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04 2008

Kritik als Überwindung der Donquichoterie

Zur Entfaltung der Kritik bei Marx

Karl Reitter

Dass Kritik praktisch und umwälzend sein muss, hält Marx bereits in seiner berühmten elften These über Feuerbach fest. Aber wo, in welcher Sphäre des Sozialen kann diese tätige Kritik ansetzen, wo findet sie ihren Ort? Welches sind ihre Bedingungen, woran kann sie anknüpfen? Die Antwort auf die erste Frage entwickelt Marx bereits in seinen frühen Schriften, in der Kritik des Staates und der Politik. Wenn es diese verhüllten Elemente für eine klassenlose Gesellschaft gibt, dann sind sie im Bereich der Produktion und Reproduktion, im sozialen Verhältnis der Klassen zu finden. Selbst eine revolutionär gesinnte Staatsmacht kann kein wirksamer Hebel umwälzender Kritik sein. Eine Antwort auf die zweite Frage finden wir bereits zehn Jahre vor Erscheinen des ersten Bandes des Kapital in einer programmatischen Passage in den Grundrissen: „(…) wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechende Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.“[1]

 
Zur Bestimmung der Sphäre

Für Marx ist das Soziale kein Kontinuum, in dem Widerstand und Kritik an jedem Punkt gleichermaßen aufbrechen und wirksam werden können. Marx begreift die soziale Wirklichkeit als in strikte Sphären getrennte, deren Verhältnis durch Gegensatz und Konflikt gekennzeichnet ist. Die entscheidenden Sphären sind dabei der Staat einerseits und die Gesellschaft andererseits. Diese These entfaltet Marx vor allem im umfangreichen Manuskript „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, nicht zu verwechseln mit dem sehr populären Vorwort, sowie in der programmatischen Schrift „Zur Judenfrage“. Diese Trennung und Entgegensetzung ist ein historisches Resultat. In der Feudalität, so Marx, seien das Sozialökonomische und das Politische ineinander verschränkt, die Elemente des Alltagslebens unmittelbar Elemente des Staates. Heide Gerstenbergers große Studie Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt hat diese Auffassung von Marx glänzend bestätigt. Von einem der Gesellschaft entgegengesetzten und von ihr getrennten Staatsapparat könne vor der Moderne keine Rede sein. Herrschaft und Knechtschaft im Ökonomischen bedeutete zugleich Herrschaft und Knechtschaft im Politischen – anders gesagt, diese Trennungen machten damals noch wenig Sinn. „Dieser personale Charakter der Herrschaft ist modernen Gesellschaftswissenschaftlern nur schwer zugänglich. Sie sind deshalb geneigt, in den Dienern regierender Monarchen die ausführenden Organe eines frühmodernen Staates zu sehen und die verallgemeinerte Gewalt mit den und geläufigen Terminus der öffentlichen Gewalt zu belegen.“[2]

Das Zerbrechen und die Zersetzung dieser Feudalität erklärt Marx nun keineswegs funktional mit den Bedürfnissen des aufkeimenden Kapitalismus, sondern primär aus revolutionären, emanzipatorischen Bestrebungen. Das Resultat war eine halbierte Emanzipation, eine Sackgasse, die sich in der endgültigen Trennung von bürgerlichem, ökonomischem Dasein und der abstrakten politischen Existenzweise als StaatsbürgerInnen verfestigte. „Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird. Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde.“[3]

Insbesondere die Französische Revolution, so Marx, habe diese Trennung von Staat und Gesellschaft vervollständigt. Marx verwendet zur Darstellung sehr drastische Bilder, an einer Stelle spricht er von „feindlichen Heeren“[4], die sich gegenüberstehen, wobei jedes Mitglied die Möglichkeit hätte, gegebenenfalls die Seite zu wechseln. Scharf kritisiert er Hegels Bemühen, diesen Gegensatz zu vermitteln. Weder könne die Staatsbürokratie zur Gesellschaft werden, noch die Stände und Korporationen zu Elementen des Staates sich entwickeln. Die Erfahrungen mit dem Schicksal ehemals oppositioneller Kräfte, die, kaum an das Staatsruder gelangt, in Windeseile zu staatstragenden Kräften werden und frühere Ideale verraten, können, wie ich meine, nur mit dieser Institutionsanalyse erklärt werden. Ebenso charakterisiert die Bestimmung des politischen Lebens als „Luftleben“ Phänomene des Politischen in all ihrer Unwirklichkeit. Die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft, die Hegel mit allen rhetorischen Mitteln zu versöhnen sucht, wird zum Quell von allerlei Illusionen und Phantasien über die vermeintliche Macht und Bedeutung des Politischen.

