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09 2000

Falscher Pragmatismus!? Intrakulturalismus statt Multikulturalismus

Nebojša Vilic

Übersetzt von Jacqueline Csuss

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In der mittel- und osteuropäischen Region (MOE) überwiegt die Auffassung, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den für diese Region vorgesehenen EU-Programmen, so sie in Begriffe wie "Osterweiterung" oder "Integration" verpackt ist, nur negativ ausgehen kann. Da dies aber von der Warte des Postkolonialismus bzw. auch jeder anderen Strategie behandelt werden kann, ist es die Wirklichkeit, die diese äußerst negative, kritische Haltung korrigiert. Wie aber lauten nun die Bedingungen für jemanden aus einem MOE-Land, auf welche Stärken kann er/sie sich berufen und welche Wahlmöglichkeiten stehen ihm/ihr offen?

Die unter Schlagworten wie kulturelle Zusammenarbeit, kultureller Austausch, grenzüberschreitende Maßnahmen, die Vereinigung Europas, Europa neu entdecken oder als Ausbildungsprogramme, (Bildungs-) Workshops, Seminare, Symposien, usw. laufenden EU-Programme sind in der Tat so gut verpackt, dass nach außen hin ein perfektes Image erzielt wird und der Eindruck entsteht, die EU kümmere sich gebührlich um die nicht im Schengen-Abkommen erfassten Länder.[1] Und es ist auch durchaus richtig, dass sie alle ein bestimmtes Maß an finanzieller Unterstützung in Aussicht stellen. Im Rahmen dieser EU-Programme wird jedoch davon ausgegangen, dass die im Kulturbereich fehlenden Mittel die Voraussetzung dafür sind, um Einflüsse geltend machen, ein System umsetzen, die Entwicklung diktieren und die Produktion zensurieren zu können. Aber ist es wirklich so?

Man hat den Eindruck, dass diese Programme nicht anders strukturiert sind als die wirtschaftlichen, politischen und militärischen, in denen das jeweilige Land bestimmte Gegenleistungen für das Erhaltene erbringen muss. Und genau hier liegt ihre Schwachstelle: Im Kulturbereich ist so etwas praktisch nicht umzusetzen, da die Kultur in ihrer Existenz, Entwicklung und ihren Äußerungsformen eigenen Gesetzen folgt und keine Möglichkeit für Rückgaben (oder Rückzahlungen) besteht: Wenn das so ist, wozu dann das alles?

Erstmals scheinen die kulturellen Förderungen und Programme der EU eine eindeutig politische Rolle zu spielen - zumindest ausgehend von den früher in der Region gemachten Erfahrungen. Damit soll gesagt werden, dass sie durchwegs eng miteinander verbunden sind bzw. im Verhältnis zu den oben genannten wirtschaftlichen, politischen und militärischen Programmen stehen, und bedenkt man, dass sie alle en bloc kommen, sind sie als Ergebnis derselben zu sehen. Mit einem Mal ist jeder Einzelne in der Region aufgefordert, sich ein Verständnis dafür anzueignen, was Demokratie, political correctness und Multikulturalismus ist, welche die ethnischen Besonderheiten sind, bzw. welche Wurzeln man hat und woher diese stammen, welcher Identität man sich zuordnet, und - das Schlimmste - welche Identität man haben soll. Zu lernen in den Büchern der EU und nach ihren Vorschriften.[2] Tut man das nicht, bleibt man vom "gelobten" Wertesystem ausgeschlossen (es gibt keine anderen Werte als die der EU) - mit anderen Worten: Man wird zur europäischen persona non grata. Es ist schier unglaublich, wie sich die Umsetzer dieser Programme benehmen, wenn sie in die Region kommen: Sie sind nie ausreichend vorbereitet, wissen nicht, welches Publikum sie erwartet, legen eine hochgradige Arroganz an den Tag und tragen infolge ihrer Vorurteile zu den Missverständnissen bei; sie sind verwirrt, sobald sie mit den realen Umständen und Möglichkeiten konfrontiert sind.

