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10 2017

Humanitarismus zerstört das Politische

Ein Gespräch mit Sandro Mezzadra von Davor Konjikušić

Sandro Mezzadra / Davor Konjikušić

Übersetzt von Naomi Hennig

Sandro Mezzadra, Professor für Politische Theorie an der Universität Bologna und Adjunct Researcher am Institute for Culture and Society der University of Western Sydney, nahm vor kurzem als Gastredner an der öffentlichen Diskussion mit dem Titel „Remember Gastarbeiters! – So That You don’t Forget the Reality in which You Live“ in der Galerija Nova, Zagreb teil. Bei dieser Gelegenheit sprachen wir mit Professor Mezzadra über sein zuletzt erschienenes Buch, „Border as Method, or, the Multiplication of Labor“ (2013), das er gemeinsam mit Brett Neilson verfasst hat.

 

Davor Konjikušić: Können Sie ihr Konzept der globalen Multiplikation von Arbeit erläutern?

Sandro Mezzadra: Ich muss als erstes betonen, dass ich das Konzept der Multiplikation von Arbeit zusammen mit meinem Kollegen Brett Neilson entwickelt habe. Mit diesem Konzept versuchen wir die Charakteristika von Arbeit im gegenwärtigen Kapitalismus zu identifizieren. Es ist wichtig anzumerken, dass das Konzept der Multiplikation von Arbeit eng mit dem geläufigeren Begriff der Arbeitsteiligkeit verknüpft ist, und als dessen Ergänzung verstanden werden kann. Dies repräsentiert eine Realität, in der Arbeit unser Leben kolonisiert, während sie gleichzeitig einer allgemeinen Heterogenisierung unterworfen ist. Möglicherweise sollte eine solche Realität in Kontrast zu jener ökonomischen Politik gesetzt werden, die wir üblicherweise als Fordismus oder Massenindustrialisierung bezeichnen, und die durch die Vorherrschaft dessen charakterisiert ist, was als Standard der Regulierung von Arbeit gilt – besser bekannt als Form der „freien“ Lohnarbeit [auf Grundlage eines vertraglich geregelten Arbeitsverhältnisses, A.d.Ü.]. Natürlich war nicht jede ArbeiterIn im Fordismus in ein solches Vertragsverhältnis eingebunden, doch war der gesamte Arbeitsmarkt war um diesen Standard herum organisiert. Heute sind wir mit der Implosion dieses Standards konfrontiert, sogar im Hinblick auf die gesetzlichen Regelungen zur Vertragsarbeit mithilfe unzähliger unterschiedlicher Methoden, die selbst durch diesen Standard bestimmt werden. Es ist uns wichtig, uns auf diese Widersprüche zwischen kolonisierender Arbeit und Leben durch Arbeit zu fokussieren, auf die machtvollen Prozesse der Diversifizierung von Arbeit, und auf die Arten und Weisen, in denen diese Prozesse wahrgenommen werden. All dies hat den grundsätzlichen Kontext von Ausbeutung heute radikal verändert.


Wie beeinflussen diese Transformationen konkret unsere Alltagserfahrung?

Das Ideal der Langzeitbeschäftigung wurde durch die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, die Prekarisierung und Flexibilisierung von Arbeit, gefährdet. Die Erfahrung der arbeitenden Subjekte wird zunehmend von der Fragmentierung von Arbeitsbeziehungen bestimmt. All dies steht in Verbindung mit der Kolonisierung des Lebens durch Arbeit. Die Intensivierung von Arbeit bedeutet, dass die Leute mehr und mehr arbeiten, während die Diversifizierung sowohl in gesetzlicher Hinsicht als auch in den unterschiedlichen Arten von Arbeit deutlich wird. Die Flexibilisierung der Arbeitsgesetze und besonders die Implosion vertraglicher Arrangements, korrespondierend mit dem Niedergang kollektiver Tarifverträge, sind aus juristischer Perspektive besonders relevant.


Was ist der Unterschied zwischen der alten Figur der migrantischen ArbeiterIn, der sogenannten GastarbeiterIn, die typisch für industrielle Gesellschaften war, und der Figur der heutigen migrantischen ArbeiterIn in der Ära der globalen Moderne? Wie gestalten sich Arbeitsverhältnisse heute, auch wenn wir es in beiden Fällen mit einem fortgeschrittenen Kapitalismus zu tun haben?

