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09 2016

Konfluenzen

Die molekular-revolutionäre Kraft der neuen Munizipalismen in Spanien

Gerald Raunig

Etwas ist faul in den Gemeinden Spaniens. In einem Europa, das von institutionellem Rassismus, neuen Faschismen und rasenden Rechtsrucken der aggressiven Mitte gezeichnet ist, wirken die Entwicklungen der letzten sechs Jahre in Spanien seltsam zeit- und raumversetzt, aus den Fugen. Anomalie, Abweichung, Anzeichen des Umbruchs. Der soziale Protagonismus der 15M-Bewegung, die Platzbesetzungen, die Acampadas, die Mareas, die Asambleas, die erfolgreiche Sorge-Praxis der Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH), die Bewegungen, die in confluencias für die diversen Wahlen vor allem auf Stadt/Gemeinde-Ebene münden – all das scheint beispiellos. Im Mai 2015 erfolgte bei den Wahlen auf lokaler Ebene der Durchbruch einer Bewegung, die sich in den Jahren zuvor praktisch und theoretisch abgezeichnet hatte: In all seinen unterschiedlichen Spielarten zeigte sich in ganz Spanien ein neuer Munizipalismus.

Inzwischen haben die neuen Stadtregierungen ihre ersten Erfahrungen gemacht, manche, wie in Barcelona und Madrid, sogar unter der Führung der Bewegungsplattformen unter Namen wie Ganemos, En Comú, Compromis, Ahora, Participa etc. Ob an der Regierung oder in der Opposition – es gibt viel zu tun für jene Akteur_innen, die um und in den Rathäusern für ein nicht-hierarchisches Verhältnis von Bewegung und Institution kämpfen. Wie erwartet, tauchen in den Mühen der politischen Ebenen vielerorts auch Probleme auf, Probleme, die, legt man die klassischen Raster politischer Theorie auf sie an, die üblichen Mechanismen der „Machtübernahme“, des „Marsches durch die Institutionen“, der Spaltung von Bewegung und Organisation zu wiederholen scheinen. In dieser traditionellen Perspektive hat es den Anschein, als ob auch die Kraft des transversalen Intellekts von 15M zurückginge. Doch die Textmaschinen und revolutionären Maschinen hören auch in der Fülle der Schwierigkeiten und Widersprüche nicht auf, sich gegenseitig anzuwerfen. Das Kämpfen, das Denken, das Fragen geht weiter, das Weitergehen geht weiter, nicht einfach im Sinne der Verschiebung von Hegemonie, sondern als ständiger Kampf gegen Normalisierung und Totalität, gegen Fügung und Fügsamkeit. Aus den Fugen nicht nur die Zeit, auch ihr Raum, entsteht dieser Kampf in der molekularen Immanenz der Munizipalismen selbst, gerade in ihrer Ungefügigkeit und ihren Neufügungen.


Drei Probleme des
Munizipalismus

Erstes Problem: Lineare Vorstellungen von politischer Organisation und Machtübernahme

Wie lineare Vorstellungen von Geschichte und Fortschritt im Allgemeinen die komplexen Brüche und Sprünge politischer Geschichten auszulöschen tendieren, so ist auch die lineare Darstellung der Genealogie sozialer Kämpfe von ihren Ursprüngen bis zur Machtübernahme immer problematisch. Im Fall der spanischen Bewegungen betrifft das ihre einfache Herleitung von den Platzbesetzungen des 15M, insofern diese auf einen traditionellen Gründungsmythos beschränkt wurden. Die Genealogie ist keine gerade Linie von einem historischen Ursprung zu einer heroischen Zukunft, sie wird in der Jetztzeit produziert. Sie schlägt im Hier und Jetzt ihre Haken mal in die anarchistische Geschichte, mal in den „arabischen Frühling“, in die translokalen Praxen der Antiglobalisierungsbewegung, die Social Fora und die Universitätsbesetzungen, in die Pariser Commune oder in tausenderlei verschiedene Verknüpfungen postkolonialer Übersetzungsprozesse vor allem von und nach Lateinamerika.

