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04 2008

Nicht so regiert werden wollen: Zum Verhältnis von Wut und Kritik

Patricia Purtschert

Als Vorbereitung auf diese Konferenz nahm ich einen viel zitierten Text, Foucaults Was ist Kritik?, setzte mich in ein Café und las das kleine Büchlein erneut und in einem Zuge durch. Der Zufall wollte es, dass neben mir zwei Frauen saßen, die sich unschwer, das konnte ich den ersten Gesprächsfetzen entnehmen, als Tochter und Mutter erkennen ließen. Die beiden befanden sich in einem Zustand, den man vielleicht als post-pubertäre Krisensituation beschreiben müsste. Was immer die Mutter sagte, ob es Ratschläge, Kommentare oder Versuche waren, sich der Tochter als Freundin, als elterliche Autorität oder als Fremde zuzuwenden, sie erntete erbitterten Widerstand. Die Tochter versuchte der Reihe nach, der Mutter ebenbürtig, erwachsen, besserwisserisch, gelangweilt und gelassen zu begegnen. Sie war aber vor allem das Eine: genervt. Und beschäftigt mit einem Unterfangen, das man vielleicht als Versuch beschreiben könnte, sich nicht so regieren zu lassen, nicht dermaßen und nicht auf diese Weise regieren zu lassen, von ihrer Mutter, ihren Eltern, ihrer Umwelt, von der Gesellschaft, ihren Lehrerinnen und Lehrern, der Schule, der Ausbildungsstätte, den Normen und Vorgaben, die ihr Leben in bestimmte Bahnen zu lenken suchten.

Die Affekte, mit denen diese Szene aufgeladen war, während des Austauschs von Gesprächsfetzen und während Momenten des Schweigens, durchdrangen meine Lektüre. Sie schoben sich zwischen die Zeilen, auf die ich mich zu konzentrieren versuchte, und warfen unentwegt die Frage auf, ob der Kampf neben mir in dem Text, den ich las, auf Widerhall stößt, oder ob er ins Leere fällt. Hat Foucaults Ringen mit modernen Lenkungstechniken etwas zu tun mit der alltäglichen Szene an meinem Nebentisch, an dem sich eine junge Frau mit ihrer Mutter über die Vorstellungen, Erwartungen und Konsequenzen einer richtigen Lebensführung streitet? Vielleicht hätte ich diese Konstellation gar nicht ausgehalten und fluchtartig das Café verlassen, wie ich es oft tue, wenn neben mir Börsentipps ausgetauscht oder esoterische Lebensberatungen durchgeführt werden, wenn sie nicht etwas angerührt hätte, das mit dem Thema dieses Vortrags, mit meinem Verständnis und meiner Erfahrung von Kritik zu tun gehabt hätte.

Das Problem, das sich vor mir eröffnete, betrifft das Verhältnis von Kritik und Affekt. Es scheint, zumal auf den ersten Blick, eine Verbindung zwischen Kritik und spezifischen Gefühlen zu geben: Empörung, Entrüstung, Wut, Groll, Unwille, Zorn, Hass. Und es scheint auch nicht vermessen, sie mit dem Wunsch zu verbinden, „nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden“[1], von dem in Foucaults Text die Rede ist. Wie aber kann der Zusammenhang zwischen Wut und Kritik theoretisiert werden? Ist die Wut Bedingung, Nebeneffekt oder Hindernis der Kritik? Können, und wenn ja, wie können Foucaults Ausführungen ins Gespräch gebracht werden mit der langen Tradition von Kritikerinnen und Kritikern, welche den Zusammenhang von Wut und Kritik thematisiert, untersucht und in ihren Texten performativ zum Ausdruck gebracht haben: Virginia Woolf, Frantz Fanon, Iris von Roten, Valerie Solanas, Gloria Anzaldua oder Audre Lorde?

