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05 2007

Polarisierungen verwischen: Sprache und Übersetzung zur Zeit der Unruhen in Gujarat

Rita Kothari

Übersetzt von Hito Steyerl

Frag die untergehende Sonne,
Ob sie weiß, in wessen Augen sie heute ertrinkt?
Und ob sie morgen wie ein blutiger Dolch wieder aufgeht.
Welche Brust wird sie stechen?
Welche Adresse trägt die Todespost?
Und welche Hand wird wen ausliefern?
In Hände, die schwitzen und Felder bestellen?
Wer wird blutdurstige Waffen hinlegen?
Wer wird in dieser Stadt überleben, die in Feuer und Tränen schwimmt?[1]

 
Die Stadt, die in Feuer und Tränen schwimmt, ist Ahmedabad im Staat Gujarat. In dieser Stadt bin ich aufgewachsen. Und dennoch ist das vorherrschende Bild in meinem Geist nicht das der Kindheit; es ist ein Bild der Teilungen. Die Nehru-Brücke trennt die östlichen (wo religiöse und oft arme Minderheiten leben) von den westlichen Stadtteilen (dort leben betuchte Hindus der oberen Kasten). Die Brücke „überbrückt“ nicht, wie Brücken das tun sollten: Sie stellt eine zusätzliche Trennung in einer Stadt dar, die durch Grenzen der Kaste, Klasse, Religion und des Geschlechts geteilt wird. Diese Demarkationen charakterisieren nicht nur Ahmedabad. Ganz Gujarat trägt dieselben Narben. Die Unruhen 2002 entstanden durch diese Teilungen und verursachten wiederum andere. Sprache gehört dazu.

Mein Anliegen hier ist nicht, die Kontexte der Unruhen von 2002 zu erzählen: Beide, die schrecklichen Ereignisse des 27. Februar – angeblich von einer muslimischen Gruppe verübt – und die daraufolgende Gegenreaktion der Hindus, wurden oft diskutiert und debattiert.[2] Ich interessiere mich hingegen für die Sprachbarriere, die nach den Unruhen in Gujarat entstand und der zufolge die englische Sprache von Gujarati sprechenden und schreibenden Gruppen als gegen Gujarat ausgerichtet wahrgenommen wurde. Verweise auf englischsprachige JournalistInnen (die in der Mehrheit die Unruhen und die Komplizität der Regierung verurteilten), die von Menschen aus Gujarat hergestellt wurden, wimmeln von Phrasen wie „säkulare Taliban“ und „Anti-Hindu“ oder „Anti-Gujaratis“. Die Eliteintellektuellen Indiens kritisierten die Situation in Gujarat in englischer Sprache. Ihre Ansichten, verbunden mit der Sprache, die sie verwendeten, dienten dazu, sie als Feinde des Hinduismus zu brandmarken, als Menschen, die verdächtig sein mussten, weil sie auf Englisch schrieben, und brachten führende Leute wie S. K. Modi, einen Schriftsteller aus Gujarat, der auf Englisch schreibt, dazu, zu fragen: „Warum mag die englischsprachige Presse den Hinduismus nicht? Was ist das Problem mit dem Hinduismus? Oder etwa Hindutva?“[3]

In gewissem Sinne führt selbst die Diskussion dieses Phänomens zu einem ähnlichen Typ von Stereotypisierung und erregt möglicherweise den Zorn der Mittelklasse von Gujarat, die mich als Angehörige des anderen Lagers sehen würde. Das ist ein Risiko, das einzugehen ich bereit bin, nicht um meine Glaubwürdigkeit oder meine Affiliation mit dem einen oder dem anderen Lager zu etablieren, sondern um zu behaupten: Wenn Sprachen Kriegsmotive zugeschrieben werden und sie verwendet werden, um Menschen zu trennen, ist Übersetzung ein Überschreiten jener Zonen von (Kon-)Texten, um zu hören und gehört zu werden, ein Mittel, um Wunden zu heilen und Entfernungen zu überbrücken. Dies ist kein idealistischer Begriff von Übersetzungspraxen als solchen, sondern ein bewusster Wille dazu, der Übersetzung gewisse Rollen zuzuweisen. Es ist der Wille, insgesamt aus selbstbegrenzenden Zonen von Sprachen, Texten und Identitäten auszuwandern und sich in die Zone des „Anderen“ zu bewegen. Es ist eine anspruchsvolle Wahl, die ÜbersetzerInnen treffen können und manchmal treffen. Dieser Text demonstriert dies im Kontext von Gujarat, wo polarisierte Standpunkte in Bezug auf richtig und falsch, säkular und fundamentalistisch, Englisch und Gujarati wenige Möglichkeiten des Dialogs oder sogar der Ambivalenz offengelassen haben. ÜbersetzerInnen können die Zwischenräume dieses Zustands nutzen und versuchen, die Polarisierung zu verwischen.