Genauso wenig geradlinig lässt sich das Verhältnis der Bewegung der municipalismos zu den municipios als Subjekt/Objektbeziehung beschreiben, als revolutionäres Subjekt, das sich seines Begehrensobjekts bemächtigt. Es geht nicht einfach um die Übernahme der durch die Aushöhlung der repräsentativen Demokratie entleerten Gefäße, der korrupten Parteien, des obsolet gewordenen Staatsapparats. Vielmehr geht es um die Veränderung der institutionellen Form selbst, der Subjektivierungsweisen und der instituierenden Praxen, die nicht erst nach der Übernahme des Staatsapparats beginnt, sondern vor und jenseits linearer Entwicklungsvorstellungen. Die neue Institutionalität ist schon vor und vor jeder Form von Übernahme. Und es ist, so wie Stefano Harney und Fred Moten dieses „vor und vor“ konzipieren,[1] ein zugleich zeitliches und örtliches Vor, das sich der doppelten Einfügung in eine lineare zeitliche wie räumliche Ordnung entzieht – wie der Munizipalismus an anderen Orten und zu anderen Zeiten seine Spuren gehabt, seine Breschen geschlagen, seine Linien gezogen haben wird.

Zweites Problem: Ökonomien der Abgabe

Municipium bezeichnete in der römischen Republik zunächst eine von Rom abhängige Stadt Latiums und später Italiens, deren Bürger (municipes) gegenüber Rom die gleichen Pflichten übernehmen (munus capere) mussten wie die römischen Bürger. In der Regel handelte es sich bei einem municipium also um einen Ort, der sich den Römern hatte unterwerfen müssen. Diese Ungleichheit wurde zwar im Laufe der römischen Geschichte immer mehr nivelliert, doch selbst nachdem die municipia mit Rom gleichberechtigt wurden, hieß das munus neben den gleichen Rechten noch immer auch gleiche Pflichten: eine Steuer abgeben zu müssen, eine Abgabe geben zu müssen, blieb Voraussetzung dafür, Teil der Gemeinschaft (com-munitas) zu sein. Das munus ist hier weniger Gabe oder Geschenk denn Abgabe, Verpflichtung, Steuer – die Teilhabe also kein Mehrwerden, sondern Wenigerwerden.[2]

Alle Fragen an die neuen Munizipalismen beginnen damit, wie gegen diese etymologische und historische Last des municipium eine radikale Wende eingeleitet werden kann: Wodurch kann eine Bewegung entstehen, welche die ökonomisch-rechtliche Verpflichtung der städtischen Abgabe nicht als Voraussetzung für Aus- und Einschluss in die Gemeinschaft der Bürger_innen (ciudadanía) handhabt? Wie kann dieser Mechanismus der ökonomischen Vergemeinschaftung durch Abgabe und der rechtlich-politischen Individualisierung als Bürger_innen-Individuen gebrochen werden? Wie können sich neue Formen der dividuellen Teilung und Sorge-Ökonomie entwickeln, Weisen der radikalen Inklusion und cuidadanía[3]?

Drittes Problem: Lokalismus als Schließung

In allen Darstellungen, Reflexionen und Theoretisierungen der Munizipalismen steht die Betonung des Lokalen im Vordergrund. Anstatt Entscheidungen auf die allzu abstrakten Ebenen des National-/Zentralstaats, der EU, der globalisierten kapitalistischen Ökonomie zu schieben, geht es vor allem um die Politisierung des engeren räumlichen Kontexts. Begriffe wie cercano, proximo, vecino, local, territorio, directo, inmediato, endógeno sind lexikalische Anzeiger einer spezifischen, auf das Lokale fokussierten Reterritorialisierung.[4]

Das Problem, das ich hier sehe, liegt nicht in einer unterstellten Beschränkung der Mikropolitik von horizontalen Praxen, der Politik von Unten, einer Horizontalität, der ihre vertikale Komponente abginge; es liegt vielmehr in der drohenden Einfriedung, Begrenzung und Schließung der lokalen Praxen. Das betrifft heute nicht nur die klassischen Nationalismen vor allem in Katalonien und dem Baskenland, die in neuen Gewändern neuen Zuspruch bekommen. Es betrifft auch die Gefahr der kommunitären Einfriedung gegenüber den aktuellen Flüssen von Flucht und Migration. Neue Formen der Reterritorialisierung sind zweifelsohne notwendig, aber nicht als Substanzialisierung und Schließung des Territoriums, sondern als Vielfalt und Vervielfältigung subsistenzieller Territorien, die in einen europäischen konstituierenden Prozess zu münden vermögen.[5] Nicht vorzüglich von Europa ausgehend und sicher über Europa hinaus vermögen es diese Flüsse und Zusammenflüsse, translokale abstrakte Maschinen in vielen Welten zu schaffen.