Die Kritik, welche Foucault thematisiert, entsteht im Widerstand gegen moderne Lenkungstechniken, die davon ausgehen, „dass jedes Individuum (…) bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse.“[2] Diese Regierungskunst, die anfänglich vor allem auf  mittelalterliche Klöster begrenzt war, tritt vom 15. Jahrhundert an über den religiösen Bereich hinaus in die Gesellschaft, in der sie sich vervielfältigt und sämtliche Bereich zu durchdringen beginnt. Foucault geht es darum, die Haltung der Kritik als einen Effekt dieser Entwicklung zu verstehen, der ihr zugleich entgegengesetzt ist. Sie ist eine Praxis der – wie es Foucault nennt – „Entunterwerfung“ und der „reflektierten Unfügsamkeit“, des kontinuierlichen Versuchs, weniger und anders regiert zu werden.[3] Dabei ist wichtig, dass sich die spezifisch moderne Regierungsmacht in einem konstitutiven Verhältnis zur Wahrheit befindet. Kritik heißt, die Legitimation von Macht durch Wissen und die Autorisierung von Wissen durch Macht zu befragen.[4] Kritik ist nicht nur Verweigerung und Widerstand, sie ist gekoppelt mit dem Versuch, in den Wahrheitsdiskurs einzugreifen, und ihm mit Hilfe seiner eigenen Mittel eine neue Ausrichtung zu geben. Mit welcher emotionalen Verfasstheit aber geht die Kritik einher und wie ist diese in die Arbeit der Kritik eingelassen? Mit diesen Fragen habe ich mich den Texten zweier Denkerinnen zugewandt, Iris von Roten und Audre Lorde, die beide die Wut als ein zentrales Moment der Kritik thematisieren.

 
Iris von Roten: Die Verweigerung, derart regiert zu werden.

In ihrem Buch Frauen im Laufgitter. Offene Worte zur Stellung der Frau legt Iris von Roten 1958 eine Analyse dar, welche die strukturellen Dimensionen des Schweizer Patriarchats und die Paradoxien der bürgerlichen Geschlechterordnung en detail ausarbeitet. Die heuristische Befragung des Alltags, die sie zu diesem Zweck betreibt, führt sie mit einer unverhohlenen Empörung durch; mit einer Wut, die ich als ein generatives Element dieses Schreibens deuten möchte. Iris von Roten macht dabei zweierlei: Sie bricht vorherrschende Konvention durch ihren Stil, der von Empörung getragen wird, und sie erklärt dieses Manifestmachen der Wut zum Akt der Kritik. Diese beiden Momente verdichten sich auf der ersten Seite ihres Buches. Da schreibt von Roten, dass man sich kaum der Indignation erwehren könne, wenn man betrachte, was Männer über Frauen schreiben würden. Und sie fährt fort: „Ich habe sie [die Indignation] nicht verborgen. Denn mir scheint, die Frauen hätten zu häufig gute Miene zum bösen Spiel gemacht, zu häufig Kränkendes überhört, das einfach zu deutlich gesagt worden war, um überhört werden zu können. Ich halte es für nötig, dem Missfallen Ausdruck zu geben, um den Glauben an eine Selbstverständlichkeit von Lösungen und Vorgehen zu erschüttern, die gar nicht vorhanden ist.“[5] Von Rotens Entrüstung ist demnach nicht ein unkontrollierter Affekt, kein noch nicht wegredigierter subjektiver Rest. Im Gegenteil: Der Bruch mit einer spezifischen Regierungstechnik wird ermöglicht, indem eine Erfahrung der Wut mobilisiert wird, eine Wut, die ironischerweise aus dem Regiertwerden selbst hervorgeht; denn die Empörung über diese Form der Macht ist ein von ihr nicht intendierter, aber durch sie hervorgerufener Effekt. Es gehört nun aber gerade zu dieser spezifischen Regierungsform, dass die Empörung, die sie bei den regierten Subjekten hervorrufen kann, von diesen selbst beseitigt werden soll. Sie werden dazu angehalten, wie von Roten schreibt, „gute Miene zum bösen Spiel zu machen“, und den Impuls des Widerstandes derart umzuformen und zu verinnerlichen, dass er das Spiel der Macht nicht weiter stört.

