Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

03 2022

Offener Brief zum Verzicht auf die Teilnahme am Teach-In zur Ukraine

Dmitry Vilensky

Übersetzt von Gerald Raunig

Translators
languages
journal
disarm*

Mit großem Bedauern haben Daria Serenko (Feministischer Antikriegs-Widerstand) und ich beschlossen, nicht an der von Creative Time und dem Vera List Center organisierten Diskussion "Teach-in on Ukraine for Artists and Activists" teilzunehmen. Wir möchten Larissa Babji, Nikita Kadan und Mykola Ridnyi für ihre Bereitschaft danken, gemeinsam mit uns an dieser Veranstaltung teilzunehmen.

Nachdem wir die Informationen über die Veranstaltung in den sozialen Medien verbreitet hatten, erhielten Daria und ich viele wütende Reaktionen. Der Vorwurf lautete, dass westliche Expert_innen und russische Aktivist_innen nichts über den Krieg in der Ukraine zu sagen hätten und dass vor allem die Russ_innen angesichts der aktuellen Situation ihre Plätze an ukrainische Sprecher_innen weitergeben sollten.

Natürlich können weder Daria noch ich irgendjemandem etwas über die Ukraine beibringen - ganz im Gegenteil, wir wurden ganz bescheiden eingeladen, um über die Situation rund um die Antikriegsproteste in Russland zu sprechen und unsere Solidarität mit dem ukrainischen Kampf zu bekunden.  Wir respektieren und verstehen die Wut derjenigen, die einen totalen und undifferenzierten Boykott russischer Stimmen in jedem Kontext fordern. Im Klassenkampf gibt es keine Nuancen, wie wir zu sagen pflegen.

Diejenigen in Russland, die sich von Anfang an gegen das lokale faschistische Regime gewehrt haben und von ihm nichts anderes als Repression erfahren haben, müssen nicht gefeiert werden.

Es ist unser Privileg, dass wir nie aus der Position der Nation, der Gewalt, der Militarisierung und des gewaltsamen Kampfes sprechen mussten. Das war nie unsere Sprache des Widerstands. Wir haben immer aus der Position der Schwäche, der Verwundbarkeit und der Sorge gesprochen, wie sie heute von den Demonstrant_innen in Russland und Belarus geteilt wird, die mit drakonischen Kriegsgesetzen konfrontiert sind.

Die wachsende Bewegung gegen den Krieg und das faschistische Regime in Russland setzt einen jahrhundertealten Kampf gegen Autokratie und Kolonialismus fort. Wir sind stolz darauf, zu dieser Tradition zu gehören, die das gegenwärtige Regime zum Schweigen zu bringen und auszulöschen versucht.

Es gibt einen alten polnischen Slogan: Für unsere und eure Freiheit (Za naszą i waszą wolność). Er wurde erstmals 1831 bei einer patriotischen Demonstration in Warschau zum Gedenken an die russischen Dezembristen verwendet. Im geteilten Polen bedeutete sie, dass ein polnischer Sieg auch die Freiheit für die Völker Russlands bedeuten würde - die Mitgefangenen in diesem "Gefängnis der Völker". Die Parole machte deutlich: Der polnische Kampf um Selbstbestimmung und Nationalität richtete sich nicht gegen das russische Volk, sondern gegen die zaristische Despotie. Sie war auch eine Aufforderung zum Handeln. Um sich aus der Leibeigenschaft unter der Willkür von Oligarchen und Bürokraten zu befreien, müssten die Russen das Regime stürzen, das in andere Länder expandierte und sie kolonisierte. Diese gemeinsame Geschichte des Kampfes gegen die russische imperiale Autokratie hat eine kolossale Bedeutung für die gesamte "echte" russische Kultur - und nicht die, die wir jetzt von Putin und seinen Kumpanen "lernen".

Was wir heute am meisten brauchen, sind Diskussionen, die auf gegenseitigem Respekt und Solidarität beruhen. Wir können uns nicht an Diskussionen beteiligen, in denen alle Russ_innen und alles Russische als eine Kultur der Unterdrückung und Kolonisierung betrachtet werden. Wir respektieren diese Sichtweise der ukrainischen Patriot_innen in einer Zeit des faschistischen Krieges und angesichts all der Gräueltaten des Regimes. Aber wir können nicht zustimmen. Unsere gemeinsame Geschichte und unser emanzipatorisches Erbe zum Schweigen zu bringen, ist genau das, was Putin tut. Bitte helft ihm nicht dabei.

Dennoch unterstützen wir euren Kampf; es ist auch unser Kampf. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass dieser Krieg nicht der Krieg Russlands ist, sondern der von PutinZ und seinem Regime, und wir sind euch dankbar für die Möglichkeit, diese Position formulieren und vertreten zu können.

Ruhm der Ukraine, Ruhm den Menschen in Belarus und Russland, die Widerstand leisten, Ruhm allen, die ihr Bestes tun, um den Krieg zu beenden und sich um das Leben und nicht um den Tod zu sorgen!