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09 2000

„Aus der DNS der ungarischen Rasse resultiert ihre Auserwählung”

Magdalena Marsovszky

Ein Beitrag zur kulturellen Identität im postsozialistischen Ungarn

„Während die DNS der menschlichen Rasse innerhalb einer gegebenen Länge zwei bis drei Drehungen aufweist, weist die der ungarischen Rasse neun Drehungen auf /.../, was wiederum mit der Drehzahl des vom Planet Sirius auf die Erde kommenden Lichtes identisch ist. Aus dieser Tatsache resultiert der kosmische Ursprung der ungarischen Intelligenz, der ungarischen Seele und des ungarischen Geistes und darauf geht die Auserwählung des ungarischen Volkes zurück”[1] - schrieb im Juli 2000 ein Staatssekretär der gegenwärtigen rechtskonservativen Regierungskoalition Ungarns. Zwar betonte er, er hätte seine Thesen zur neuesten ungarischen Kulturgeschichte sozusagen als Hobbyforscher, ausschließlich als Privatmann verfaßt, doch immerhin erschienen sie in einer der Regierung nahestehenden Zeitschrift namens „Ungarischer Demokrat”, deren deutlicher rechtsradikaler Touch nicht zu übersehen ist. Obwohl der Staatssekretär mit seinen Gedanken einige Tage später in einer der meistgehörten Sendungen des Ungarischen Rundfunks „Kossuth-Radio“ eine ungleich größere Öffentlichkeit erreichte, hat sich niemand empört, jedenfalls nicht öffentlich, und er ist immer noch im Amt.

Proteste bringen nichts, dürften viele denken, denn die Reizschwelle der Bevölkerung ist in den letzten zehn Jahren deutlich nach oben gerutscht, und die wichtigsten Informationsquellen, das „Königliche Fernsehen“ und der „Königliche Rundfunk“ - wie sie im Volksmund genannt werden -, sind inzwischen wieder so gut wie gleichgeschaltet. Diejenigen Zeitungen, die sich durch erhebliche Privatanteile oder durch regelmäßige Finanzspritzen privater Stiftungen dem staatlichen Eingriff entziehen können, versuchen zwar immer wieder aufzurütteln, doch sie werden weder von denen gelesen, die es betrifft, noch in Regierungskreisen beachtet, und auch bei den Zuständigen in der Europäischen Union scheinen sie auf kein Gehöhr zu finden. Die Lethargie, ja Apathie scheint bei den heutigen „Systemkritikern“ größer zu sein denn je. Wo ist Europa, wenn noch immer nicht reagiert wird? Diese und ähnliche Fragen hört man auf ungarischen Konferenzen seit Jahren.

Die unmittelbare Vorgeschichte des im Eingang zitierten Satzes ist ein Kulturkampf (oft so mit dem deutschen Wort bezeichnet), der seit der Wende 1989 immer wieder aufflammt und dem bis heute keine der drei demokratisch gewählten Regierungen ein Ende zu setzen vermochte.

Die Spaltung zwischen der konservativen Rechten und der sozialistischen und liberalen Linken verläuft auf den ersten Blick entlang der Frage, was ist Ungarns Verhältnis zu Europa und zu Ungarn selbst. Doch weil der ungarische Konservatismus unterentwickelt ist, greift die postkommunistische, neue Rechte immer wieder auf die zwanziger-dreißiger Jahre als Hauptquelle ihrer Wertvorstellungen zurück, was den Aufschwung von damals zum Wesen des Konservatismus‘ gehörenden volksnationalen Ideen begünstigt. Dies trägt zur Spaltung von Kultur, Politik und Gesellschaft gleichermaßen bei und erweist sich als katastrophal. Denn der Kampf des nach einem christlichen Ungarntum und nach einer organisch-ungarischen Kultur strebenden Konservatismus fällt mit dem Kampf gegen die Juden (oder gegen die, die dafür gehalten werden) und deren „Sympathisanten“ zusammen, zumal sich in der politischen Linken heute - wie damals - traditionell eher die Anhänger westlicher Demokratien und kosmopolitischen Liberalismus‘ versammeln; Prinzipien also, die schon in der Monarchie jüdischen Vorstellungen entsprachen. Dem haßerfüllten ungarischen Kulturkampf liegt also ein massiver Antisemitismus zugrunde, der jedesmal wächst, wenn eine konservative Koalition das Land regiert.