 
Getrennte LeserInnenschaften: Gujarati und Englisch

Die Unruhen in Gujarat waren das erste Beispiel einer umfassenden Berichterstattung in Indien über Fernsehen und Kabel. Die Unruhen machten die durchdringende Wirkung digitaler Kommunikation, von Handys, SMS, E-Mail, Webseiten, mit dem Computer selbst produzierten Flugblättern, Postern und digitalen Kameras deutlich. Indem sie über die Ereignisse in Gujarat berichteten, die einigen als gerechte Hindu-Rache für einen immerwährenden islamischen Terrorismus und anderen als Genozid erschienen, wurden Medien sowohl zu Erzählern als auch zu Erzählten. Auf Englisch geführte Gespräche über die Unruhen waren mit Wörtern wie „Faschismus“, „ethnische Säuberung“ und „Pogrom“ durchsetzt. Auffallenderweise (natürlich mit Ausnahmen) wurde Gujarati mit den Äußerungen der lokalen Mainstream-Hindu-Gemeinschaft Gujarats assoziiert, die sich immer als „Opfer“ der Muslime versteht: Die Vergeltung wurde „gerechtfertigt“ durch die Umstände, die eine solche Reaktion hervorgerufen hatten. Für diejenigen, die Gujarati lesen und sprechen, schien es, als ob die englischen Medien das Feuer des Hasses dadurch schürten, dass sie ständig die Aufmerksamkeit auf das „Leiden“ der muslimischen Gemeinschaft lenkten, auf ihre Vertreibung, ihre Ängste oder die Bedingungen in den Auffanglagern hinwiesen. Auf der anderen Seite waren die Zurschaustellung der verkohlten Körper der Hindu-Passagiere, die im Zug verbrannt waren, und die sensationellen Details über Hindu-Frauen, deren „Brüste abgeschnitten worden waren“, provokativ für jene, die Zeitungen in Gujarati lasen und die Nachrichtensender auf Gujarati sahen. In diesem Fall wurde die Rolle von Gujarat Samachar und Sandesh, den zwei größten Tageszeitungen auf Gujarati, zum Gegenstand einer genauen Überprüfung des Verbands der RedakteurInnen, der die Medienberichterstattung in Gujarat untersuchte. Dem Bericht der Untersuchungskommission dieses Verbands zufolge gab es „prompte und ausführliche Berichte von Teilen der lokalen Presse und der nationalen Medien über unsagbare Gräueltaten, die nach dem Blutbad von Godhra an Unschuldigen verübt wurden […]“[4]. Die Medien in Gujarat seien „provokativ, unverantwortlich und verletzten auf himmelschreiende Weise alle allgemeinen Normen der Medienethik“[5]. Diese Sicht wird von allen „Säkularen“ (die jetzt abwertend „Pseudosäkulare“ genannt werden), die den Hindu-Gegenschlag in Gujarat unverzeihlich fanden, geteilt.

Was uns hier interessiert, ist, dass im Schreiben oder Sprechen über die Unruhen von Gujarat Englisch und Gujarati für zwei verschiedene Begriffe der Nation eingesetzt wurden. Die Rolle der englischsprachigen Reportagen bei der „Abschwächung“ der Leiden der Hindus, die „Betonung“ der Bedingungen für die Muslime und die Wahrnehmung, dass das Englische feindlich eingestellt war gegenüber den Interessen einer rigide definierten „Gujarati-heit“(Gujarati-ness), sowie der Einsatz von Gujarati im Dienste des kulturellen Nationalismus, wodurch ein Verständnis von Gujarat als kulturelle und politische Einheit, die nur reine Hindu-Sprache verwendet, begünstigt wird, definierten klar die Rollen, die die zwei Sprachen zu übernehmen hatten. Die Identität und der Stolz von Gujarat, die im Wort „asmita“ verkörpert sind, wurden beschworen und die englischsprachigen Medien als ihr Feind verunglimpft. Diese Verunglimpfung ging von RegierungsvertreterInnen[6] ebenso wie von Individuen aus, die Zuschreibungen wie „Fünf-Sterne-Klosterschüler und Pseudosäkularisten“ benutzten. Der bekannte und populäre Schriftsteller Chandrakant Bakshi zum Beispiel nennt die Englisch sprechende Intelligenz „gegen Gujarat eingestellte, säkulare Taliban“. Dies ist auch der Titel seines Buchs. In einem anderen Fall schreibt S. K. Modi: „Was treibt all diese englischsprachigen Männer und Frauen an? Warum macht es ihnen Spaß, ihre eigenen Leute in den Dreck zu ziehen? Ihr eigenes Land. Ihre eigene Gesellschaft. Unter welchen Komplexen leiden sie? […] Die englischsprachige Berichterstattung war so voreingenommen, so rachsüchtig gegenüber den Hindu-Gemeinschaften und so hasserfüllt gegen die ganze Gesellschaft Gujarats.“[7] Modi zufolge sind die englischsprachigen Reportagen über die Unruhen nichts als eine „Hasskampagne“[8].

Die Frage drängt sich auf, ob diejenigen, die die Unruhen auf Englisch kritisierten, dies taten, weil sie im Ideal des säkularen Kosmopolitismus erzogen wurden. Oder schreiben Menschen, die eine säkulare Ideologie annehmen, auf Englisch, weil ihre staatskritischen Äußerungen nicht in den gujaratisprachigen Zeitungen veröffentlicht worden wären?

Was hier unterstrichen werden muss, ist die Nichtneutralität der Sprache an sich: „Bewusst oder unbewusst vollzieht sie geschickte Kunststücke der Aneignung und der Ausschließung, die von einer Dialektik der Andersheit unterstützt werden. Sie erzeugt Gruppen, die auf Begriffen von kultureller Differenz beruhen, die unser ‚Wir‘ hervorheben, unsere Identität und Solidarität.“[9]

Man muss sich daran erinnern, dass die Nation zu ihrer Erschaffung unweigerlich kultureller und spezifisch linguistischer Mittel bedarf. Die Verschmelzung von Gujarat- und Hindu-Identität schließt die Minderheiten des Staates aus und wiederholt den Begriff eines (untergeordneten) Hindu-Staates, dem viele Formen der kulturellen Produktion zukommen. Es ist notwendig festzuhalten, dass nach den Unruhen Wörter wie „es“ und „sie“, die alle meinen, die Englisch sprechen, und auch alle „Gujaratis“, die als KomplizInnen des Hindu-Fundamentalismus beschuldigt wurden, herumschwirrten und die Möglichkeit des Dialogs fast zunichtemachten. Der Begriff der asmita Gujarats, der in einem spezifischen Hindu-Dialekt artikuliert wurde, verschließt alle Möglichkeiten der Kritik von innen wie auch von außen.