Wie soll man die Verantwortlichen der EU-Programme unter solchen Umständen davon überzeugen, dass es lange vor ihnen kulturelle Systeme und kulturelle Werte gegeben hat? Man denke nur an den CAD-Fall: Children Aid Direct kam mit einem Riesenbudget nach Skopje, um ein Puppen-Straßentheater für Kinder einzurichten. Die Projektleiterin wollte wissen, welche traditionellen bzw. spezifischen Theaterformen der Vergangenheit sie als Hintergrund verwenden könnte. Sie hatte keine Ahnung vom "kragjoz"-Theater (Schattentheater) und war entsprechend verblüfft zu erfahren, dass es dieses Theater vom 15. Jahrhundert bis in die späten sechziger Jahre (als die westlichen, zunächst amerikanischen Einflüsse erstmals auftraten) bei uns gegeben hat.
Wie soll ihnen klar werden, dass es ebenso vorher einen Begriff von Demokratie und Zivilgesellschaft gab[3] oder auch bestimmte Erfahrungen mit politischer Korrektheit? Da Jugoslawien ein multinationaler Staat war, gab es den sogenannten "Republikenschlüssel" - ein Rotationsprinzip, das dafür sorgte, dass jede Republik irgendwann an der Reihe war. (Das jugoslawische Demokratiekonzept und die Praxis der "kollektiven und rotierenden Regierung" ist heute ein Funktionsprinzip der EU-Institutionen).
Wie soll man ihnen verständlich machen, dass der Region durchaus bewusst ist, wie radikal die Idee vom Multikulturalismus in ihrem Ursprungsland gescheitert ist (im vielversprechendsten und demokratischsten Land der Erde - den Vereinigten Staaten von Amerika)? Das Modell wurde ohne jede kritische Auseinandersetzung und ohne jedes kritische Bewußtsein über die Folgen seiner Umsetzung in die europäische Rhetorik aufgenommen. Ist das nicht der Fall, dann ist die Destabilisierung der Region durch die Betonung der kulturellen Unterschiede bewußt programmiert worden.
Wie sollte man sie davon überzeugen, dass wir die Taktik durchschauen, mit der diese Idee der Welt als die für diese Region geeignetste verkauft wird, wenn sie sich nur dem Modell entsprechend verhält?[4] Und schließlich: Wie sollen sie zur Einsicht gebracht werden, dass Stereotypen nicht übertragbar sind, dass sie weder neu entworfen noch angeordnet werden können, dass kulturelle Modelle nicht kraft einer Erklärung oder einer Resolution der Vereinten Nationen umgesetzt werden können?

Wie lautet also der Auftrag der EU-Programme und des EU-Pragmatismus, wenn damit die Integration und eine gemeinsame europäische kulturelle Identität erreicht werden soll? Wenn grundsätzlich Einigkeit bezüglich der Vielfalt der Kulturen in Europa herrscht, stimulieren diese Programme dann die Diversifizierung oder, indem sie sie vereinheitlichen, ihr Verschwinden? Gibt es überhaupt eine spezifisch europäische kulturelle Identität? Gibt es denn überhaupt noch irgendwelche "spezifischen" kulturellen Identitäten in Europa? Oder ist das, was uns bezüglich der noch möglichen Anstrengung für den Aufbau einer spezifischen europäischen kulturellen Identität zur Verfügung steht, nach wie vor nur eine Ansammlung von Scheinheiligkeiten, Vorurteilen und Stereotypen, bzw. wenn man so will, von Utopien?[5]Wenn das Ziel die Vereinigung ist, dann wird diese Identität nicht "spezifisch europäisch" sein, und wenn es darum geht, unsere eigenen Vergangenheiten und Geschichten neu zu erfinden (im Sinne der Annahme der "Vielfalt der Kultur"), so wird sie sich von der Identität anderer Weltgegenden nicht im Geringsten unterscheiden. Beide Ansätze widersprechen dem erklärten Versuch der EU-Programme, nationale Identitäten einerseits zu wahren und zum anderen eine "spezifisch europäische Identität" aufzubauen; entweder - das wäre im Sinne des erstgenannten Ansatzes - baut man einen Komplex aus unterschiedlichen Kulturen auf, oder man vertieft - im Sinne des letzteren Ansatzes - die nationalen Identitäten. Ein Grund spricht dafür, keinem dieser Ansätze Glauben zu schenken: die tatsächliche kulturelle Produktion.