Die weitere Vorgeschichte des zitierten Satzes reicht bis 1526, zum Jahr der türkischen Belagerung Ungarns zurück, denn seit dem war das Land - bis auf eine kurze Periode - nie souverän. Auf die Türken folgten die Habsburger, wenig später die Deutschen und nach dem Zweiten Weltkrieg die sowjetische Besatzung. Wichtigster Meilenstein, und für die kulturelle Entwicklung des Landes bis zum heutigen Tag von grundlegender Bedeutung ist der Friedensvertrag von Trianon (1920), als Ungarn - in der Monarchie nach dem ersten Weltkrieg auf der Verliererseite - zwei Drittel seiner Gebiete an die Nachbarländer abtreten mußte und somit nahezu ein Drittel der ungarischen Bevölkerung Staatsbürger der Nachbarländer wurde. „Trianon“ wurde die Quelle einer allgemeinen Verstörung, und auch die irrationale Angst vor dem ‘Tode der Nation’ nahm riesige Ausmaße an. Die Revision der Grenzen von 1914 wurde fortan die wichtigste Frage der Politik, der Kultur und des alltäglichen Lebens und der Revanchismus die Leitideologie des ungarischen Faschismus‘. Es entwickelte sich eine Konzeption, in der die reinrassige Kultur der Ungarn zu verteidigen galt. Zu der historisch gewachsenen und durchaus verständlichen Opferhaltung gesellte sich vor und im Zweiten Weltkrieg auch eine Täterhaltung, die jedoch nach 1945 für vier Jahrzehnte unterbunden wurde.

Der durch die Jahrhunderte entstandene Mechanismus, daß die Identität vor allem über den verhaßten fremden Unterdrücker definiert wird, funktionierte im Realsozialismus weiter. Besonders im letzten Jahrzehnt, in der sogenannten „weichen Diktatur“ entwickelte sich die Identität zu einem euphorischen Zusammenhalt, weil die im Untergrund operierende demokratische Opposition trotz harter Retorsionen doch Einiges erreichen konnte und ein breiter Widerstand bemerkbar war. Er war oft kulturell, Kunst hatte oft die Funktion einer politischen Ersatzhandlung. Literarische Arbeiten, Theater-, Kino- und Museumsbesuche waren - infolge von staatlichen Subventionen - für jedermann erschwinglich, außerdem gab es etwas mehr Freiheit als in anderen Ostblockländern, so daß sich trotz allem ein verhältnismäßig lebendiges kulturelles Leben entfaltete. Als Gegenbewegung gegen die alles okkupierende sozialistische Doktrin, in die die nationalen Eigenheiten eingeschmolzen zu werden drohten, blühte die Literatur, traditionell Kern der nationalen Identität, und die Volkskunst bzw. die Volkskultur als Ursprung ungarischer Kultur überhaupt. Politische Kabaretts und die Avantgarde hatten Konjunktur, so daß der sozialistische Realismus mit der Zeit vielfach nur noch leere Rhetorik blieb. Auch die Kirche unterstützte den Widerstand, indem sie Predigten mit politischem Inhalt zuließ.

Es entstand das Image der „fröhlichsten Baracke im realsozialistischen Lager“, das auch weitgehend der Identität des Landes entsprach. Man fühlte sich im Großen und Ganzen so, wie man von Außen gesehen wurde. Die Euphorie war dennoch trügerisch, da die vom Kádár-Regime geduldeten oppositionellen Tendenzen in der Kultur als „politische Ventilfunktion“ vor allem dem Machterhalt dienten und nicht dem Aufbau einer Demokratie. Indem jedoch „Systemspechte“ den Staatsapparat von unten so lange pickten, bis er sichtbar schwächer wurde, wurden Ansätze einer zivilen Gesellschaft bemerkbar, und die Kultur spielte dabei eine große Rolle.