1 Barcelona vor und vor der Machtübernahme

Neue Institutionalität ist immer schon vor und vor. Sie beginnt nicht mit oder nach einer Machtübernahme, einer Übernahme des Apparats, nach der Gründung eines neuen Staats, der auf einen anderen folgt. Und sei es eine Übernahme, die nicht durch Herrschaft, sondern durch Hegemonie und Populismus oder durch Normalisierung des vormalig Anormalen zustande gebracht wird. Die Plattformen, die Mareas, die Versammlungen in den Barrios waren schon da ­ als neue Formen subsistenzieller Teilung, Dividualität, deren Linien sich ziehen ließen und lassen, gerade auf dem Immanenzfeld Europas in der Krise.

In Barcelona wurde im Juni 2015 mit Ada Colau eine zentrale Aktivistin der PAH[6] zur Bürgermeisterin gewählt. Das wurde möglich, weil Barcelona en Comú 11 der 40 Mandate im Stadtparlament erhielt und damit zur größten Fraktion reüssierte. Dass ein paar Monate später En Comú Podem auch bei den nationalen Parlamentswahlen im Dezember Nummer Eins in Katalonien wurde, ist ein erstaunlicher Erfolg, aber nicht als „eigentliches Ziel“ einer Bewegung, die immer schon Partei werden wollte, sondern lediglich als einer von vielen Effekten der Munizipalismen. Was die Präposition „vor“ in der Formulierung „vor und vor“ anklingen lässt, ist sicher nicht die Vormacht der Vorstellung von der Partei, auf deren Wahlsieg alles ausgerichtet war und ist.

Vor und vor diesen erstaunlichen Wahlerfolgen hatte sich eine neue Institutionalität entwickelt: vor den Ämtern, auf der Straße, auf den Plätzen, in den Asambleas, und vor der Übernahme der Ämter als Erprobung von neuen molekularen Organisationsweisen der radikalen Inklusion. Vor-Verortung und Vor-Zukunft, auch und vor allem im Herzen des Staatsapparats: Barcelona en Comú wollte die Gemeinde nicht einfach nach geschlagener Wahl im Juni 2015 übernehmen, als überzeitlich konstanten Container, dessen Inhalt entweder übernommen oder ausgetauscht wird.

Neben vielen Versammlungen, mikropolitischen Praxen und unterschiedlichsten Aktionen initiierte die Plattform mitten in der Wahlbewegung des Frühjahrs 2015 auch eine militante Untersuchung unter den Gemeindeangestellten in Barcelona. Nicht nur, dass die Aktivist_innen von Barcelona en Comú interessiert waren, den Staatsapparat zu untersuchen – auch die Angestellten zeigten sich bereit, ihre Institution zu hinterfragen.[7] In einer Reihe von Diskussionsrunden trafen sich ca. 60 Forschende (Aktivist_innen, Akademiker_innen und Angestellte, manche davon alles in einem) in kleineren Gruppen. Die Forschungsfragen betrafen die Machtverhältnisse unter den Gemeindeangestellten, ihre Arbeitsverhältnisse, die Beziehungen der Angestellten zu den Bürger_innen sowie zu den gewählten Vertreter_innen und die politische Struktur der Gemeinde. Die Untersuchung ergab, dass im Gegensatz zum Bild vom abgesicherten Beamten die Transformationen des maschinischen Kapitalismus und die damit einhergehende Prekarisierung auch nicht vor der Arbeitsorganisation des Staatsapparats haltgemacht hatten: Nach dem Ende des Franquismus waren in den 1970er und 1980er Jahren zwar auch Aktivist_innen aus organisierten Nachbarschaften in die öffentliche Verwaltung gekommen, deren Engagement aber bald vereinnahmt und neutralisiert wurde. Anstatt sie an der Konstruktion konkreter Politik zu beteiligen, wurde das „technische Wissen“ der Angestellten marginalisiert. Mit der zunehmenden Ausbreitung von Korruption verstand die Mehrheit der Gemeindebediensteten ihre Macht nicht mehr als Autonomie, sondern als „Treue“ zu „politischen Familien“ und Parteien, die bestimmten, wie neue Stellen vergeben wurden und Karrieren sich entwickelten. Die Prekarisierung der Arbeit hatte zugleich weitere Formen der Isolierung zur Folge: horizontale Isolierung der Abteilungen untereinander und vertikale Isolierung im Verhältnis zu den Bürger_innen. Vor allem in den Abteilungen für Minderheitenfragen wurden die Beschäftigten seit den 1990er Jahren mehr und mehr prekarisiert und marginalisiert.