Wenn das die Bedingungen sind, wie lautet dann die Alternative? Können die Theorien von Globalismus und Globalisierung eine Interpretation anbieten? Das ist umso wahrscheinlicher, als Globalismus laut der Definition von A. und M. Mattelart nur dann zu erkennen ist, wenn die neue Struktur sowohl lokal wie auch international ist [1998: 147]. Nur wenn Kultur über eine Struktur verfügt, die zugleich lokal und international - also global - ist, und wenn dies mit der "neuen Weltordnung des internationalisierten Nationalismus" koinzidiert, in der laut Scott McQuire "die nationale Identität nicht länger dadurch gesichert ist, dass sie sich auf ein offensichtliches Territorium bezieht, sei es geographischer, ethnischer, linguistischer oder kultureller Natur" [1998: 232], ergeben die Erwartungen an die "Imperative" des "Globalen" einen Sinn [Vilic, 1999: 54].

Was kann man in dieser Situation tun? Wenig. Die Tatsache, dass die "Kontrolle außerhalb der Gesellschaft stattfindet", wie Bernard Tschumi zu sagen pflegte, ist die beliebteste Hypothese, mit der die neue Art der Kontrolle in der Region und über die Region definiert wird.[6] Insofern muten Begriffe wie die Freiheit des "intellektuellen", "kulturellen" oder "künstlerischen" Ausdrucks und ihr Gegenteil, die Unterdrückung des "intellektuellen", "kulturellen" oder "künstlerischen" Ausdrucks ziemlich rückständig an; sie haben jede Bedeutung verloren. Die neuen Bedingungen (oder besser - die neue Wirklichkeit) des "Intellektuellen", "Kulturellen" oder "Künstlerischen" bringen mit sich, dass diese "Kontrolle von außen" akzeptiert werden muss, weil das der einzige Weg ist, um überhaupt noch "intellektuell", "kulturell" oder "künstlerisch" arbeiten zu können. Mit anderen Worten: den Intellektuellen, Kultur-"Treibenden" oder Künstlern bleibt keine, bzw. im besten Fall eine nur beschränkte Wahl: sie müssen die neuen Spielregeln akzeptieren, ob sie wollen oder nicht. Und das nur aus dem einzigen Grund, weil die Möglichkeiten beschränkt sind. Im Bewusstsein dieses Keine-oder-Kaum-eine-Wahl-Habens ist sich der globale Imperialismus seiner Kontrolle sicher: Er kann die Produktion in jene Richtung lenken und steuern, die für ihn (und nicht für die lokalen Adressaten) am zweckdienlichsten ist.

Da keine andere Wahl bleibt, muss man damit einverstanden sein und es akzeptieren. Man könnte hier verschiedene Formen und Methoden zur Anwendung bringen, am zielführendsten ist es jedoch, der versuchten Umsetzung des angewandten Systems von innen her dekonstruktivistisch zu begegnen. Gerade der Pragmatismus dieses Modells hat nichts mit dem modernistischen revolutionären Ruf nach radikalen Änderungen zu tun, sondern wohl eher mit dem akzeptierten, deutlich latent vorhandenen kreativen Widerstand, der zuallererst einen Nutzen für das Lokale erringen muss. Die/der Intellektuelle kann diese Absicht zur Umsetzung der kulturellen Programme für ihre/seine eigenen intellektuellen, kulturellen oder künstlerischen Zwecke umgestalten. Anstelle des "take the money and run", bleibt den Intellektuellen eben auch die Option, das Geld zu nehmen und zu arbeiten, sofern sie ihre intellektuellen, kulturellen oder künstlerischen Ansprüche nicht zurückschrauben und überleben möchten. Wie z.B. im Fall "Komsi-kapidzik": Das "Open Society Institute - Mazedonien" schrieb einen Wettbewerb für Projekte aus, die die multikulturellen Fragen in Mazedonien behandeln. Dabei wurde empfohlen, mindestens zwei ethnisch orientierte Aspekte zu berücksichtigen. Das eingereichte (und genehmigte) Projekt "359º - Netzwerk für eine lokale und subalterne Hermeneutik" (runder Tisch und Ausstellung) will aufzeigen, dass es keine Unterschiede gibt und dass der Begriff "Multikulturalismus" unter den gegenwärtigen Bedingungen sinnlos ist und mit dem geeigneteren Begriff "Intrakulturalismus" ersetzt werden muss.