Mit dem Einzug der Marktwirtschaft wurde dieser Entwicklung ein Ende gesetzt. Bereits einige Monate nach der Wende stieg mit dem wachsenden Nationalismus das in den Jahrzehnten zuvor eingeschlossene kulturelle Phantom-Feindbild aus seiner Geisterflasche. Trotzdem blieb die dringend notwendige Aufarbeitung der eigenen Geschichte auf der Strecke, und statt dessen wuchs der Stellenwert von gewinnorientierten, wirtschaftlichen Interessen und von Marktgesetzen von Kunst und Kultur gegenüber der Ästhetik und den bildungspolitischen Aufgaben. Es stellte sich heraus, daß der Markt ein listigerer Feind von kultureller Autonomie und Identität ist als der Einparteienstaat, da er - im Gegensatz zur Diktatur - fähig ist, vorzutäuschen, daß die Kunst ausschließlich dem inneren Anspruch folgt. In dem Maße, in dem die Schnelligkeit von billigen ´Massenprodukten‘ identitätsstiftend wirkt, wird die Fähigkeit zur Selbstreflexion zu Grabe getragen. Versuche, die Zerstörung der Grundlagen ungarischer Kunst und Kultur durch die Quote zu stoppen und die Identität zu stärken, schlugen bislang fehl.

Die gegenwärtige rechtskonservative Regierung meint nun, mit der Förderung eines von Staats wegen angeordneten christlich-nationalistischen Wertkonservatismus‘ die Identität und das Image Ungarns positiv beeinflussen zu können. So wurde in strategisch wichtigen Bereichen der Kultur - wie in den öffentlich-rechtlichen Medien oder in der Basisinstitution der Kulturfinanzierung, dem Nationalen Kulturfonds - der Einfluß der Regierung erheblich vergrößert, zudem wurde ein dem Ministerpräsidenten zugeordneter Millenniumsbeauftragter einberufen und eine finanziell gut gepolsterte Landesimage-Zentrale im Kanzleramt eingerichtet. Als ‚transparente Kulturpolitik‘ getarnt, wird mit hochaktuellen Kulturmarketing-Methoden Öffentlichkeitsarbeit betrieben, indem Propagandaschriften zum Millennium direkt ins Haus geliefert werden. Daß dabei erneut von oben, ja vielfach mit Hilfe der Kirche bestimmt wird, was richtige und nicht richtige, was ungarische und nicht ungarische Kunst sei, dürfte vielen deshalb nicht auffallen, weil moderne Marketingmethoden mit westlichen, stabilen Demokratien assoziiert werden. Appelle an das Gewissen der „richtigen Ungarn“ und der „richtigen Christen“ fallen zudem vielfach gerade infolge der langen Unterdrückung auf fruchtbaren Boden. Meinungen von Andersdenkenden werden vom Tisch gefegt, und oppositionelle Kritiker - meistens codiert, mit den Synonymen für „jüdisch“ - als ‘Liberalbolschewiken’, ‘Kosmopoliten’, ‚Schein-Ungarn‘ oder einfach als ‚selenfremd‘ beschimpft und neuerdings als Verräter im Rundfunk namentlich genannt.[2] Versuchen sich diese gegen die „öffentlich-rechtliche Judenhetze“ zu wehren, wird ihnen von Regierungsseite Hysterie vorgeworfen. Unterstützt wird die Regierung von der rechtsradikalen Partei MIEP, seit 1998 das erste Mal - offiziell als Opposition, doch nach eigener Aussage als Opposition der Opposition - im Parlament vertreten. Böse Zungen werfen der Regierung vor, in der rechtsradikalen Partei ein ideales Sprachrohr gefunden zu haben, denn diese würde alles aussprechen, was sich die Regierung - die sich EU-Regeln verpflichtet fühle - nicht leisten könne.