Das ist eine extrem wichtige Frage. Um Migrationen der Vergangenheit zu verstehen, müssen wir uns auf die Figur der migrantischen ArbeiterIn, der GastarbeiterIn konzentrieren – ein vertrautes Konzept für Menschen in diesem Teil Europas. Die Erfahrung der GastarbeiterIn war verknüpft mit massiven Prozessen der Industrialisierung, die den Fordismus in Ländern wie Westdeutschland, Österreich oder Italien etablierten. Bis in die späten 1950er Jahre hatten wir in Italien zudem die Erfahrung einer verspäteten Industrialisierung. Diese Art von Erfahrung ist geprägt durch die großen internationalen Migrationsbewegungen von Süden nach Norden. Es gibt keine massive Industrialisierung ohne Migration. Eines der offensichtlichen Beispiele hierfür ist die Industrialisierung in den USA, die zu einer dramatischen transatlantischen Migration Ende des 19. Jhd. und Anfang des 20. Jhd. führte. Wenn wir diese historischen Beispiele betrachten, können wir leicht sehen dass spezifische Erfahrungen von Migration mit eben den Prozessen verbunden sind, innerhalb derer der gesamte Arbeitsmarkt um „freie“ Lohnarbeit herum organisiert wird. Die Erfahrung italienischer, spanischer und jugoslawischer Gastarbeiter nach dem 2. Weltkrieg bestand in der Ankunft und der Hinzufügung zusätzlicher Arbeitskräfte zu der bestehenden Arbeiterschaft in den westlichen Ländern. Mit einigen Ausnahmen war die Mehrheit dieser ArbeiterInnen direkt in den Fabriken beschäftigt, und das war der Standard, der die gesamte Erfahrung von Migration in diesem historischen Moment bestimmte. Heute jedoch hat sich all dies vollkommen verändert, weil die Erfahrung gegenwärtiger Migration auf dem jeweiligen sozio-ökonomischen Umfeld beruht – einem Umfeld, dass gänzlich bestimmt wird durch die Flexibilisierung der Ökonomie und der Gesellschaft. Heute ist es unmöglich, eine Standard-Figur einer migrantischen ArbeiterIn zu definieren, der die Figur der GastarbeiterIn der 1950er oder 60er Jahre ablöst. Die heutige migrantische Erfahrung wird durch unterschiedliche Arten von Arbeit geprägt. Wir haben heute ArbeiterInnen im Baugewerbe, in der Landwirtschaft, im Dienstleistungssektor, StraßenhändlerInnen, HausarbeiterInnen, usw.

Zudem basierte das Bild der GastarbeiterIn auf der Erfahrung des männlichen Industriearbeiters, in Nichtbeachtung der Tatsache dass viele dieser ArbeiterInnen Frauen waren. Die Unsichtbarmachung weiblicher Migration in der Ära der GastarbeiterInnen ist ein wichtiges Thema für sich. Heute ist es unmöglich, die Bedeutung der weiblichen Migrationserfahrung vor dem Hintergrund der mächtigen Prozesse der Feminisierung von Migration zu ignorieren, die mit zur Diversifizierung migrantischer Arbeit beitragen. Wir können das am Beispiel der BabysitterInnen und Haushaltshilfen sehen – Jobs, die meistens von migrantischen Arbeiterinnen gemacht werden. Entscheidend in Bezug auf die Feminisierung der Migration ist jedoch noch etwas anderes – etwas, das über die schlichte Tatsache hinausweist, dass fast 50% der MigrantInnen heute Frauen sind (ILO 2010). Wichtiger noch sind die konfliktreichen und angespannten Prozesse von Krise und Transformation der Geschlechterverhältnisse und der geschlechtlichen Arbeitsteilung, vor deren Hintergrund sich der enorme Zuwachs an Frauen innerhalb der Migrationsbewegungen abspielt. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die „Feminisierung“ von Migration mit den dramatischen Transformationen der Fürsorge- und Dienstleistungsarbeit verknüpft ist, durch die solche Aufgaben und Fähigkeiten in den Mittelpunkt rückten, die historisch als typisch „weiblich“ konstruiert wurden. Wenn wir die Mittel der Rekrutierung von ArbeiterInnen analysieren, lassen sich bedeutende und dramatische Effekte erkennen. GastarbeiterInnen wurden durch Fabrikzentralen rekrutiert, während es heute staatliche Behörden sind, die ArbeiterInnen rekrutieren – gelegentlich, gezielt, und für eine bestimmte Dauer. Migration wird kontrolliert, um genau die Anzahl von migrantischen ArbeiterInnen zu rekrutieren, die benötigt wird. Die Verbreitung von Punkte-basierten Systemen für die Rekrutierung und das Management migrantischer Arbeit, Sektor-gebundene und zeitlich begrenzte Rekrutierungsprogramme, sowie die zunehmend wichtiger werdende Rolle einer Bandbreite von ArbeiterInnen und Agenturen sind alle Teil eines Migrationsmanagements, angetrieben von dem Traum einer „genau-zum-richtigen-Zeitpunkt“ und „exakt-abgestimmt“ ablaufenden Migration. Diese Art von Kontrolle ist natürlich eine Fantasie, doch beeinflusst sie die Evolution von Migrationen mit Blick auf temporäre, zirkuläre Migration oder saisonale und Sektor-gebundene Migration…Dies sind die Konsequenzen der Art und Weise, auf die Behörden Migration kontrollieren – eine Praxis, die die zeitgenössische Landkarte von Migration und Politik in vielen Teilen der Welt bestimmt.