Der historische Versuch, ein sich selbst organisierendes freies Gemeinwesen zu schaffen, ist gescheitert, so die Bilanz von Marx. Das Maximum an Emanzipation ist dann erreicht, wenn sich der Staat über die Besonderheiten der bürgerlichen Gesellschaft erhebt – Marx denkt nicht zuletzt an die Religion –, wenn alle BürgerInnen als formal Gleiche gesetzt sind. Diese Entwicklung kann nur noch gegen Rückfälle verteidigt, aber nicht mehr vorangetrieben werden. Die sprengenden, die Donquichoterie überwindenden Elemente sind also nicht in der Sphäre des Politischen zu finden, sondern in jenem sozialen Verhältnis, das sich auch in den scheinbaren Werteigenschaften der Dinge ausdrückt: im Kapitalverhältnis. Der Gegensatz von Staat und Gesellschaft ist nur durch die Transformation der Gesellschaft selbst zu überwinden, durch die Aufhebung des Kapitalverhältnisses; der Rest ist Illusion. „Wo es politische Parteien gibt, findet jede den Grund eines jeden Übels darin, daß statt ihrer ihr Widerpart sich am Staatsruder befindet. Selbst die radikalen und revolutionären Politiker suchen den Grund des Übels nicht im Wesen des Staats, sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen.“[5]

Die Staatsmacht ist für Marx kein Mittel emanzipatorischer, umwälzender Kritik. Marx konstatiert sehr entschieden eine substanzielle Ohnmacht des Staates. Wenn der Staat gestaltend in die Gesellschaft eingreifen möchte, so muss er scheitern. „Wollte der moderne Staat die Ohnmacht seiner Administration aufheben, so müßte er das jetzige Privatleben aufheben. Wollte er das Privatleben aufheben, so müßte er sich selbst aufheben, denn er existiert nur im Gegensatz zu demselben.“[6] Und offenbar als Resümee der Französischen Revolution schreibt Marx: „In den Momenten seines besondern Selbstgefühls sucht das politische Leben seine Voraussetzung, die bürgerliche Gesellschaft und ihre Elemente, zu erdrücken und sich als das wirkliche, widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituieren. Es vermag dies indes nur durch gewaltsamen Widerspruch gegen seine eigenen Lebensbedingungen, nur indem es die Revolution für permanent erklärt, und das politische Drama endet daher ebenso notwendig mit der Wiederherstellung der Religion, des Privateigentums, aller Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, wie der Krieg mit dem Frieden endet.“[7]

 
Die verhüllten Elemente der klassenlosen Gesellschaft

Die entscheidende Ebene erkennt Marx im Kapitalverhältnis, in der durch Lohnarbeit vermittelten Beziehung zwischen Kapital- und ArbeitskraftbesitzerInnen. Wenn überhaupt, so lassen sich die verhüllten, sprengenden Momente nur in dieser Sphäre ausmachen. Marx analysiert im Kapital nicht alle nur denkbaren sozialen Verhältnisse, sondern nur jenes zwischen Lohnarbeit und Kapital. Neben dem Kapitalverhältnis existieren noch zahlreiche andere, etwa das Geschlechterverhältnis, das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern usw. Warum kann davon gesprochen werden, das Kapitalverhältnis sei hinsichtlich Unterdrückung und Befreiung das zentrale Verhältnis? Nicht selten wird diese Position als Ausdruck einer bestimmten Borniertheit des sich auf Marx beziehenden Denkens aufgefasst. Diese Kritik erkennt aber meines Erachtens die Besonderheit dieses Verhältnisses nicht. Worin besteht sie?