Es ist hier notwendig, auf die Beziehung Gujarats mit der englischen Sprache einzugehen. Ich habe andernorts darüber geschrieben, dass Gujarat als Handelsstaat kein Englisch für die Verwaltung brauchte.[10] Überdies beeinflussten M. K. Gandhis Zweifel an der englischen Sprache als Mittel der Kolonialherrschaft ebenfalls Gujarats Einstellung zu dieser. Gandhi schreibt: „Unter den vielen Übeln der Fremdherrschaft wird das zerstörerische Aufzwingen einer fremden Sprache auf die Jugend des Landes von der Geschichte zu einem der größten gezählt werden.“[11] Gandhi glaubte, dass Bildung in englischer Sprache „unnötig teuer“ war und dass sie „das Wachstum unserer Alltagssprachen verhinderte“.[12] Die Kombination beider Kontexte bestimmte die Sprachpolitik Gujarats mit einer starken Betonung der Sprache Gujarati und der Einführung des Englischen erst ab der achten Klasse.

Es mag daher einfach sein, im Zorn der Gujaratis gegen das Englische im Verlauf des Jahres 2002 die Wiederholung mancher Muster zu sehen und ihn als übrig gebliebenes Vorurteil der Vergangenheit zu erklären. Dies wäre aber nur eine Halbwahrheit: Gandhi hatte Gujarati und Englisch niemals als Feinde definiert; er hielt beide für verschiedene Zwecke notwendig. Gandhi bevorzugte den Gebrauch von Englisch, um die Weltliteratur kennenzulernen, und plädierte dafür, Übersetzungen aus dem Englischen in Gujarati zu machen. Noch wichtiger ist, dass er Gujarati auch nicht mit dem Hinduismus gleichsetzte, sondern es stattdessen als eine Sprache verstand, die von „den drei großen Religionen der Welt – Hinduismus, Islam und Parsismus – geteilt und gepflegt wurde“[13]. In einer öffentlichen Ansprache von 1909 betonte Gandhi die Notwendigkeit der Sprache, um eine Nation zu imaginieren. Er sprach zu einer gujaratisprachigen ZuhörerInnenschaft und erinnerte sie daran, dass sie Stolz auf ihre Sprache empfinden müsse, um die Nation zu lieben. Indem er seine bekannten Zweifel gegenüber der englischen Sprache nicht nur wegen ihrer Funktion als Vermächtnis der Kolonialherrschaft, sondern auch wegen moralischer Verwerflichkeit zum Ausdruck brachte, spornte er das Publikum in einer Kleinstadt Gujarats dazu an, sich selbst als Gujaratis und dann als BewohnerInnen Hindustans anzusehen, als den Sprachen der Nation und des Bundesstaates zugehörig. Gujarat war nicht der linguistische Staat, der er heute ist, und daher musste eine Gujarati-Identität grundsätzlich aus der Sprache und nicht aus dem Territorium abgeleitet werden: „Gujarati ist schließlich keine Sprache, die auf den Müll gehört, sie hat Poeten wie Narsinh Mehta, Akho Bhagat, Dayaram. Sie hat ein großes Entwicklungspotenzial. Eine Sprache, die von den drei Religionen Hinduismus, Islam und Parsismus gepflegt und geteilt wird, kennt keine Grenzen.“[14]

Der Sprachkrieg in Gujarat zu einer Zeit physischer und linguistischer Gewalt erzählt eine andere Geschichte: Er teilt Sprachen auf der Grundlage von Religion und unvereinbaren Wahrnehmungen der Nation.[15] Als eine Übersetzerin, die den Raum zwischen den Sprachen bewohnt, bin ich besorgt darüber, dass dieser Raum belagert wird. Ich möchte in diesen Raum die Artikulationen bringen, die auf beiden Seiten eingeschlossen liegen – in Gujarati (der offiziellen Sprache des Staates Gujarat) und im Englischen (einem kolonialen Vermächtnis, das jetzt unter anderem mit den JournalistInnen in Verbindung gebracht wird, die Gujarat und seine Behandlung von Muslimen 2002 kritisierten). Indem ich die Rolle der Übersetzung in den Vordergrund stelle, speziell jener, die mit Empathie vollzogen wird, hoffe ich, den dritten Raum zurückzugewinnen, in dem Sprachen nicht synonym mit Loyalitäten sind, sondern in dem sie gemacht werden und wieder vergehen und sich dem Besitz entziehen. Als eine Übersetzerin, die nicht schweigt, möchte ich auch fragen, ob die Gruppe linguistischer Vereinigungen jemals versucht hat, aus ihrer Textualität herauszutreten, um der anderen zuzuhören oder Selbstreflexion zu üben. Darauf werden wir nach der Diskussion eines sehr kontroversiellen Artikels über Gujarat und der verschiedenen Reaktionen darauf wieder zurückkommen.

 
In Richtung Übersetzung

Der Artikel „Es ist normal für Gujaratis, Muslime zu hassen“ wurde von Ganesh Devy geschrieben, einem der bekanntesten Intellektuellen Gujarats, Aktivist für indigene Stämme und früherer Englischlehrer. Er erschien etwa vier Jahre nach den Unruhen 2002 in einem investigativen englischsprachigen Magazin namens Tehelka. Der Artikel wurde auf der Grundlage einer Unterhaltung geschrieben, die Devy mit Shankarshan Thakur geführt hatte, dem Herausgeber von Tehelka.