Von Roten aber stört. Indem sie ihre Empörung ernst nimmt und sie zum Ausdruck bringt, etabliert sie eine neue Perspektive: Sie misst die gesellschaftlichen Anforderungen an die Frauen beharrlich an den Maßstäben, die für den bürgerlichen Menschen gelten. Durch ihre Lektüre, in der sie die Grundannahmen eines Systems auf dieses zurückwendet, macht sie die zahlreichen Klüfte sichtbar, die sich zwischen dem gesellschaftlichen Ideal der Selbstverwirklichung und der restringierten Existenzweise der Frau auftun. Von Roten lenkt derart ihren Blick auf Phänomene weiblicher Subjektformation, die man den Schulen, Kasernen und Kliniken Foucaults hinzufügen könnte. Sie schreibt vom Kochen, Putzen, Häkeln, Ausbessern und Sparen als Disziplinar- und Regierungstechniken, die den Lebensbereich der Hausfrau eingrenzen und ihren Gestaltungswillen in bestimmte Bahnen lenken sollen. So entwickelt diese beispielsweise beim Putzen einen „kleinlichen Instinkt“, der sie dazu führt, „bereits der Vorstufe von Zerfall und Schmutz entgegenzutreten, nämlich den Lebensbetätigungen selbst.“[6] Für das weibliche Individuum, dem in einer Gesellschaft, in der die Selbstverwirklichung als Leitprinzip gilt, das Putzen zum Lebensinhalt gemacht wird, droht sich dessen Sinn aufzublähen und sein Zweck umzudrehen. Die Schweizer Hausfrau übertrifft sich selbst im Versuch, nicht den Schmutz, sondern dessen Ursachen zu bekämpfen, und somit – wie von Roten schreibt – „den Hausrat vor dem Vandalismus des Publikums“[7] zu schützen. Diese mit spitzer Feder geschriebenen Analysen stellen psychische Konstellationen heraus, die mitnichten einer von Natur aus überspannten Weiblichkeit zuzuschreiben sind, sondern sich als Effekte paradoxer gesellschaftlicher Zwänge und naturalisierter Regierungstechniken lesen lassen. Die Art und Weise, wie das Leben von Frauen beschränkt, reguliert, gelenkt und verhindert wird, erscheint in dieser Darstellung als Skandal, der gerade darum ein Skandal ist, weil die Lebensvorgaben der Frauen dem Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft gänzlich zuwiderlaufen, ohne dass sie deswegen eingeklagt werden dürften.

Von Rotens wütende Kritik oder ihre kritische Wut speist sich somit aus dem Diskurs, gegen den sie sich wendet. Ihre Empörung geht der Kritik nicht voraus; sie ist keine prädiskursive Quelle ihres Widerstandes. Vielmehr entsteht sie als beides, als Effekt von und als Antrieb gegen ein bestimmtes Machtregime, gegen eine bestimmte Weise, regiert zu werden. Dabei will sie das aufbrechen, was als Unveränderbares konstituiert wird, um, wie sie schreibt, „den Glauben an eine Selbstverständlichkeit von Lösungen und Vorgehen [zu erschüttern], die gar nicht vorhanden ist.“[8] Mit diesen Worten formuliert sie eine Praxis der Kritik, welche Judith Butler in ihrer Lektüre von Foucaults einschlägigem Text ähnlich beschreibt. Die Kritikerin steht, so meint Butler, vor einer doppelten Aufgabe. Sie zeigt auf, wie sich in der Verschränkung von Wissen und Macht eine spezifische Ordnungsweise der Welt durchsetzt. Und gleichzeitig untersucht sie, wo die Risse in dieser Ordnung bestehen. „Es muss also nicht nur der merkwürdige Knotenpunkt von Macht und Wissen isoliert und identifiziert werden, der das Feld intelligibler Dinge eröffnet, sondern es muss auch die Art und Weise rekonstruiert werden, in der dieses Feld den Punkt seines Aufbrechens erreicht, die Momente seiner Diskontinuität.“[9] Iris von Roten hat Risse da ausgemacht, wo die Vorstellungen eines gelungenen menschlichen Lebens nicht auf den Mann, sondern auf die Frau angewendet werden. Da zeigt sich, dass der bürgerliche Diskurs den eigenen Prämissen nicht standhält. Diese Unstimmigkeiten werden wiederum – und erneut entgegen dem Versprechen aufgeklärten Denkens – mit schlechten Argumenten über die Natur der Frau überdeckt, kein bisschen besser als wenn, wie von Roten schreibt, „Geisshirten Wunderkuren“[10] anpreisen würden.