Das Kapitalverhältnis selbst weist eine Besonderheit auf, die es von allen anderen Verhältnissen unterscheidet: Es stellt sich in einer Dingeigenschaft, nämlich in der Wertgröße/Preiszahl von Waren dar. Es stellt sich also in einer Form dar, in der es als soziales Verhältnis nicht mehr erscheint. Dem Kapital ist nicht anzusehen, dass es aus akkumulierter, unbezahlter Mehrarbeit besteht, dass es also auf einem gesellschaftlichen Zeitverhältnis beruht, genauer, dieses Verhältnis ist. Das Resultat der Klassenbeziehung ist in Geldform beliebig akkumulierbar und zudem zu einem anderen Zeitpunkt und an einem anderen Ort wieder so einsetzbar, dass es sich selbst erneut reproduziert. Alle anderen sozialen Verhältnisse weichen davon ab, keines weist diese Besonderheit auf. Dass sich diese Besonderheit geschichtlich entfalten konnte, beruhte auf der Freisetzung des Sozialökonomischen als eigensinnige Sphäre. Es ist wieder die Zersetzung der Feudalität, die Trennung der politischen Staatsphäre von der Gesellschaft, die es erlaubt, Ökonomie als soziales Verhältnis zu thematisieren. Im strengen Sinne kann von Ökonomie erst innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise gesprochen werden. Wie Polanyi gezeigt hat, ist das Ökonomische in vorkapitalistischen Gesellschaften strukturell in politische, moralische, herrschaftliche und kulturelle Bezüge verwebt. Eine Analyse der ökonomischen Dynamik in reiner Form, wie Marx sie für die kapitalistische Produktionsweise vornimmt, ist zum Beispiel für eine antike Wirtschaft gar nicht möglich. Es spricht also einiges dafür, den Begriff Klasse und Produktionsweise im emphatischen Sinne nur auf den Kapitalismus anzuwenden.

 
Auch die Sphäre der Ökonomie ist kein Kontinuum

An dieser Stelle ist eine Bemerkung zum Aufbau des Kapital angebracht. Wir finden in der marxschen Kapitalanalyse einen doppelten Wechsel der Perspektive, wobei der erste Wechsel schärfer und pointierter herausgearbeitet wird, als der zweite. Der erste Wechsel, von Marx bewusst rhetorisch inszeniert, findet zwischen der Sphäre der Oberfläche der Zirkulation und der Sphäre der Produktion statt. Die Analyse der Oberfläche der Zirkulation, mit der Marx das Kapital beginnt, zeigt uns keinerlei Dynamik, Konflikt oder soziales Ungleichgewicht. Gleiche und Freie tauschen Äquivalente. Mit dem Wechsel in die Produktion ändert sich das Bild radikal, plötzlich gewinnen wir Einsicht in Dynamiken. Das Kapital akkumuliert, vermehrt die sachliche Macht gegenüber der Arbeitskraft; es entwickelt aber auch die gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit, die sich wiederum im tendenziellen Fall der Profitrate niederschlagen muss. Zwei Aspekte möchte ich herausheben: Erstens zeigt Marx, dass die Oberfläche der Zirkulation – durchaus eine Realsphäre der Gesellschaft – nicht aus sich selbst begriffen werden kann; zweitens gewinnt Marx im Übergang vom Geld zum Kapital seinen elaboriertesten Begriff des Proletariats, nämlich als allgemeines Arbeitsvermögen, das dem Kapital auch der Möglichkeit nach – Marx verwendet den Ausdruck δυνάμει[8] – gegenüber steht. Der zweite Perspektivwechsel kann nicht so scharf erfolgen. Es ist der Wechsel vom Verhältnis der Einzelkapitale und den von ihm Beschäftigten, der Konkurrenz zwischen den Kapitalien untereinander, zum Klassenverhältnis überhaupt. Dieses Gesamtverhältnis wird durchgehend antizipiert, findet aber erst mit dem Begriff des Produktionspreises seine theoretische Formulierung. Erst durch den Ausgleich der Profitrate zeigt sich das Kapitalverhältnis als das, was es ist: ein Zeitverhältnis zwischen Klassen.