Devy zufolge wurden die Unruhen durch einen gewaltsamen Vorfall in der Stadt Vadodara ausgelöst. Der Artikel wurde zu einer starken, unqualifizierten Kritik Gujarats und seiner antiislamischen Haltung, einer Haltung, die nicht nur dem Staat, sondern auch jedem einzelnen Individuum zugeschrieben wurde. Der Titel lässt keinen Raum für Ambivalenz oder Reflexion. Gleichzeitig artikuliert Devys Text eine Wut, die viele nach 2002 gegenüber dem völlig schweigsamen und unbarmherzigen Staat Gujarat empfunden hatten. Als ich den Text das erste Mal las, war ich betroffen, wie wenig er nach Devy klang. Es schien mir, dass diese Wut vielleicht notwendig war, um die Selbstgefälligkeit der Intelligenz der Hindu-Oberschicht in Gujarat zu durchbrechen, die 2002 die zahlreichen Morde an Muslimen nicht verurteilt hatte. Nachdem ich die Reaktionen auf Devys Artikel gelesen hatte, wurde mir klar, dass die Debatte nur die Polaritäten zwischen den zwei LeserInnenschaften und Ideologien verstärkt hatte. Ich begann mich zu fragen, ob es Strategien gab, um einen dritten und nicht so markierten Raum zu erschaffen.

Die weiter unten zitierten Eröffnungsbemerkungen aus Devys Artikel vermittelten mir Traurigkeit und Schärfe, nicht Ablehnung, wie es von einigen aus der Intelligenz Gujarats wahrgenommen wurde. „Gujarat ist ein unerträglicher Ort geworden, zumindest finde ich das. Es gibt heute wenige Menschen in Gujarat, mit denen ich sprechen kann, weil sie simple Dinge einfach nicht verstehen oder nicht verstehen wollen. Ich bin selbst ein sehr komfortabel lebender Bürger von Vadodara [einer Stadt in Gujarat, in der Devy lebt]. Aber das Problem ist, dass ich nicht mit den BürgerInnen dieser Stadt sprechen kann, es ist, als gehe man in der Wüste.“[16]

Wie man dem folgenden Auszug entnehmen kann, reiht der Artikel eine Verallgemeinerung an die andere: „Ich kann an den populären Mythos friedliebender Gujaratis nicht mehr glauben. Wie hätten all die Unruhen seit 1969 sonst passieren können? Ich habe viel darüber nachgedacht und glaube, dass Gewalt ein Zug ihrer habgierigen Natur ist. Gujaratis sind extrem habgierig. Sie tun alles, um etwas zu erwerben. Die anständigsten Menschen hier, Menschen, die ich sonst respektieren würde, würden alles tun, um ein Visum für die Vereinigten Staaten zu erhalten, sie würden auch betrügen und lügen. Sie sind habgierig. Sogar die Frömmigkeit Gujarats kreist um Habgier. Sie unterhalten einen Tauschhandel mit Gott – ich gebe dir Frömmigkeit und du gibst mir Reichtum […]. Der Hass gegen Muslime, der hier herrscht, ist nicht bewusst oder angelernt. Er ist irgendwie normal, naturgemäß […]. In Gujarat gilt man nicht als schlechte Person, wenn man Muslime hasst, man ist normal.“[17]

In der ersten Reaktion aus Gujarat auf Devys Text nimmt der Autor Shirish Panchal Anstoß am umfassenden Gebrauch des Wortes „die Gujaratis“. Panchals Antwort, die auf Gujarati verfasst war könnte so übersetzt werden: „Sind die Menschen in Gujarat wirklich so schlecht?“, und er wirft die wichtige Frage auf, was die Gujaratis getan haben, um solche Negativität und solche Vorurteile hervorzurufen: „Es ist wahr, dass in Gujarat häufige Ausbrüche stattfinden, aber wer ist dafür verantwortlich? Nur Gujaratis – oder Menschen die Gujarati sprechen? Jeder und jede Person, die in Gujarat lebt? Was nach Godhra geschah, hätte nicht geschehen dürfen, und es gibt keine Rechtfertigung dafür, aber um zu verhindern, dass es wieder geschieht, sollten wir nicht lieber zusammenhalten, anstatt wie einige Intellektuelle aus Gujarat und englischsprachige Journalisten nur daran interessiert zu sein, die Wunden offen zu halten und Salz hineinzustreuen? Sie kommentieren die Menschen in Gujarat gegenüber Menschen außerhalb von Gujarat, und im Ergebnis scheint es, als sei Gujarat eine Art Hölle.“[18]

Panchals Reaktion beruht auf dem englischen Original und bringt ihn dazu, Devys Ansichten mit all denen zu vermischen, die auf Englisch über Gujarat schreiben. Panchal konstruiert Devys Gebrauch des Wortes „Wüste“ als Ablehnung der Stadt Vadodora und ihrer EinwohnerInnen, da er die Stadt als trockenen Ort versteht, in dem es Devy schwerfällt, mit irgendjemandem zu kommunizieren. Indem er alle persönlichen Referenzen und das Gefühl der Einsamkeit aus dem Wort abzieht, versteht Panchal es als Kritik an der Stadt, in der Devy lebt, die er aber nicht als seine eigene akzeptiert. Für Panchal bedeutet das Wort „Wüste“ Dürre und Langeweile: „Ganesh Devi findet Vadodara und Gujarat wüstenhaft, aber hat er sich darum bemüht, die Psyche der Gujarati zu verstehen? Hat er versucht, mit ihnen Umgang zu haben? Devy empfindet die Wahrnehmung von Gujaratis als friedliebend als Mythos, aber er hat den einfachen Umstand vergessen, dass eine Gemeinschaft von Händlern niemals streitlustig ist.“[19]