Diese Situation von allgemeiner Korruption und Prekarisierung zu transformieren, bedeutete zunächst zurückzukommen auf den spezifischen Intellekt, das „technische Wissen“ der Verwaltenden als Expert_innen: Diejenigen, die den Apparat kennen, die wissen, wie er funktioniert, haben auch eine besondere Kompetenz darin, ihn zu verändern. In der militanten Untersuchung formulierten die Teilnehmenden daher Dokumente, Protokolle und Positionen, die inhaltliche Grundlage für Veränderungen ihrer eigenen Tätigkeit und Institutionalität sein sollten. Natürlich hatte die Untersuchung auch den Effekt, dass Barcelona en Comú gerade durch den frühen Eingriff in die Institution an Legitimation gewann, und im Vorbeigehen auch ein Wissen, das den Akteur_innen nun, da sie „im Amt“ sind, auf unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung und Politik tätig sind, zugutekommt. Der wichtigste Effekt besteht aber im Zusammenfließen und im Un/gefüge der Subjektivierungen, das genau zwischen identifizierbaren Akteur_innen wie Barcelona en Comú und „der Verwaltung“ in Gang gebracht zu werden vermag. Hier liegt auch die Potenzialität einer neuen ungefügigen Institutionalität – immer vor und vor der Machtübernahme, als Veränderung von Subjektivierungsweisen und Institutionalität. Um innerhalb der Munizipalismen neue instituierende Praxen zu erfinden und zu erproben, braucht es kein ungestörtes Funktionieren des Apparats, auch wenn er im Dienst der Bürger_innen oder einer guten Sache zu handeln glaubt. Es braucht vielmehr genau dieses Un/gefüge, eine institutionelle und instituierende Maschine, die sich nicht in ihrer Struktur verschließt, sondern permanent Zusammenbrüche wie Durchbrüche, Verästelungen und Zusammenflüsse produziert, Konfluenzen.


2 M
álaga: Bienenstöcke und subsistenzielle Territorien

Málaga wird seit Jahrzehnten vom Partido Popular regiert, der die Probleme der ökonomischen Krise (Jugendarbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Kinderarmut u.v.m.) mit einer einzigen, einfachen Strategie, der Investition in den Tourismus, zu beantworten scheint. Symbolträchtig wird vor allem an den Instrumenten des Kulturtourismus gebastelt: Während die soziokulturelle Infrastruktur der meisten Barrios gegen Null geht, zielt die konservative Kulturpolitik auf die spektakuläre Ansiedlung von großen wie glatten Institutionen im Zentrum und am Hafen. Z. B. das CAC, das sich zwar „Museo y centro de arte contemporáneo“ nennt, aber zugleich laut seiner Website auch „based on the model of the German ‚Kunsthalle‘“ sein will. Diese Kunsthalle hat kein aufregendes Programm und zugleich das wenig versteckte Ziel der Gentrifizierung seines direkten Umfelds: Das direkt am Hafen gelegene Barrio Ensanche Centro soll unter seinem „neuen“ Namen Soho mithilfe von Kunst aufgewertet werden. Das Projekt, das vor allem dekontextualisierte Graffiti-Kunst fördert, begleitet seit Jahren unter dem Brand „Málaga Arte Urbano Soho“ die Abwanderung und Aussiedelung alter Bewohner_innen-Schichten und – weniger erfolgreich – die schleppende Ansiedlung der Nouveaux Riches.