Anstatt den paradoxen gesellschaftlichen Anspruch nach menschlicher Selbstverwirklichung und weiblicher Selbstaufgabe im Inneren einer zerrissenen Psyche auszuhalten, und seine schlechten Legitimationen stillschweigend zu ertragen, wendet sich von Roten nach außen. Mit dem Benennen des Offensichtlichen und Banalen, dem Häkeln, Stricken, Kochen, Flicken, Sparen, das dem Nachdenken über die Gesellschaft nicht würdig zu sein scheint, eröffnet sie eine Kontroverse, die im System angelegt ist, aber erst durch den Akt des Widerstands, der verweigerten Zustimmung, der Entunterwerfung benannt werden kann. Die Empörung über tausend täglich erlittene Ungerechtigkeiten stellt derart nicht nur den emotionalen Bodensatz der Kritik dar, sondern ist Teil und Bedingung der kritischen Haltung. Die im Text zum Ausdruck gebrachte Wut erweist sich somit als Scharnier für ein Denken, das mit bestimmten Übereinkünften bricht und diese dadurch sichtbar und anfechtbar macht.

 
Audre Lorde: Die Unhintergehbarkeit des Kollektivs

Dieser mögliche Zusammenhang zwischen Wut und Kritik lässt sich mit einer Lektüre von Audre Lordes Text „The Uses of Anger“[11] weiterführen. Für Lorde stellt die Wut eine Grundverfasstheit von Subjekten dar, welche Ausbeutung und Herrschaft unterworfen sind. Wut hat dabei, wie bei Iris von Roten, einen doppelten Bezug zur Herrschaft: Sie entsteht als Reaktion auf Unterdrückung, zugleich aber beinhaltet sie die Möglichkeit, der Herrschaft etwas entgegenzusetzen. Und wie von Roten hält Lorde fest, dass die Wut, die gegen innen gewendet wird, ihre transformative Kraft verliert.[12]

Lorde unterscheidet aber nicht nur zwischen der Wut, die sich veräußert, und der Stille, welche Unterwerfung bedeutet, sondern auch zwischen Wut und Hass: „Wenn ich im Zorn zu euch spreche, habe ich wenigstens mit euch gesprochen. Ich habe euch keine Pistole an die Schläfe gesetzt und euch nicht auf offener Strasse niedergeschossen.“[13] Wenn Hass also die Pistole an der Schläfe ist und damit die Durchsetzung von Zielen mit purer Gewalt, dann zielt er auf die Auslöschung der anderen Person. Sie steht vor der Wahl, sich zu unterwerfen oder zu sterben. Die Absicht von Hass ist, wie Lorde schreibt, „Zerstörung und Tod“.[14] Wut hingegen will weder den Tod noch die totale Unterwerfung. Wut reagiert vielmehr auf die Schwierigkeit und die Notwendigkeit, unter extrem ungleichen Bedingungen gemeinsam handeln zu können. Entunterwerfung ist bei Lorde eine Praxis, die im Ringen um eine zugleich notwendige und unmögliche Gemeinsamkeit besteht; es ist ein Ringen um einen Zusammenschluss, der sich immer erst in der Zukunft und immer nur im Konjunktiv verwirklichen könnte.

Lorde thematisiert dies unter anderem anhand der Beziehungen zwischen weißen und schwarzen Frauen. Dabei hält sie fest, dass diese nicht einfach ein Kollektiv bilden können. Zu groß sind die trennenden Gräben, die Unkenntnis, die Verletzungen, die Asymmetrien, die institutionalisierten und tausendfach eingeübten Ungerechtigkeiten. Die Geschichte zu einer gemeinsamen zu machen bedeutet, zu erkennen, wie unterschiedlich sie für die beteiligten Frauen ist. Während sich, wie Lorde schreibt, weiße Frauen lieber an „die kleinen dunkelhäutigen Kinder auf der anderen Straßenseite“ erinnern oder an das „geliebte Kindermädchen“, geht es aus ihrer Sicht als schwarze Frau auch um die „unfehlbare Botschaft des Taschentuchs, das eure Mutter auf der Parkbank ausbreitete, weil ich gerade da gesessen habe“ und an die „lustigen Gutenachtgeschichten eures Vaters.“[15] In der Dissonanz, die diese Erinnerungsarbeit zutage fördert, zeichnet sich erst so etwas wie die Möglichkeit eines gemeinsamen Bezugsrahmens ab. Wut ist dabei ein Ausdruck einer Differenz, die gleichzeitig trennt und verbindet und damit ein adäquates Medium, um neue und subversive Relationen in einem rassistischen und sexistischen System herzustellen.