Die pro-europäischen, imagepflegenden Ziele der Außenkommunikation der Regierung decken sich nicht mit den historisch rückwärtsgewandten, nationalistischen Zielen ihrer inneren Kommunikation, das vermeintlich positive Image besteht aus nostalgischen Klischees, und die Identität des Landes ist äußerst gespalten. Die PR-Techniken der inneren Kommunikation sind keine langfristigen Investitionen in die kulturelle Identität, sondern populistische Mobilisierungen zu einer Quasi Gemeinschaft und orientieren sich an der Politik des schnellen Profits, d.h. der schnellen Sicherung des Wahlerfolgs.

So ist nicht nur „Trianon“ ein alltägliches Thema in den Medien, auch die allgemeine Angst wird geschürt, fremde Mächte würden versuchen, die ungarische Kultur und damit die Ungarn ihrem Stil und Denken anzugleichen, weshalb sie verteidigt werden müsse. Dabei ähnelt die Rhetorik der der dreißiger Jahre gespenstisch. Die Konzeption der reinen ungarischen Kultur taucht erneut auf, und der Mechanismus der Identifikation über Feindbildkonstruktionen greift. Aus den Opfern, die sich „wehren müssen“, werden viele langsam wieder zu Tätern: Die Fundamentalismen und Rassismen im Lande wachsen.

Tatsächlich war der Prozeß der EU-Integration bis jetzt vom Markt her bestimmt, und Ungarn wurde dabei weitgehend zum Wirtschaftsfaktor degradiert. Als logische Konsequenz wird die Integration - trotz bester Absichten - als eine von oben herab geführte, erneute „Kolonisation der Quote“ erlebt, weshalb auch die für sie dringend notwendige geistig-kulturelle Basis fehlt.

Zur Erhaltung der politischen Stabilität in Europa muß die Kulturpolitik zum Motor der Einigung werden. Damit Kultur nicht weiter als Instrument des Machterhalts benutzt wird, sondern zur Identitätsfindung und Selbstreflexion beiträgt, ist es allerhöchste Zeit für einen kulturpolitischen Dialog mit der EU als einheitlicher Wertegemeinschaft und für langfristig angelegte Investitionen in kulturelle Identitäten einer künftigen zivilen Gesellschaft. Denn nur stabile Identitäten weichen Fragen reflexiver Modernisierung nicht aus und halten Spannungen und Differenzen stand. Zudem kann nur eine gegenüber Markt und Politik weitgehend autonome Kultur eine hohe Integrationsleistung hervorbringen, gesellschaftlich stabilisierend wirken und garantieren, daß Europa ein Europa der Nuancen bleibt.
 


[1] GRESPIK, László, ‚Szkíták törvénye' 1-3 rész (übers.: Das Gesetz der Skythen, Teil 1-3), in: Magyar Demokrata (übers.: Ungarischer Demokrat/ rechtsradikal-konservative, gesellschaftskritisch-kulturelle Wochenzeitschrift), 51/1999 - 01/2000; im Ung. Rdf. Kossuth, 08. Juli 2000, in ‚16 óra' (übers.: 16 Uhr/ liberale gesellschaftskritische Hörfunksendung)

[2] So z.B. in: ‚Vasárnapi újság' (übers.: Sonntagsmagazin/ rechtsradikal-konservative, gesellschaftskritisch-kulturelle Hörfunksendung), Ung. Rdf. Kossuth, 14. Mai 2000. Replik darauf: ACZÉL, Endre, ‚Közszolgálati zsidózás' (übers.: Öffentlich-rechtliche Judenhetze), in: Népszabadság (übers.: Volksfreiheit/ liberale Tageszeitung), 15. Mai 2000. Der Vorwurf der Hypersensibilität kam vom Berater des ungarischen Ministerpräsidenten ELEK, István, in: ‚A teljes magyarság kulturális integrációja' (übers.: Die kulturelle Integration des gesamten Ungarntums'), Magyar Nemzet (übers.: Ungarische Nation/ konservative, regierungsnahe Tageszeitung), 20. Mai 2000.