Über sich selbst sagt Panchal, dass er sein Leben in Vadodora verbracht habe, vor allem in dem von Hindus und Moslems bewohnten Viertel Panigate, in dem Unruhen nicht selten sind: „Wenn ich also irgendetwas über diese Stadt sage, dann nicht als ‚pardeshi‘ (wörtlich: jemand aus einem anderen Land; in diesem Kontext: Außenseiter) oder ‚pravaasi‘ (Gast).“[20] Er beansprucht dadurch einen Insiderstatus, der zur selben Zeit seine Wahrnehmung von Devy als Außenseiter betont. Panchals Position ist der rechthaberische Standpunkt von jemandem, der in Gujarat gelebt hat, ein „Gujarati“ ist und auf Gujarati schreibt und daher einen authentischeren und berechtigteren Platz einnimmt. Indem er Devys Aussagen über die häufigen Unruhen in Vadodara kommentiert, sagt Panchal, dass die „Leute sicherlich angestiftet“ wurden, und tut Devys Beitrag als den eines Außenseiters ab, der eine andere, fremde Sprache spricht. Die Verwendung von Wörtern wie „pardeshi“ und „pravaasi“ wirft ernsthafte Fragen über die Nation und wer dazugehört auf. Es muss an dieser Stelle gesagt werden, dass Ganesh Devy ursprünglich aus Maharashtra kommt, einem der Nachbarstaaten Gujarats. Er lebt schon seit zwei Jahrzehnten in Gujarat und hat für den Staat einen wichtigen Beitrag geleistet. Der Tonfall von Panchals Reaktion reflektiert seine Weigerung, sich sowohl auf die spezifischen als auch die allgemeinen Aspekte von Devys Kritik einzulassen. Panchal zeigt auch keine Bereitschaft, die vielen anderen Beobachtungen von Devy zu reflektieren. Zum Beispiel erwähnt Devy, dass Gujarat, obwohl dieser Staat durch die Teilung viele MigrantInnen in beide Richtungen hatte, in seiner Literatur keine Zeichen der Erinnerung an die Teilung aufweise. Panchal weist dies zurück: „Wenn jemand fragt, warum es keine Literatur zur Teilung in Gujarat gibt, dann ist die Antwort einfach, dass die Teilung keine Auswirkungen auf Gujarat hatte.“[21]

In einer unfreiwillig unglücklichen Weise, die Klassenunterschiede und Panchals Ignoranz der letzteren zeigt, erwähnt er auch die harmonische Beziehung zwischen Hindus und Muslimen und schreibt, wie sein Wäscher und Gemüsehändler, Kleiderhändler, Sticker alle Muslime seien und wie der Hindu-Händler dem Muslim in demselben Glas Tee anbietet, das er auch selbst benützt.

Was man hier sehen könnte, ist eine völlig emotionale Reaktion: Devys Artikel macht sich der Verallgemeinerung schuldig, während der von Panchal nicht nur keine Reflexion, sondern Vorurteile über Devys Außenseiterstatus (weil er aus Maharashtra ist und auf Englisch schreibt) nahelegt. Die linguistische und territoriale Engstirnigkeit in der Reaktion von Panchal und vielen anderen in weiteren Zeitschriften Gujarats demonstriert, dass Sprache bei der Entstehung des Nationalismus in Gujarat zentral geworden ist, ebenso wie die Leichtigkeit, mit der Menschen, die dieser linguistischen Gemeinschaft nicht angehören, ausgeschlossen werden. Aber das ist nur die Hälfte der Geschichte: Es ist wichtig zu erwähnen, dass diejenigen, die auf Devy replizierten, Angehörige der oberen Kasten, männlich, Hindus sind, die sich selbst als Wächter der asmita Gujarats sehen, die eine Verschmelzung aus Sprache, Religion und Territorium ist.

Panchals Reaktion wurde von Dankesh Ozas Übersetzung von Devys Text in Gujarati begleitet. Der Artikel wurde zwar linguistisch übersetzt, allerdings nicht mit jener Empathie, die ein Verständnis ermöglicht. Die Ungenauigkeiten in Ozas Übersetzung sind vielsagend: Das Wort „unerträglich“ wurde mit dem Gujarati-Wort „sahishhnu“ übersetzt, das „intolerant“ bedeutet. Der Gebrauch des treffenden Satzes „zumindest glaube ich das“ wurde aus dem Original gestrichen, und das Gefühl der Isolation, das durch den Ausdruck „in der Wüste gehen“ evoziert wird, wurde in Gujarati zu einem selbstständigen Satz gemacht, „Du hast das Gefühl, in der Wüste zu gehen“, was mehr den Ort beschreibt als ein Gefühl. Dankesh Oza hat den Text mit einer gewissen Verantwortungslosigkeit übersetzt, was umso bemerkenswerter ist, als dies zu einer Zeit geschah, in der die Ideologien so stark betont wurden.

Einer der etabliertesten Poeten Gujarats, Sitanshu Yashashchandra[22], artikulierte starken Protest gegen Devy und führte aus, dass er (Devy) dankbarer für die Reputation, den Ruhm und das Geld, die er aus Gujarat erhalten habe, sein solle. Ein anderer Schriftsteller, Nagindas Sanghvi, bezweifelt Devys Vermischung der „habgierigen Natur“ der Gujaratis mit Gewalt und stellt die Verwechslung von Staat und BürgerInnen infrage.[23] Wie ich schon oben sagte, beschädigen die Verallgemeinerungen Devys die Rezeption seiner Ansichten; bemerkenswert ist, dass Devys Ansichten selbst gar nicht gehört, sondern abgelehnt werden – wie Gunvant Shah schreibt: „Ich glaube, dass es möglich ist, Moslems zu überzeugen, aber nicht fundamentalistische Säkularisten“; oder: „Es ist modisch geworden, Gujarat zu kritisieren.“[24]

Schließlich ist ein verbreitetes Motiv unter den negativen Reaktionen auf Devy, „dass er [Devy] nicht einmal den bekannten Gujarati-Ausdruck ‚Aapnu Gujarat‘ (unser Gujarat) verwendet habe, um Inklusion zu beschreiben“[25]. Hätte Devy dies auf Englisch schreiben können? Wichtiger noch, hätte er es schreiben wollen, aber das Englisch hinderte ihn daran? Würde das zu schreiben, obwohl es im Englischen komisch klingt, nicht eine kulturelle Übersetzung der Gujarati-Identität (Gujarati-ness) bedeuten und wäre der Text dann nicht effektiver gewesen?

