Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

06 2005

Prekarisierung von KulturproduzentInnen und das ausbleibende "gute Leben"

kpD

Ein kleines postfordistisches Drama

Prekarisierung findet nicht erstmalig statt, weil sich die so genannten Normalarbeits- verhältnisse verändern. Es gibt Kontinuitäten, die sich durch die Geschichte kapitalistischer Nationalstaaten ziehen. In den vergangenen 200 Jahren waren und sind auf unterschiedliche Weisen immer wieder diejenigen von Prekarsierung betroffen, die als „Andere“ einer hegemonialen männlichen, weißen, nationalen Norm positioniert worden sind.

Prekarisierung ist nicht allein eine ökonomische Frage. Daher nehmen wir die Thematisierung von Prekarisierung vielmehr zum Anlass, grundlegend über die Verfasstheit unserer westlichen Gesellschaften nachzudenken. Wir sehen also Prekarisierung als eine Weise der Vergesellschaftung und versuchen, die damit verbundenen Subjektivierungsverhältnisse in deren Geschichtlichkeit und aktuellen Transformation zu verstehen. Herunter gebrochen heißt das zum Beispiel, dass Prekarisierung mit der Erfahrung einer nicht funktionierenden identitären Zuschreibung oder Anrufung und den damit verbundenen Vereindeutigungen zu tun hat, die sich dennoch auf bestimmte Weisen in Subjetivierungsverhältnissen materialisieren. Etwa, dass man nicht nur ‚Frau’ sein kann, soll oder will, während gleichzeitig  dennoch eine Subjektivierung ‚als Frau’ stattfindet. Häufig müssen verschiedene berufliche, statusbezogene, geschlechtliche, sexuelle und ethnisierende Positionen, die sozial sehr widersprüchlich sind, gleichzeitig oder nacheinander eingenommen werden.

Wir schlagen eine Perspektive auf Prekarisierung vor, die versucht, die Schwierigkeiten anzusprechen, die damit verbunden sind, diesen Unvereinbarkeiten nachzukommen. Denn eine Weise von Prekarisierung scheint sich gerade aus der Verfehlung dieser Identifikationspraktiken zu ergeben.

 
Unmöglichkeit der Vereindeutigung

So verstanden stellt der Begriff ‚Prekarisierung’ möglicherweise auch eine Chance dar. Denn seine offenen Enden, seine Unmöglichkeit, ein identitäres „Wir“ festzuschreiben, ermöglicht Verbindungen zu anderen Gruppierungen – beispielsweise im Kontext des „Euromayday“.

Wir stehen zum Beispiel in Kontakt mit feministischen Gruppen wie den „precarias a la deriva“, die in den „Euromayday“ eine Auseinandersetzung um Sorge-Ökonomien hineintragen, oder mit Zusammenhängen wie dem „Frassanito-Netzwerk“, das sich auf den „Euromayday“ aus der Sicht der Migration bezieht. Der „Euromayday“ schafft zunächst einmal einen politischen Raum, in dem verschiedene Zugänge und Politiken zu Prekarisierung artikuliert werden und in Beziehung zueinander treten können. Das halten wir für einen wichtigen politischen Konstituierungsprozess.

Der „Euromayday“ steht nicht für ein ganz bestimmtes Verständnis von Prekarisierung. Es sind viele verschiedene Gruppen, Kollektive und Einzelpersonen beteiligt, die sich in die Debatten und Mobilisierungen einmischen.

 
Unterschiedliches Durchqueren: KulturproduzentInnen

Mit den Interviews, die wir Ende 2003 mit KulturproduzentInnen führten, wollten wir das Verhältnis zwischen der Prekarisierung der jeweiligen Lebensverhältnisse und der Widerspenstigkeit von Kultur- und Wissensproduktion in den Blick bekommen, um von dort nach kollektivierbaren Linien zu suchen, die aus der individualisierten Erfahrung herausführen. Unsere Untersuchungsthese war , dass sich die neoliberalen Anrufungen nicht restlos in die Subjektivierungen einsenken, dass die Wünsche in den Praktiken von KulturproduzentInnen nicht komplett in den Zurichtungen der Flexibilisierung aufgehen. Wir dachten, es müsste – vielleicht erst einmal individuelle – Praktiken geben, sich der „Ökonomisierung des Lebens“ zu entziehen.

Den Begriff „KulturproduzentInnen“ setzen wir sehr strategisch ein. Wir sprechen damit weder von einem bestimmten Sektor (Kulturindustrie), noch von einer erhebbaren sozialen Kategorie (beispielsweise Mitglieder der Künstlersozialkasse in Deutschland) oder von einem beruflichen Selbstverständnis. Wir sprechen vielmehr von der Praxis, Unterschiedliches zu durchqueren: Theorieproduktion, Gestaltung, politische und kulturelle Selbstorganisierung, Formen der Kollaboration, bezahlte und unbezahlte Jobs, informelle und formelle Ökonomien, temporäre Zusammenschlüsse, Projekt bezogenes Arbeiten und Leben.