Ein anderes Beispiel – hier geht es weniger um die neuen Reichen als um die alte Aristokratie – ist das Museo Thyssen, ein provinzielles Museum, das auch mit Mitteln der Gemeinde 2011 eröffnet wurde. Weit auffälliger als seine Sammlung ist das ausgedehnte Branding des Umfelds des Museums: Einen großen Teil des Zentrums von Málaga behübschen kleine Flaggen an Läden, Restaurants und Galerien, die das Barrio als „Entorno Thyssen“ ausweisen. Die drei Begriffe, die die Flaggen jenseits des Namens der adeligen Patronin zieren, lauten passenderweise: comercio cultura turismo. Zuletzt hat sich die Stadt Málaga 2015 auch noch für fünf Jahre in das Franchising des Pariser Centre Pompidou eingekauft. Als konservative Kopie der problematischen Gentrifizierung Barcelonetas wurde das Hinterland von Malagueta zu einer Plastik-Luxus-Ausgehmeile umgebaut, an deren Anfang ein aufwendiger Museumsneubau nicht vor Ort, sondern in Paris geplante und organisierte Ausstellungen zweitverwertet. Keine Involvierung lokaler Kräfte, nicht einmal beim Bau des Kulturzentrums, geschweige denn bei der Kuratierung oder Programmierung.[8]

Die Teilhabe an dieser Form von ökonomisch übercodierter com-munitas beschränkt sich auf den Konsumismus von Tourist_innen und oberen Schichten. Während das munus, die Abgabe, alle betrifft, gelten die Vorteile nur für die Wenigen. Der falschen Vorstellung vom municipium als hierarchischer Verwaltung von Ein- und Ausschluss, als Zwangsgemeinschaft der rechtlichen Verpflichtung zur Abgabe lässt sich am besten mit neuen sozialen und ökonomischen Experimenten begegnen: In Málaga gehen diese seit 2007 vor allem von der Casa Invisible aus, einem besetzten und umkämpften „Centro Social y Cultural de Gestión Ciudadana“ mitten im Zentrum Málagas. In diesem Zentrum fanden auch die meisten Gründungstreffen der politischen Plattform statt, die sich – ähnlich wie in Madrid – den Namen Málaga Ahora gab. Im Mai 2015 wurden vier Abgeordnete von Málaga Ahora in Málagas Ayuntamiento gewählt, als drittgrößte Fraktion von fünf.

Anstatt das dafür offiziell vorgesehene Geld für einen eigenen Partei-Sitz auszugeben, begann Málaga Ahora Ende 2015 damit, Sozialzentren zu gründen, Zentren der soziokulturellen Praxis, einer neuen Politik der Affekte im Barrio.[9] Die soziale Zusammensetzung der Colmenas („Bienenstöcke“, wie diese Zentren genannt werden) differiert von jener der klassischen Sozialzentren und subkulturell geprägter, besetzter Häuser. Auch hier gilt das Schlagwort der confluencia, des Zusammenfließens von unterschiedlichen Akteur_innen, damit eines strömenden Territoriums, das nicht leicht kontrollierbar ist, diffus, überfließend. Die Colmenas sind in erster Linie Nachbarschaftszentren, niedrigschwellige Treffpunkte, selbstverwaltete soziokulturelle Zentren, deren Infrastruktur über den Umweg der Umverteilung durch Málaga Ahora von der Gemeinde getragen wird. Doch auch wenn die Infrastruktur von der Gemeinde zur Verfügung gestellt wird, bleibt die Verwaltung der Colmenas zur Gänze bei ihnen selbst. Bis heute sind drei Colmenas in drei verschiedenen Bezirken außerhalb des Zentrums (El Palo, Carretera de Cádiz und Puerto de la Torre) entstanden, mit einem vielfältigen Programm, das die verschiedenen Interessen der Protagonist_innen abbildet.