Daher erschienen einer großen Anzahl jener, die auf Devy reagierten, seine Ansichten hinsichtlich des Themas und der Absichten als Fortsetzung der englischsprachigen Medien, die 2002 eine „negative“ Rolle in Gujarat gespielt hatten, und ihre Antworten legen nahe, dass sie sich weigerten, über ihre Rolle nachzudenken. Stattdessen sollte, wie Dinkar Joshi formuliert, „eine Selbstprüfung durch die so genannten Intellektuellen vollzogen werden, die die Frechheit besitzen, in Gujarat zu leben und es trotzdem zu verurteilen“[26].

Während die oben präsentierten Meinungen den Tenor der Hindu-Intelligenz Gujarats charakterisieren, müssen auch Ausnahmen erwähnt werden. Anil Joshi zufolge waren die Reaktionen ein positives Zeichen, ein Tribut an Devys Größe. Joshi forderte seine MitbürgerInnen, SchriftstellerInnen und Mitglieder der intellektuellen Gemeinschaft heraus: „Ich frage all jene, die so empört über Ganeshs Kommentare sind: Warum wart ihr so ruhig, als Gujarat brannte?“[27] Joshi verstand die allzu verallgemeinerten Kommentare Devys eindeutig als Gelegenheit zur Reflexion und Selbstprüfung, eine Notwendigkeit, die in Ramesh Ozas prägnantem Kommentar widerhallte: „In unserer Verweigerung einer Selbstprüfung beweisen wir [Gujaratis] Ganesh Devy bloß, dass Gujaratis intolerant sind.“[28]

Einige Monate später schrieb Devy einen neuen Text, diesmal auf Gujarati. Der Artikel wurde in der Zeitschrift Nirikshak publiziert – jener Zeitschrift, in der die Angelegenheit bisher diskutiert worden war. Devy schrieb nicht in einer nationalen Zeitschrift, von der angenommen wurde, dass sie gegen Gujarat eingestellt sei: Er teilte stattdessen den Raum „Gujarats“, indem er auf Gujarati schrieb und in einer Zeitschrift veröffentlichte, die jede/r lesen konnte. In diesem Artikel erklärt Devy die Entstehung seines vorherigen Textes, eines Textes, der seinen Angaben nach aus einer Unterhaltung mit Thakur erfunden wurde. Ohne die Widersprüche zu verschleiern, die seinen vorherigen Text beherrscht hatten, erklärte der Artikel auf Gujarati, warum einige Verallgemeinerungen das Resultat des Interviews selbst waren. Devy erklärt auch seine eigene Beziehung zu Gujarat, indem er Zusammengehörigkeit und trotzdem Abstand zeigt: „Obwohl meine Vorfahren und die Generation vor meinen Eltern in Gujarat lebten, lebten meine Eltern in Maharashtra als vertriebene Gujaratis. Ich habe die ersten 28 Jahre meines Lebens in Maharashtra verbracht, und die letzten 27 Jahre war ich in Gujarat. All dies könnte meine Ansichten über Gujarat weniger authentisch wirken lassen als andere. Aber ich weiß ganz sicher, dass die Beziehung zwischen Hindus und Muslimen in Gujarat weit davon entfernt ist, perfekt zu sein. Ich habe auch bemerkt, wie kleine Vorfälle zu Gewaltakten führen können.“[29] Devy erklärt weiter, dass er die Gesellschaft Gujarats (Samaj) nicht verletzen wollte, auch nicht seine asmita, sondern dass „die Wächter der Literatur eine besondere Verantwortung, speziell in Zeiten der Gewalt, haben“[30].

Die einzige Person, die sich auf diesen Text bezog, war Prakash Shah, ein linker Schriftsteller, der bemerkt, dass Devy „mit Intimität und Inklusion Besorgnis über ‚Aapne Gujarati‘ [wir, die Gujaratis] und was aus uns geworden ist, artikuliert“[31]. Es gab keine andere Reaktion auf diesen Text; es ist fast, als ob die Debatte nicht abgeschlossen worden sei, aber sich vielleicht erschöpft habe.

 
Der Dritte Raum

In der obigen Diskussion scheint es, als habe eine Kritik Gujarats mehr Gewicht, wenn sie auf Gujarati vorgebracht wird statt auf Englisch. Obwohl trotzdem jegliche Infragestellung Gujarats viele Menschen aufbringt, ist es wahrscheinlich, dass die Verwendung der englischen Sprache die Dinge nur noch schlimmer macht. Wenn Gujarati das sprachliche Medium für ein Bundesland namens Gujarat ist, kann man die Aufmerksamkeit auch nur einiger Gujarati-NationalistInnen nur dadurch erringen, dass man auch Gujarati verwendet. Dies ist allerdings nicht in jedem Kontext möglich. Devy kann zufällig Gujarati; nicht jede Person, die über Gujarat schreibt, beherrscht es. Würden außerdem kritische Beiträge über Gujarat in den Mainstream-Tageszeitungen publiziert werden? Eher nicht. In diesem Szenario ist eine Übersetzung in Gujarati notwendig, die auf eine Weise durchgeführt wird, die ihre LeserInnen nicht entfremdet und einen Rahmen für zwischensprachlichen Dialog bildet. Ein Raum, der weder Gujarati noch Englisch ist, ein dritter Raum, in dem eine Gujarati sprechende Person auf Englisch schreibt oder eine Englisch sprechende Person die Sprache verwendet, die in Gujarat verstanden wird, könnte die Gleichzeitigkeit von Sprache und Besitz brechen und einen empathischen Übergang in den Diskurs des Anderen ermöglichen. Da „multiple linguistische und nationale Identitäten innerhalb der Grenzen eines einzigen Staates leben können“[32], ist es wichtig zu betonen, dass Übersetzung eine bedeutende Rolle spielt, um einen Raum zu erschaffen, der Dialog und Verhandlungen ermöglicht.

