie vermeidet man es, sich aneinander abzunutzen? Ein Freund von uns meinte, dass es eine politische Aufgabe sei, die Themen lebendig zu halten. Wir glauben, dass das nur geht, wenn man sie in ihrem aktuellen antagonistischen Verhältnis denkt.


[1] ExArgentina ist ein Projekt des Goethe Instituts Buenos Aires, gefördert von der Bundeskulturstiftung Deutschland, über die ökonomische Krise in Argentinien als ein perfektes Beispiel der Konsequenzen der internationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik und ihrer neoliberalen Ideologie. Wir arbeiteten und diskutierten mit politischen Gruppen und KünstlerInnen. Ein Resultat unserer Reise wird im März 2004 eine Ausstellung im Museum Ludwig in Köln sein. Das Projekt möchte künstlerisches und politisches Engagement unterstützen, das sich gegen die aktuellen globalen Machstrukturen stellt, und dabei auch Verbindungen zu europäischen Initiativen zeigen. http://www.exargentina.org/