Wenn wir von prekarisierten KulturproduzentInnen sprechen und deren Existenzverhältnisse untersuchen, wollen wir dem offensichtlichen Phänomen einer Gleichzeitigkeit von sich scheinbar widersprechenden Subjektivierungsweisen nachgehen. Einerseits den noch immer wirkmächtigen Ideen von Freiheit und Autonomie, die nach der traditionellen bürgerlichen Souveränitätslogik funktionieren, und andererseits der Selbstverwertung in prekarisierten Verhältnissen: die Gleichzeitigkeit also von Souveränitätspraktiken und prekären, heterogenen, fragmentierenden Praktiken.

 
Kamera läuft!

Wichtig ist, dass wir mit dem Begriff KulturproduzentInnen – in unserer Untersuchung und im Filmprojekt „Kamera Läuft!“ (Berlin 2004) – von jenen Leuten sprechen, mit denen wir für eine spezifische Form der politischen Praxis im kulturellen Feld zusammenarbeiten oder auf deren Praxis wir Bezug nehmen. Für die Untersuchung interviewten wir – uns eingeschlossen – 15 Leute in Berlin, die kulturelle Produkte, kritische Diskurse und gesellschaftspolitische Handlungsfelder erarbeiten. Die Auswahl ist unseren jeweiligen Positionierungen, Auseinandersetzungen und Interessen geschuldet.

Unsere Fragen waren angelehnt an die von „Fronte della Gioventù Lavoratrice und Potere Operaio“ Anfang 1967 in Mirafiori durchgeführte Umfrageaktion „Fiat ist unsere Universität“, die unter anderem nach den Vorstellungen von „gutem Leben“ und nach Organisierung fragt.

Im Verlauf der Untersuchung mussten wir feststellen, dass wir auf diese Fragen, die ja die gesellschaftspolitische und kollektive Dimension von Prekarsierung ansprechen, nicht wirklich Antworten bekamen. Das war anders bei den Fragen nach individuellen Arbeits- und Alltagspraktiken. Wir konnten lange Schilderungen von Überforderungen, Stress, aber auch individuellen Verweigerungsstrategien dokumentieren.Im Hinblick auf eine potentielle Politisierung von KulturproduzentInnen waren wir jedoch auch an kollektiven Verweigerungsstrategien interessiert und an den damit verbundenen Wünschen nach Verbesserung des eigenen Lebens, des Lebens von anderen, also letztlich nach Gesellschaftsveränderung. Das einzige, was sich jedoch auf einer allgemeineren Ebene in allen Interviews durchzog, war das Leiden an einem Mangel von Kontinuität..

Dass wir auf die Frage nach Politisierung und Organisierung kaum Antworten erhielten, war für uns nicht so erstaunlich. Irritiert hat uns allerdings doch, dass sich keine/r der Befragten wirklich dazu äußern konnte, wie denn eigentlich ein „gutes Leben“ auszusehen hätte, oder wodurch sich ein Leben auszuzeichnen hätte, das nicht nur aus den ständigen Fremd- oder Selbst-Anrufungen, bezahlt oder unbezahlt produktiv und kreativ zu sein, besteht.

Auch wir selbst fanden in unserem Vorstellungshorizont kaum alternative Lebenskonzepte, die den schon bestehenden Verhältnissen etwas Klares und Eindeutiges entgegenzusetzen hätten.

Wenn aber Arbeit und Leben mehr und mehr voneinander durchdrungen sind, dann heißt das zwar, wie es eine Interviewte ausdrückt: „Die Arbeit sickert in dein Leben“. Aber es sickern offensichtlich nicht genügend Vorstellungen von „gutem Leben“ in die Arbeit, wodurch diese dann wiederum zu etwas transformiert werden könnte, was kollektiv ein „gutes Leben“ bedeutet.

 
Atelier Europa

Nach unserer Untersuchung haben wir im Kontext des Ausstellungsprojekts „Atelier Europa“ die Frage nach der Organisierung versucht zu beantworten und festgestellt, dass es teilweise bereits Bündnisse zwischen AkteurInnen unterschiedlicher sozialer Feldern gibt. Deshalb haben wir die Einladung in den Kunstverein München dazu genutzt, sich an diesem Ort zu treffen, Ansätze vorzustellen und die unterschiedlichen Erfahrungen auszutauschen, um gemeinsam weiter denken zu können.

Statt also das Feld kultureller und kreativer Arbeit als Ort zu beschreiben, an dem sich die Quelle wirtschaftlicher Innovation festmachen ließe, haben wir Zeitschriftenprojekte, KünstlerInnen, Filme- Mode- und TheatermacherInnen und DesignerInnen aus Spanien, Frankreich, England, der Schweiz, Österreich und Deutschland eingeladen, die in den vergangenen Jahren an der Kritik neoliberaler Ökonomisierung aus der Perspektive der Kultur gearbeitet haben, ihre Teilhabe als AkteurInnen in diesem Diskurs reflektieren.

Das Begehren nach anderen Tätigkeits- und Lebenskonzepten, neuen Formen der Kollaboration und Wissensproduktion in interdisziplinären Zusammenhängen wurde zum Ausgangspunkt und Motiv für eine gewünschte gesellschaftliche Veränderung, die an der Kritik kontrollgesellschaftlich organisierter Lohnarbeits- und Konsumverhältnisse festhält.

 
Erschienen in:  Arranca!, Nr. 32 (Sommer 2005), 23-25
kpD sind Brigitta Kuster, Isabell Lorey, Katja Reichard, Marion von Osten
www.kleinespostfordistischesdrama.de