Die Verpflichtung, eine solche Zwischenposition zu erzeugen, liegt sowohl bei jenen, die auf Gujarati schreiben, als auch bei jenen, die auf Englisch schreiben. Wie Bermann und Wood bemerken, „erfordert [es] Aufmerksamkeit gegenüber kulturellen Werten, ökonomischen und politischen Ungleichheiten, individuellen Entscheidungen und vielleicht am offensichtlichsten gegenüber der Andersheit in linguistischen und kulturellen Formen. In diesem Prozess werden einige explizit ethische Fragen hervorgehoben.“[33] Diejenigen, die auf Gujarati schreiben, müssten Selbstkritik betreiben und sich wie Babu Suthar fragen, was mit ihrer Sprache geschehen ist. Suthar ist ein diasporischer Schriftsteller, der in einem sehr bedeutsamen und sensiblen Schritt den Literaturpreis einer angesehenen literarischen Institution ablehnte, indem er sagte: „[…] wenn unsere Sprache so viel Hass für eine andere Gemeinschaft ausdrücken konnte, […] muss sie ihre Reinheit und Menschlichkeit zurückerlangen, bevor ich einen Preis akzeptieren kann.“[34]

Suthars Kritik der Sprache, in der er schreibt, einer Sprache, die ihn zum Teil einer Gemeinschaft macht, schlägt einen Akt der Übersetzung vor, ein Herausgehen aus einer tyrannisch gewordenen Textualität. Die Identität Gujarats, die asmita heißt, muss sich in anderen Zonen als der eigenen bewegen, um das zu verbreiten, was wahr, authentisch und glaubwürdig ist. In Zeiten von Sprachkriegen ist es nützlich, Emily Apters Konstruktion der Übersetzung zu beachten: Sie unterstreicht die Zentralität der „Sprachkriege“ in der Konzeptualisierung von Zonen der Übersetzung. In ihren Worten: „Die Fixierung auf den Begriff der ‚Zone‘ als theoretischer Basis hatte als Intention die Erfindung einer breiten intellektuellen Topografie, die keiner einzelnen Nation oder einem unförmigen Zustand des Postnationalismus angehört, sondern eher einer Zone der kritischen Auseinandersetzung, die das ‚l‘ und das ‚N‘ von transLation [Übersetzung] und transNation [Transnation] verbindet.“[35]

Es scheint, als ob Übersetzung, das Heraustreten aus der eigenen Textualität und Ideologie, um zu kommunizieren und zuzuhören, ein soziales Unternehmen ist, das zu Zeiten der linguistischen und physischen Gewalt, wie Gujarat sie erlebte, gebraucht wird. Dennoch gibt es auch noch andere Formen der Gewalt, die dieser Text noch gar nicht angesprochen hat: das Leiden und die Erniedrigung der Frauen während der Unruhen in Gujarat, etwas, das im ganzen männlichen Diskurs von Devy und seinen Gegnern unerwähnt bleibt. Dies ist tatsächlich mehr oder weniger eine Fortsetzung des gesamten Schrifttums über die Unruhen von Gujarat – vor allem auf Gujarati –, das Überschriften wie „Viele Männer sagten: ‚Sab Ladki Ko Laylo‘“[36] benützte, um die muslimische Gewalt gegen Frauen zu zeigen, und zwar nicht mit Betonung auf der Unmenschlichkeit gegen Frauen, sondern auf der Verletzung der Hindu-Ehre (izzat) durch Muslime.

Einige der sensibelsten und bissigsten Kritiken in Gujarat kamen von den Frauen selbst,[37] die verschiedene Funktionen als Schriftstellerinnen, Übersetzerinnen, Heilerinnen und Aktivistinnen einnehmen. Minal Dave[38] schrieb eine bewegende Geschichte über eine Hindufrau der Oberklasse, die während den Unruhen allein reist. Ihre Ängste werden dadurch verstärkt, dass ihre einzige Mitreisende eine Frau in einer Burka ist. Die zwei Frauen erkennen ihre gegenseitigen Ängste, ihre Verletzlichkeiten und den gemeinsamen Kontext der Angst, die sie schweigend vereint, über die Grenzen der Sprache und der Religion hinweg. Sie treten jeweils in die Erfahrungstextur der anderen ein, indem sie ihre Körper verlassen – wie das Übersetzungen tun sollten –, und erzeugen eine Schwesternschaft, die die Forderungen der Nationen und Ethnizitäten in der Schwebe hält. Warum können männliche Schriftsteller keinen Raum schaffen, der weder Gujarati noch Englisch ist, weder männlich noch weiblich und trotzdem für beide bequem? Warum sind Räume ebenso wie Texte so abgegrenzt, und wie erweitern wir die Rollen der ÜbersetzerInnen, um hybride, androgyne und offene Räume zu schaffen? Es ist nicht möglich, diese Fragen zu beantworten, da sie keine Antworten brauchen, sondern eine gründlichere Reflexion über die Rolle der ÜbersetzerInnen in Zeiten der Gewalt.

Als ich diesen Text beendete, hörte ich von der Schriftstellerin Saroop Dhruv über ihr bald erscheinendes Buch Ummeed (Hoffnung), das sie auf Hindi zu schreiben beschlossen hatte: „In Zeiten, in denen Sprachen durch Ideologien verschmutzt werden, ist es besser, sich aus den gegebenen Sprachen herauszubewegen. Die Tatsache, dass ich, die dieses Buch auf Gujarati geschrieben hätte, beschlossen habe, es auf Hindi zu schreiben, zeigt meine Entortung. Ich habe beschlossen, entortet zu sein.“[39]

Dieser Text begann mit den Worten einer Frau, die von einer weiblichen Übersetzerin übersetzt wurden; sie enden mit denselben Möglichkeiten, die Positionalität von Frauen im Diskurs über die Unruhen in Gujarat nahezulegen:

 

Nein,
Ich möchte nicht die koranischen Verfügungen lesen und Suraiya werden.
Der Grund ist, dass ich mich nicht von den anderen
Suraiyas, Salmas, Sheznas oder Ameenas dieser Nation unterscheide.
Nicht abseits, nicht weit oder in der Distanz.
Jedes Mal, wenn die Dushashans dieses Landes sie berauben,
Werde ich nackt.[40]



[1] Saroop Dhruv, Hastakshep (Intervention), Ahmedabad: Samvedan Sanskritik Manch 2003, S. 75; übersetzt aus dem Gujarati von Rita Kothari.