In dieser Situation finden sich die Intellektuellen in Mittel- und Osteuropa bzw. im ehemaligen Jugoslawien mehr denn je an den Rand gedrängt. Daher wird diese Art von Kontrolle oder Regulierung auch nicht als so repressiv empfunden, wie sie stets bezeichnet wird, sondern vielmehr als stimulierend. Für das Lokale und das Subalterne ist das die im Moment angebrachte Art des Agierens (anstelle der modernistischen - Aktion = Revolution). Nur durch das Agieren (= bloßes Tun) in einer bestimmten zeitlichen Periode (das gilt umso mehr für die künftige Generation, selbst wenn das nach Utopie klingt) wird das Lokale und das Subalterne seine Stimme stärken. Nicht um einen weiteren Diktator, Kontrolleur oder Zensor hervorzubringen, sondern um in der Lage zu sein, zu sprechen und gehört zu werden und somit intellektuell zu überleben.

Bis dahin bleibt uns nichts anderes, als die EU-Programme zu nutzen und sie auf dem Weg des lokal programmierten Pragmatismus zu dekonstruieren.


Literatur:
Mattelart, Armand & Michèle Mattelart, (1998) Theories of Communication, London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications.
McQuire, Scott (1998) Visions of Modernity, London, Thousand Oaks, New Delhi, Sage Publications.
Tschumi, Bernard (1989) "DE-, DIE-, EX-", S. 259-267, in: Remaking History, (Hrsg.: Barbara Kruger & Phil Mariani), Wahington: Bay Press.
Vilic, Neboj±a (1999) "HIC ET VBIQVE VS. PRAE ET POST", S. 53-55, in: After the Wall. Art and Culture in post-Communist Europe, (Hrsg.: Bojana Pejic und David Eliot), Band I, Stockholm: Moderna Museet.
 


[1] In diesem Zusammenhang wird jetzt erneut unterschieden zwischen NATO-Ländern und solchen, die es nicht sind, stabilen und instabilen Ländern und Regionen, den westlichen, südöstlichen Balkanländern, dem südlichen Südeuropa.

[2] Im Programm "Kultur 2000" aufgezählt und festgeschrieben.

[3] Mehrere Dutzend früher bestehender Vereinigungen mussten sich neu eintragen und gelten jetzt nicht mehr als Vereinigungen oder Verbände, sondern als NGOs. In der SFR Jugoslawien hat es das Modell der Bürgervereinigungen von Anfang an gegeben.

[4] Siehe den Fall Kosovo: die Umsetzung des multikulturellen Konzepts und Modells sowie seine Dysfunktionalität ist im Kosovo nach der Übernahme der Kontrolle durch die NATO am augenscheinlichsten.

[5] Verbirgt sich hinter diesem Projekt für den Aufbau einer spezifischen europäischen Identität nicht auch die Absicht, der dominanten amerikanischen kulturellen Identität und dem kulturellen Imperialismus etwas entgegenzusetzen?

[6] "Es gibt keine Regeln und Verordnungen mehr […] Im Mittelalter hat sich die Gesellschaft selbst-, bzw. autoreguliert. Die Regulierung erfolgte in ihrem Zentrum. […] Im Industriezeitalter wurden die Gesellschaften zunehmend künstlich reguliert. Die ökonomischen und industriellen Kräfte übernahmen die Macht, indem sie auf ihrem gesamten Territorium einheitliche Strukturen errichteten: Kontrolle wurde anhand der Grenzen definiert, am Rande der Gesellschaft. […] Die Regulierung erfolgte nicht mehr im Zentrum, sondern an der Peripherie. […] Heute sind wir in das Zeitalter der Deregulierung eingetreten, in dem Kontrolle außerhalb der Gesellschaft stattfindet. Wir erleben die Trennung von Volk und Sprache, die Dezentrierung des Subjekts. Bzw. ließe sich auch sagen, die völlige Dezentrierung der Gesellschaft." [Tschumi, 1989: 267]