Wut verbindet, indem sie sich an die Anderen richtet, aber sie egalisiert nicht. Sie beinhaltet die Aufforderung, jene Differenzen neu zu bestimmen, die vom Herrschaftssystem negiert, verharmlost oder mystifiziert werden. Lorde schreibt: „Wut ist der Gram über Falschheiten zwischen Gleichgesinnten, und seine Absicht ist Veränderung.“[16] Wut wird in dieser Leseweise zu einem Mittel, das hegemoniale Erzählungen aufbrechen und alternative Narrative zur Sprache bringen kann. Wenn Butler schreibt, dass Kritik keiner gegebenen Kategorie folgt, sondern „eine fragende Beziehung zum Feld der Kategorisierung selbst konstitutiert“[17], lässt sich dies mit Lordes Versuch in Verbindung bringen, die Beziehungen zwischen schwarzen und weißen Frauen anders zu erzählen. Lorde hat keine konsistente Gegenerzählung, aber sie stört die hegemonialen Erzählungen weißer Frauen mit einem alternativen Wissen, mit der Erwähnung der Parkbank, welche die weiße Mutter abwischt, nachdem das schwarze Kind darauf gesessen hat, und mit den rassistischen Gutenachtgeschichten, über die sich der weiße Vater und das weiße Kind amüsieren. Damit zeigt sie die Grenzen der verklärenden Erinnerungsarbeit auf und verweist auf eine spezifisch weiße Amnesie. Sie stellt aber auch neue Bezüge her: Die Szene auf der Parkbank ist keine schöne Geschichte, aber sie ist eine gemeinsame Geschichte. In der Arbeit an den Rissen der epistemologischen Felder zeichnen sich neue Formen der Kollektivität ab.

Für Lorde gibt es also, ebenso wie für von Roten, eine Beziehung zwischen Wut, Widerstand, Sprache und Erkenntnis. In der Ausrichtung, welche diese nach außen gewendete Wut nimmt, unterscheiden sich die beiden Autorinnen aber deutlich. Von Roten richtet ihre Kritik direkt an das Herrschaftssystem und damit indirekt an die Menschen, deren Unbehagen im Text von Rotens Resonanz finden könnte. Von Roten will Veränderung und darum wäre es falsch, ihr zu unterstellen, dass sie nicht für andere Menschen schreibt, die dies ebenfalls wollen. Aber ihr erster Schritt ist die Konfrontation mit dem System, mit seinen Mitteln und Logiken, mit seinen Legitimationen und Forderungen. Darin gleicht ihre Herangehensweise derjenigen von Foucault. Lorde aber richtet sich – das wird auch formal durch die vielen dialogischen Einschübe deutlich – primär an diejenigen, welche sich ebenfalls gegen die vorherrschenden Formen von Herrschaft wenden. Sie adressiert ein Kollektiv, das sich als Zusammenschluss all jener denken lässt, die sich dem Regiertwerden widersetzen, mit dem Ziel, „die Bedingungen, unter denen wir leben und arbeiten wollen, zu prüfen und neu zu bestimmen.“[18] Lorde geht es darum, ein „Wir“ zu formieren, auch wenn dieses erst einmal durch Angriff, Konfrontation und Dissonanz zustande kommt. Es ist diese immer schon mitgedachte Kollektivität der Kritik, die ihren Ansatz von anderen Ansätzen unterscheidet.