Die britische Zeitschrift The Economist hat kürzlich eine Karte publiziert, die zeigt, dass die Anzahl der Mauern, Zäune und Stacheldrähte an Grenzen sehr bald die Zahl der befestigten und militarisierten Grenzen während des Kalten Krieges übersteigen wird. Was bedeutet das mit Blick auf Migration, Arbeit und Ausbeutung?

Es lässt sich kaum abstreiten, dass in Europa, aber auch in anderen Teilen der Welt, ein großer Drang zur Errichtung von Mauern herrscht. Das ist ein defensiver und rückwirkender Versuch, Migration zu kontrollieren. Doch glaube ich, dass ein Widerspruch zwischen der Multiplizierung von Mauern und der Ratio des neoliberalen Kapitalismus besteht. Es ist extrem interessant, über diese Widersprüche nachzudenken. Die Mauern halten die turbulenten und autonomen Formen der Migration auf und können die Voraussetzungen für deren Management schaffen. Diese Art von Reaktion auf die Herausforderungen durch Migration ist vielsagend im Hinblick auf die generelle Krise der Europäischen Union, die auf Mobilität angewiesen ist und deren Mobilitätssystem gleichzeitig völlig gelähmt ist. Mein Eindruck ist, dass wir es mit der Krise eines Grenzregimes zu tun haben, das versucht, Methoden der Blockierung und der Ermöglichung von Mobilität miteinander zu kombinieren.


Haben Sie sich jemals gefragt, warum Deutschland die größte Anzahl von MigrantInnen aufgenommen hat, im Gegensatz zu anderen Ländern wie Frankreich, Österreich, oder Großbritannien, die eine eher restriktive Migrationspolitik verfolgen?

SM: Das ist nicht leicht zu beantworten. Ich glaube, dass es verschiedene Gründe für diese Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel gab. Einer der Gründe ist definitiv das Bedürfnis nach Wiedererlangung einer deutschen „moralischen“ Führungsposition in Europa, insbesondere nach der Griechenlandkrise. Diese Gründe hängen auch mit internen politischen Motivationen und Dynamiken zusammen. Aber ich bin überzeugt, dass einer der Gründe für Merkel und einen großen Teil des deutschen politischen Establishments darin besteht, dass sie sich des Problems innerhalb des Europäischen Mobilitätssystems bewusst sind. Daher sehen sie hier die Möglichkeit, neue Formen der Integration von MigrantInnen in einem Land auszutesten, dessen Wirtschaft von Migration abhängig ist. Wolfgang Schäuble hat dies in den letzten Monaten mehrfach geäußert.


Könnte man sagen, dass es Deutschland darum geht, neue billige Arbeitskräfte zu beschaffen?

Das ist eine Vereinfachung, aber man könnte es so ausdrücken. Es gibt Versuche, mit Stellen zu experimentieren, die von Unternehmern für Menschen angeboten werden, die auf soziale Unterstützung angewiesen sind. Diese Arbeit wird mit nur einem Euro pro Stunde vergütet. Für MigrantInnen ist die Bezahlung noch geringer: 80 Cent pro Stunde. Es ist absolut klar für mich, dass dies ein Versuch ist, die Diversifizierung der Arbeit und des Arbeitsmarkts auszubauen. Wir sollten auch die Situation in anderen Ländern wie Großbritannien analysieren, wo es einen extrem großen Anteil an Migration aus Osteuropa gibt, und daraus resultierend, keinen aktuellen Bedarf an migrantischen ArbeiterInnen.