 
Das Klassenverhältnis ist ein Zeitverhältnis

Wenn nun die Elemente der klassenlosen Gesellschaft sich „verhüllt“ vorfinden, genauer, wenn diese Elemente Resultat der Dynamik des Kapitalverhältnisses sein sollen, dann müssten sie sich auch in der Zeitordnung des Kapitalismus auffinden lassen. Und so ist es auch. Die zentralen Begriffe dafür sind notwendige Arbeitszeit und Mehrarbeit. Bei der ersten Definition des Begriffs notwendige Arbeitszeit, im ersten Kapitel des Kapital zur Bestimmung des Wertmaßes, scheint es sich um einen Binnenbegriff der kapitalistischen Produktionsweise zu handeln. Die herrschende Klasse verfügt also ohne Gegenleistung über geronnene Arbeitzeit und damit über eine Anweisung auf neue Arbeits- und somit auch Lebenszeit.

Zugleich aber transzendiert der Begriff der notwenigen Arbeitszeit das Kapitalverhältnis. Diese notwendige Arbeitszeit ist eine bestimmende Größe auch für eine nachkapitalistische Gesellschaft. Der Begriff der notwendigen Arbeit kann also doppelt ausgedrückt werden: Einmal im Wert-/Preissystem des Kapitalismus, also in Bestimmungen, die ihre „Vollgültigkeit“ nur innerhalb dieser Gesellschaft besitzen; andererseits als Zeitgrößen, die unabhängig von der Wertform ausgedrückt werden können. Castoriadis hatte Marx vorgeworfen, er schwanke zwischen den Ebenen von kapitalistischer Ökonomie und jeder Ökonomie. Marx schwankt keinesfalls, im Gegenteil. Dieses Sowohl-als-auch begrifflich fassen zu können, zählt zu den wichtigsten Errungenschaften der marxschen Kapitalanalyse.

 
Welcher Dynamik unterliegt das Zeitverhältnis?

Marx analysiert im Kapital das „in reiner Form. Allerdings ist zu betonen, dass es sich bei der „reinen Form“ nur um eine „reine Dynamik“ handeln kann. Diese Dynamik konnte Marx einerseits nur anhand der bisherigen Entwicklungen seiner Epoche darstellen andererseits nur versuchsweise antizipieren. Eine der spannendsten und oftmals zitierten Passagen diesbezüglich ist das so genannte Maschinenfragment in den Grundrissen. Wenn wir uns diese Passagen durchlesen, so erleben wir einen sehr suchenden, diskutierenden Marx.

Ausgangpunkt ist die antizipierte gewaltige Steigerung der Produktivkraft der Arbeit. Wenn mit immer weniger Arbeitsaufwand immer größere Massen von Gebrauchswerten erzeugt werden können, dann müsse die „auf dem Tauschwert ruhnde Produktion“ zusammenbrechen.[9] Um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: Marx behauptet nirgendwo, das Wertgesetz gelte ab einem bestimmten Punkt nicht mehr, wie es bei Negri oder Virno anklingt. Vielmehr stünde der Zeitaufwand in keinem Verhältnis mehr zur Masse der produzierten Gebrauchsgüter. Ist die Produktivkraft der Arbeit sehr gering, müssen alle Mitglieder der Gesellschaft den ganzen Tag arbeiten, um sich reproduzieren zu können. Wir können daher sinnvoll von einer Relation sprechen; unter solchen Bedingungen ist zum Beispiel Ausbeutung nur sehr eingeschränkt möglich. Steigt die Produktivkraft, so ermöglicht dies Klassenverhältnisse. Steigt sie ins Gigantische, so entwickelt sich das Verhältnis von Arbeitzeit und Produktenmenge zu einem „ungeheuren Missverhältnis“[10], das die Grundfesten des Kapitalverhältnisses erschüttert.