 
Kritik und Affekt

Beim Versuch Wut und Kritik zusammen zu denken, bleiben viele Fragen offen: Etwa, wie man die Wut fassen müsste, welche mit der Ausübung von Herrschaft zusammenfällt. Offen bleibt auch, unter welchen Umständen auf die Wut zurückgegriffen werden kann und unter welchen nicht – etwa wenn Lethargie, Gleichgültigkeit oder Resignation anstelle der Wut erscheinen. Wut wird zudem oftmals instrumentalisiert, mit Angst gekoppelt, und in der Folge auf die falschen Subjekte und die falschen Zusammenhänge gerichtet. Fraglich bleibt auch, welche anderen Affekte die Praxis der Kritik ausmachen. Kommt der Wut eine bedeutsamere Rolle zu als dem Sarkasmus, der Arroganz, der Nüchternheit? Oder müsste an dieser Stelle nicht vielmehr eine Analytik der Affekte im Hinblick auf die Kritik geschrieben werden?

Ziel dieser Ausführungen ist aber nicht eine umfassende Analyse von Kritik und Affekt. Vielmehr ging es darum, eine gewisse formale Ähnlichkeit zwischen Kritik und Wut herauszustellen. Wut verweist auf eine unentwirrbare und offensichtliche Verstrickung mit der Macht, die sie angreift und der sie unterworfen ist. Damit gleicht sie der Figur der Kritik, wie sie von Foucault beschrieben wird: Wut und Kritik sind Reaktionen auf etwas, gerichtet gegen etwas, sie speisen ihren Sinn aus einer Gegnerschaft, der sie zugleich angehören.[19] Die Frage ist nun, wie man gegen die tief sitzende abendländische Trennung von Intellekt und Affekt anschreiben könnte, um die Konturen einer Kritik zu umreißen, die Empörung, Wut, Zorn mitdenkt. Die wütende Kritik zielt, gerade weil sie aus einer Position der Betroffenheit heraus deutlich macht, wie gewisses Leben verhindert und anderes ermöglicht wird, auf die sorgsam gehüteten und ökonomisch verwalteten Verhältnisse von Nähe und Distanz, Versachlichungen und Objektivierungen, und versucht, diese anders zu organisieren.

Das Vermögen der Wut, das macht Iris von Roten deutlich, könnte in ihrem negativen Bezug zum Wissen liegen: in der Verweigerung, hegemoniale Rechtfertigungen von Macht und die mit ihnen verbundenen Regierungspraktiken weiter zu führen. Einen positiven Bezug zur Wut eröffnet Audre Lorde mit der Möglichkeit, andere Subjekte mit einem Wissen zu konfrontieren, das die vorherrschende Ordnung stört und eine Differenz zum Vorschein bringt, an der gemeinsames Handeln neu ansetzen kann. Hier zeichnet sich eine Theorie ab, welche das Kollektiv nicht als spezifischen Modus oder als Ziel von Kritik bestimmt, sondern die es vermag, Kollektivität als eigentliche Bedingung von Kritik zu denken.



[1] Michel Foucault, Was ist Kritik?, übers. von Walter Seitter, Merve: Berlin 1992, S. 12.

[2] Ebd., S. 9f.

[3] Vgl. ebd., S. 11f.

[4] Vgl. ebd., S. 15.

[5] Iris von Roten, Frauen im Laufgitter. Offene Worte zur Stellung der Frau, eFeF: Zürich 1991, S. 5.

[6] Ebd., S. 420.

[7] Ebd.

[8] Ebd., S. 5.

[9] Judith Butler, „Was ist Kritik. Ein Essay über Foucaults Tugend“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50(2002), S. 249-65, hier S. 260; vlg. außerdem transversal: Kritik, http://transform.eipcp.net/transversal/0806/butler/de.

[10] Von Roten, Frauen im Laufgitter, op. cit., S. 5.

[11] Audre Lorde, „The Uses of Anger“, in: dies., Sister Outsider: Essays and Speeches, Berkeley: Crossing Press 1984.

[12] Audre Lorde, „Vom Nutzen unseres Ärgers“, in: dies. / Adrienne Rich, Macht und Sinnlichkeit, übers. von Renate Stendhal, Orlanda: Berlin 1993, S. 97. Die deutsche Übersetzung wurde leicht verändert.

[13] Ebd., S. 105.

[14] Ebd., S. 102.

[15] Ebd., S. 98f.

[16] Ebd., S. 102.

[17] J. Butler, „Was ist Kritik“, op. cit., S. 255.

[18] A. Lorde, „Vom Nutzen unseres Ärgers“, op. cit., S. 108.

[19] Vgl. M. Foucault, Was ist Kritik, op. cit., S. 8.