Es ist interessant, dass Sie sich weigern, MigrantInnen nur als Opfer zu sehen, und dass Sie Migration als soziale Bewegung verstehen. Ist es davon ausgehend möglich, die politische Subjektivierung von MigrantInnen zu gestalten, in einer Zeit, in der diese meist als Opfer, und Migration als humanitäres Problem dargestellt werden?

Natürlich, das ist die eine entscheidende Frage. Beginnen wir mit der humanitären Herangehensweise an das Migrationsmanagement – eine, die im Grunde eine grundlegende Entpolitisierung von Migration darstellt. „Die Kritik der humanitären Vernunft,“ um einen Buchtitel Didier Fassins zu zitieren, ist eine wichtige Aufgabe für alle diejenigen, die sich gegenwärtig mit kritischer Migrationsforschung beschäftigen. Wir sind heute mit einem Humanitarismus konfrontiert, der zunehmend mit dem Prozess der Militarisierung von Grenzen in Verbindung steht – was durch viele kritische Analysen der Vorgänge im Mittelmeerraum demonstriert wird. Ich versuche nicht, Humanitarismus leichtfertig zu kritisieren, da es sich um ein komplexes Problem handelt. Das humanitäre Migrationsregime birgt Widersprüche und Öffnungen, die von MigrantInnen für Aushandlungen und Grenzübertritte ausgenutzt werden können. Migration an sich ist eine soziale Bewegung mit objektiven politischen Implikationen. Das bedeutet, dass wir Migration durch die Subjektivität von MigrantInnen und ihr subjektives Verhalten begreifen müssen. Das ist extrem wichtig wenn wir dazu beitragen wollen, dass MigrantInnen ein anderes Selbstbild entwickeln, und zwar eines, das nicht nur darauf reduziert ist, Opfer des Systems zu sein – was bekanntermaßen die Grundlage des Humanitarismus ist. Migrationen sind eine soziale Bewegung im objektiven Sinne, was jedoch nicht bedeutet, dass MigrantInnen notwendigerweise politische Subjekte sind. Es bedeutet auch nicht, dass MigrantInnen subversive Subjekte sind, vielmehr bedeutet es, dass ihre Erfahrungen und Performances eine ganze Reihe von Widersprüchen enthalten. Ihre Bewegung und ihre Kämpfe politisieren häufig diese Widersprüche. Eine MigrantIn ist per se kein politisches Subjekt radikaler Transformation, aber sie wird auf eine Art durch diese Widersprüche konstituiert, die sie durch subjektive Anspannung kontrolliert. So werden Migrationen politisch. In vielen Orten Europas engagieren sich MigrantInnen zudem in großartigen, beispielhaften Kämpfen. Eine der wichtigen Fragen ist, wie sich solche Bewegungen und Kämpfe mit anderen Bewegungen und Kämpfen verbinden lassen, um eine breitere Koalition für eine noch radikalere Demokratisierung zu schaffen.


Wie sehen Sie die Zukunft der heutigen MigrantInnen in Europa, besonders im Hinblick auf die lokale Arbeiterschaft? Wie werden sie in den Arbeitsmarkt integriert?

Das ist eine sehr komplizierte Frage. Die heutige Situation macht mich nicht zum Optimisten. Ich glaube, dass wir die Europäische Situation, die durch den Aufschwung alter und neuer rechter Kräfte geprägt ist, realistisch analysieren müssen. Diese Kräfte arbeiten intensiv darauf hin, ihre Gesellschaften zu verschließen indem sie Angst verbreiten, was durch die Angst vor dem Terrorismus gerechtfertigt wird. In solch einer Situation ist es objektiv sehr schwierig und kompliziert, die Integration von MigrantInnen umzusetzen. Eine Gefahr besteht darin, dass Integration zum Hintergrund für eine weitreichende und scheinbar unvermeidliche Anpassung wird. Dies setzt jedoch einen Verlust der Werte jener Gesellschaft voraus, die diese MigrantInnen integriert. Eine solche Situation fördert, wie ich glaube, die weitergehenden Verfestigung sozialer Hierarchien, und MigrantInnen hätten in der Folge einen hohen Preis zu zahlen. Darum ist es wichtig, dass wir uns für die Herstellung eines sozialen und politischen Raums einsetzen, in dem sich migrantische Bewegungen und Kämpfe anderen Bewegungen und Kämpfen anschließen können. In Europa ist es dringend notwendig, dass sich eine demokratische Bewegung formiert, eine Bewegung, deren wichtigste langfristige Aufgabe die radikale Kritik des Kapitalismus ist.