 
Zur permanenten Produktion des Proletariats, oder: Klassenkampf ist der Kampf gegen das zur Klasse gemacht werden

Wie Kritik tatsächlich praktisch werden kann, dafür finden wir bei Marx keine Blaupause, wohl aber ein methodisches Rüstzeug, um diese Frage überhaupt stellen zu können. Letztlich ist Kritik synonym mit Klassenkampf. Aber was ist Klasse, was Klassenkampf? Wenn wir den Kapitalismus als Zeitordnung, und das Proletariat als dem Kapital entgegengesetztes Arbeitsvermögen definieren, so können wir diese beiden Bestimmungen zusammenführen: Das Proletariat ist somit das Arbeitsvermögen, das der kapitalistischen Zeitordnung unterworfen wird. John Holloway hat eindringlich auf das Prozesshafte verwiesen. Das Proletariat ist nicht einfach da; es wird permanent neu produziert. Permanent soll Widerstand zerschlagen oder aufgesogen, permanent soll Flucht aus der Lohnarbeit verunmöglicht werden. Klassenkampf ist der Versuch, sich gegen das zur Klasse gemacht werden zu wehren. Im Postfordismus wurde eine neue Runde dieser Auseinandersetzung eingeläutet. Allerdings oftmals in Formen, die weder von KritikerInnen des Marxismus noch von seinen orthodoxen ProtagonistInnen als Klassengegensätze erkannt werden. Die Ausweitung der Marktverhältnisse in die Tiefe der Produktion und der Gesellschaft hebt die soziale Existenzweise des Proletariats nicht auf, sondern weitet diese aus. Die neue Selbständigkeit entpuppt sich als verhüllte Form der Stücklohnarbeit, die Arbeitszeit durchdringt die Lebenszeit. Wenn Paolo Virno meint, gegenwärtig „lebe die lebendige Arbeit in ihrer Gesamtheit permanent unter den Bedingungen der industriellen Reservearmee“[11], so ist diese Aussage zweifellos zutreffend. Die weitgehende Transformation der Sozialsysteme zur workfare-Orientierung unterwirft auch die Nichterwerbsarbeit den Imperativen der kapitalistischen Zeitökonomie: Jede Auszeit soll verunmöglicht werden. Um die verhüllten, sprengenden Elemente freizusetzen, muss Kritik heute mehr denn je Formkritik sein: eine Kritik der Lohnarbeit, oder genauer, eine Kritik der besinnungslosen Ausrichtung auf Lohnarbeit angesichts ihrer gesellschaftlichen Erosion.

 
Verwendete und direkt angesprochene Literatur:

Gerstenberger, Heide, Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, Münster: Westfälisches Dampfboot 2006.

Holloway John, Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster: Westfälisches Dampfboot 2002.

Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 42, Berlin: Dietz 1983.

Marx, Karl, „Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen“, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin: Dietz 1957, S. 392–409.

Marx, Karl, „Zur Judenfrage“, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin: Dietz 1957, S. 347–377.

Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin: Dietz 1957, S. 201–336.

Polanyi, Karl, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995.

Virno, Paolo, „Wenn die Nacht am tiefsten … Anmerkung zum General Intellect“, übers. v. Thomas Atzert / Jost Müller (Hg.) in: Immaterielle Arbeit und imperiale Subjektivität, Münster: Westfälisches Dampfboot 2004, Seite 148–155.

 

 

[1] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 42, Berlin: Dietz 1983, S. 93.

[2] Heide Gerstenberger, Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt. Münster: Dampfboot 2006, S. 141.

[3] Karl Marx, „Zur Judenfrage“, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin: Dietz 1957, S. 355.

[4] Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, op. cit., S. 253.

[5] Karl Marx, „Kritische Randglossen zu dem Artikel „Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen“, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 1, Berlin: Dietz 1957, S. 401.

[6] Karl Marx, „Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen“, op. cit., S. 402.

[7] Karl Marx, „Zur Judenfrage“, op. cit., S. 357.

[8] Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, op. cit., S. 218.

[9] Ebd., S. 601.

[10] Ebd., S. 601.

[11] Paolo Virno, op. cit., S. 151.