[2] Am 27. Februar 2002 passierte ein Zug namens Sabarmati Express die Stadt Godhra in Gujarat. An Bord war neben anderen eine Gruppe fundamentalistischer Hindus, die mit Vishwa Hindu Parishad (einer Hindu-fundamentalistischen Organisation) in Verbindung stand. Das Abteil S6 des Zuges wurde in Brand gesetzt, was zum Tod von über 56 Hindus führte, die als karsevaks oder Freiwillige auf dem Rückweg von Ayodhya waren, einem von Indiens umstrittenen Orten, an dem eine Moschee und der Tempel des Gottes Rana existiert haben sollen. Die Hindu-Freiwilligen hatten Ayodhya besucht, um beim Bau eines Ram-Tempels mitzuwirken, auf dem bis 1992, als sie abgerissen wurde, die Babri Moschee gestanden hatte. Die Brandstiftung im Abteil wurde Muslimen zugeschrieben, die nahe des Bahnhofs in Godhra leben, und bis Untersuchungen etwas anderes beweisen, ist sie ein angeblicher Akt islamischen Terrorismus in Indien. Am nächsten Tag, dem 28. Februar, begannen die Hindu-fundamentalistischen Organisationen in Gujarat einen Amoklauf und versuchten, alle Moslems in Gujarat umzubringen, was zum Tod von über 2000 Menschen führte. Dieser Vorgang wurde eindeutig vom Staat unterstützt. (Vgl. Swami Agnivesh / Valson Thampu, Harvest of Hate. Gujarat under Siege, Delhi: Rupa & Co. 2002; Dionne Bunsha, Scarred: Experiments with Violence in Gujarat, Delhi: Penguin Books India 2006).

[3] S. K. Modi, Godhra. The Missing Rage, New Delhi: Ocean Books Pvt. Ltd. 2004, S. 190.

[4] Aakar Patel / Dileep Padgaonkar / B. G. Verghese, „Rights and Wrongs: Ordeal by Fire in the Killing Fields of Gujarat“, in: Editors Guild Fact Finding Mission Report 2002, S. 1.

[5] Ibid., S. 2.

[6] Vgl. Vishwa Hindu Parishad, April 2002.

[7] Modi, op. cit., S. 15-16.

[8] Ibid., S. 17.

[9] Sandra Bermann / Michael Wood, Nation, Language and the Ethics of Translation, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2005, S. 3.

[10] Rita Kothari, Translating India. The Cultural Politics of English, Manchester: St. Jerome Publishing 2003 (überarbeitete Auflage New Delhi: Foundation Books, 2006).

[11] M. K. Gandhi, in: Kothari, op. cit., S. 81.

[12] Ibid., S. 81.

[13] M. K. Gandhi, „Gujarati Bhasha Vishe Kaaink Vichaar“ (Some Thoughts on the Gujarati Language), in: Manjusha, Hg. Veerchand Dharamshi, Navneet Samarpan, Oktober 2005, S. 49-52.

[14] Ibid., S. 51.

[15] Ibid.

[17] Ibid.

[18] Shirish Panchal, „Shun Gujarat nee Praja Aatli Bundi Chhe?“ (Are the People of Gujarat that Bad?), in: Nirikshak, 1. August 2006, S. 6-8.

[19] Hervorhebung durch die Autorin; ibid., S. 7.

[20] Ibid., S. 6.

[21] Hervorhebung der Autorin; ibid., S. 8.

[22] Sitanshu Yashashchandra, „Maanas Vishe Vaat Karvani Aa Reet Chhe, Tamari?“ (Is This Any Way to Speak of Human Beings?), in: Nirikshak, 16. August 2006.

[23] Nagindas Sanghvi, in: Navneet Samarpan, November 2006, S. 33-34.

[24] Gunvant Shah, in: Navneet Samarpan, November 2006, S. 34-36.

[25] Panchal, op. cit., S. 8.

[26] Dinkar Joshi, „Vichar Melo“, in: Navneet Samarpan, November 2006, S. 49.

[27] Anil Joshi, „Vichar Melo“, in: Navneet Samarpan, November 2006, S. 36.

[28] Ibid., S. 45.

[29] Ganesh Devy, „ Tehelka, Tejgadh ane Sahitya Parishad“, in: Nirikshak, 19. September 2006, S. 7.

[30] Ibid., S. 8.

[31] Prakash Shah, in: Navneet Samarpan, November 2006, S. 42.

[32] Bermann / Wood, op. cit., S. 1.

[33] Ibid., S. 5.

[34] Babu Suthar, Brief an Kumarpal Desai, Vorsitzender, Gujarati Sahitya Parishad 2006.

[35] Emily Apter, The Translation Zone, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2006, S. 5.

[36] Übersetzt heißt „Sab Ladki Ko Laylo“ „Reiss die Mädchen auf“. In einem Text auf Gujarati bedeutet der Gebrauch von umgangssprachlichem, unreinem Urdu, dass dies die Worte von muslimischen Männern in Godhra waren.

[37] Beispielsweise von Himanshi Shelat, Suvarna und Usha Upadhyaya.

[38] Minal Dave, „Othaar“ (Albtraum), in: Kaal Mukho Andhaar Bhedva (Piercing the Deathly Dark), Ahmedabad: Samarth 2003.

[39] Unterhaltung mit Saroop Dhruv, 6. Mai 2007.

[40] Dhruv, op. cit., S. 83.