Der Bienenstock ist das subsistenzielle Territorium der Bienen. Doch diese „Bienen“ sind anders als ihre Verwandten aus dem Tierreich. Es gibt kein Bienen-Volk. Es gibt zwar eine Sprecherin von Málaga Ahora, die Anwältin und Aktivistin Ysabel Torralbo, aber ihre Rolle ist nicht die der Bienenkönigin. Die Politik der Affekte, des unentwegten Zuhörens, der confluencia real, die Málaga Ahora vertritt, funktioniert nicht populistisch, auch keineswegs in der Annahme, dass ein Bienenvolk von einer zentralen Akteur_in angerufen würde. Es geht hier auch andererseits nicht um die Ausformung souveräner individueller Bürgerschaft, sondern um die Gründung von Territorien dividueller Sorge, immer vor und vor der Souveränität. Wenn ich in diesem Zusammenhang von subsistenziellen Territorien spreche, klingt nicht die Idee von patriarchalen Formen der Subsistenzwirtschaft mit, sondern eine queere, feministische Form der Sorge-Ökonomie, die ausgeht von der Subsistenz der wilden Sorge im Barrio. Jeder Sorgebeziehung ihre spezifische Subsistenz. Das Territorium ist nicht Substanz, sondern offenes Terrain der Sorgebeziehungen. In und durch die Colmenas breitet sich die cuidadanía aus, Vielheit der Sorgebeziehungen, die nicht klientelistisch, top-down und individualisierend funktioniert, nicht auf Steuer und Schuld des munus basierend, sondern als neuer Munizipalismus auf Teilung, Sorge und wechselseitiger Verschuldung, schlechten, faulen Schulden, die nicht zurückgezahlt werden und nicht zurückzahlbar sind.


3 Sevilla – Abstrakte Maschinen und die ausstehende Technopolitik der Munizipalismen

Die Munizipalismen beginnen in der sozialen Mitte des Lokalen, des Nachbarschaftlichen, des Territoriums. Doch dieser Lokalismus läuft Gefahr, zur Schließung zu tendieren, wenn er ihr nicht Formen der Deterritorialisierung entgegensetzt. „Somos enjambre“, sagt Málaga Ahora[10], kein Bienen-Volk also, sondern ein Schwarm. Und wenn der Schwarm ausschwärmt, kann er auch faul werden. „Faul“ ist der munizipalistische Schwarm gerade nicht deshalb, weil er faul im Bienenstock hocken bliebe, aber auch nicht weil er zu wenig dem Ideal einer einheitlichen, unterwürfigen, fleißigen Bienengemeinschaft folgte. Es ist etwas faul an diesem Schwarm wegen der ausfransenden, unkontrollierbaren Wirkung seiner Wunschproduktion. In und aus dem lokalen, nachbarschaftlichen Kontext fließend, in confluencias zusammenfließend, über seine Grenzen überfließend, produziert der Schwarm im Ausschwärmen ein Über-Schwärmen.

In Sevilla heißt die neue Plattform Participa Sevilla; sie errang drei Mandate bei den kommunalen Wahlen, und auch hier ist die Spitzenkandidatin eine Frau, die Kuratorin Susana Serrano. Auch in Sevilla gibt es den Plan der Gründung von Sozialzentren, doch die realen Räume in den Barrios sind nicht die einzigen subsistenziellen Territorien. Gerade für die Beantwortung der Frage, wie die Flüsse der cuidadanía über die Grenzen des Lokalen zusammen-, über- und hinausfließen könnten, werden technopolitische Aspekte relevant. Susana Serrano erzählt etwa, dass die Circulos von Podemos ihre Legitimation teilweise durch die Eröffnung einer Facebook-Site erreicht haben, nicht etwa durch den Nachweis einer ersten, auf Papier protokollierten Sitzung oder die Vormacht einer gewissen, durch die nationale Podemos-Leitung eingesetzte Gruppe. Doch Facebook ist definitiv nicht das geeignete Medium molekularer Revolution. Unter dem Namen n-1 hatte es schon ein technopolitisches Dispositiv in Spanien gegeben, das die Möglichkeiten von Medialität und Sozialität in selbstorganisierter Weise erweitern wollte. Gegeninformation, aktivistischer Forschung und dissidenter Wissensproduktion sollte eine andere Qualität von Datenschutz, aber auch andere technische Grundlagen sozialen Verkehrs geboten werden. Das bedeutete zugleich mehr Privacy und Tools zum sozialen Austausch, mehr Selbstkontrolle über die eigenen Daten und mehr technische Zuverlässigkeit, als die kommerziellen Dienstleister_innen des Web 2.0 bieten konnten. n-1 kam allerdings nie auch nur annähernd an die Mitglieder-Niveaus von Facebook heran. Um 15M stieg die Anzahl der Beteiligten 2011 zwar auf über 40.000, danach fiel das soziale Netz aber in sich zusammen.

Für die neuen Munizipalismen wird es neuer technopolitischer Räume bedürfen, Maschinen-Räume, die confluencias auch im translokalen Rahmen ermöglichen. Diese abstrakten Maschinen sind nicht einfach als Netzwerke zu denken, die existente Punkte, existente Territorien miteinander verbinden. Vielmehr geht es um Erfindung und Neuzusammensetzung, Stockungen und Zusammenflüsse, Zerstreuungen und Versammlungen, Un/gefüge. Die abstrakten Maschinen können nur gemeinsam mit den konkreten sozialen Maschinen entstehen, wie die Vielfalt der technopolitischen Ströme mit den Schwärmen in den Barrios, genauso faul, brüchig, geteilt, aus den Fugen, ungefügig.

 

Die Überlegungen zu diesem Text entstanden auf einer ausgedehnten Reise im Januar und Februar 2016. Ich möchte mich herzlich bei den Freund_innen und Aktivist_innen in Barcelona, Málaga und Sevilla bedanken, die in vielen Gesprächen und Diskussionen die Grundlagen dafür gelegt haben, sowie bei Isabell Lorey, Kelly Mulvaney und Manuela Zechner für zusätzliche Anregungen zum Text.

 



[1] Stefano Harney, Fred Moten, Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, übersetzt von Birgit Mennel und Gerald Raunig, Wien u. a.: transversal texts 2016, S. 11.

[2] Das munus ist ein minus. Vgl. zu dieser Problematik Isabell Lorey, Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie, Zürich: diaphanes 2011, S. 181-227, und Gerald Raunig, DIVIDUUM. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Band 1, Wien u. a.: transversal texts 2015, S. 101-106.

[3] Zum Neologismus der Precarias a la Deriva sowie zur minimalen Verschiebung von der ciudadanía zur cuidadanía vgl. Birgit Mennel, Stefan Nowotny, „Die militante Ethik der Precarias a la Deriva“, in: Precarias a la Deriva, Was ist dein Streik? Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität, übersetzt von Birgit Mennel, Wien u. a.: transversal texts 2014, S. 9-32, hier S. 29f.

[4] Vgl. etwa die einschlägigen Publikationen wie Observatorio Metropolitano, La apuesta municipalista. La democracia empieza por lo cercano, Madrid: Traficantes de sueños 2014; Angel Calle Collado, Ricard Vilaregut Sáez, Territorios en democracia. El municipalismo a debate, Barcelona: Icaria 2015 ; Fundación de los Comunes, Hacia nuevas instituciones democráticas, Madrid: Traficantes de sueños 2016; Emmanuel Rodríguez López, La política en el ocaso de la clase media. El ciclo 15M-Podemos, Madrid: Traficantes de sueños 2016.

[5] Vgl. Antonio Negri, Raúl Sánchez Cedillo, Für einen konstituierenden Prozess in Europa, übersetzt von Gerald Raunig, Wien u. a.: transversal texts 2015, und Marisa Pérez Colina, „Convertir la apuesta municipalista en palanca democratizadora“, https://www.diagonalperiodico.net/movimientos/28424-convertir-la-apuesta-municipalista-palanca-democratizadora.html. Pérez Colina versteht den Munizipalismus als „Hebel“ für eine demokratisierende Transformation Europas.

[6] Vgl. http://afectadosporlahipoteca.com/ sowie Ada Colau, Adrià Alemany, ¡Sí se puede!: Crónica de una pequeña gran victoria, Barcelona: Destino 2013.

[7] Für Fakten und Interpretation der militanten Untersuchung bedanke ich mich herzlich bei Francesco Salvini.

[8] Aus dieser Perspektive erklärt sich auch die Plakat-Aufschrift ¡menos museos mas empleos!, die mehrfach auf Demos in Málaga gesichtet wurde.

[9] Vgl. Javier Fernández Cruz, Curro Machuca, „Málaga Ahora como enjambre“, https://www.diagonalperiodico.net/la-plaza/28532-malaga-ahora-como-enjambre.html; Raúl Sánchez Cedillo, Juan Díaz Ramos, Pablo Lópiz, „Retos de los municipalismos II: federalismo municipalista, herramientas de organización, comunes“, https://www.diagonalperiodico.net/blogs/funda/retos-municipalismos-ii.html.

[10] Vgl. Santi Fernández Patón, „Somos enjambre“, http://www.eldiario.es/andalucia/desdeelsur/enjambre_6_391670880.html und Fernández Cruz, Machuca, „Málaga Ahora como enjambre“.