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04 2006

Widerstand und Organisation im Postfordismus

Über einen Versuch der militanten Untersuchung der prekären Arbeit

Robert Foltin

Ein Werkzeug zum Erkennen der Klassenzusammensetzung[1] ist die “militante Untersuchung” (oder “Fragebogen” oder “ArbeiterInnenuntersuchung” oder “Mituntersuchung”), die derzeit in verschiedenen Zusammenhängen ein erstaunliches Comeback erfährt. Entstanden im Italien der 1960er, war die con-ricerca dazu gedacht, die technische Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse zu erkennen sowie die politische Zusammensetzung oder Neuzusammensetzung (also die Kämpfe und die Organisation der ArbeiterInnen) nicht nur zu erkennen, sondern sie auch zu befördern und zu beeinflussen. Kommunikation und gegenseitige Information unter den ArbeiterInnen sollen ausgelöst, und wie es die Wildcat (noch als Karlsruher Stadtzeitung) einmal bombastisch formuliert hat: “spontane” Kämpfe vorbereitet (Karlsruher Stadtzeitung Reprint 1985) werden.

Aus der Erfahrung, dass es immer wieder viele kleine Widerstandsaktionen gegen das kapitalistische System gibt, gerade nach dem Ende des großen Studierendenstreiks im Frühjahr 1996 in Wien und in Österreich[2], wurde 1997 eine kleine Gruppe gegründet, die sich “Koordination” nannte. Deren Ziel war es, Kommunikation und Information über Kämpfe zu befördern und dabei aus dem Szeneghetto hinauszukommen. Der Name wurde angeregt durch die “Coordinations” in Frankreich. Diese bildeten sich in allen Streiks seit Mitte der 1980er und integrierten sich nie in herrschende Strukturen. Linke Organisationen versuchten, in die Koordinationen Dauer hineinzubringen, aber diese ließen sich als Selbstorganisation in der Revolte nicht bürokratisieren. Sie verschwanden mit dem Ende von Demonstrationen und Streiks, tauchten aber bei jeder neuen Auseinandersetzung wieder auf und knüpften an vorherige Erfahrungen an.

Unsere “Koordination” sollte ein Werkzeug sein, den “kleinen” Kämpfen Kommunikation und Information zur Verfügung zu stellen. So produzierten wir ein regelmäßiges Informationsblatt, dessen Inhalt wir auch im Netz veröffentlichten und das linksradikalen Zeitungen (etwa dem TATblatt) als Infopool diente. Längerfristig beschränkten wir uns aber aus Mangel an Kämpfen in Wien auf das Sammeln internationaler Meldungen.

Beinflusst von K. H. Roths “Wiederkehr der Proletarität”, beschäftigten wir uns auch mit unseren eigenen prekären Arbeitsverhältnissen: Roths Argument war, dass sich viele Linke (AkademikerInnen) in ihren Lebens- und Arbeitsverhältnissen denen der ArbeiterInnen angenähert hätten, sodass kein “Gang zum Proletariat” mehr notwendig wäre. Das Scheitern aller bisherigen traditionellen Politik (sozialistisch, kommunistisch oder anarchistisch) mache einen offeneren und basisdemokratischen Neuanfang möglich. Und auf globaler Ebene finde ein “Gemeinwerden” des Proletariats statt, es komme zu einer Nivellierung der Klassenlagen zwischen erster, zweiter und dritter Welt, was neue Kommunikationsmöglichkeiten für die Kämpfe gegen Proletarisierung und Pauperisierung anbiete. Als prekär Lebende sahen wir uns als Teil der Klasse und versuchten organisatorische und kämpferische Zusammenhänge zwischen uns und Menschen außerhalb der linken autonomen “Szene” herzustellen.

Es entsprach unseren Erfahrungen, dass viele Menschen, die wir kannten, in prekären Verhältnissen lebten. Einerseits betraf das den Wechsel zwischen unterschiedlichen Jobs und dem Bezug von Sozialleistungen, andererseits die Dominanz nicht abgesicherter Arbeitsverhältnisse wie Werkverträge, befristete Anstellungen, Schwarzarbeit und Projektarbeit. Darum entstand die Idee, ausgehend von unseren sozialen Zusammenhängen eine “militante Untersuchung” durchzuführen. Der Fragebogen war flexibel angelegt, es sollte kein Ergebnis herauskommen, sondern Diskussionen entwickelt werden, die dann den Informationsfluss fördern und Kämpfe vielleicht erst möglich machen sollten. Die Fragen ließen fast alle eine positive oder eine negative Interpretation zu (z.B. wurden die Vorteile von nicht garantierten Arbeitsverhältnissen angesprochen, etwa dass es mehr freie Zeit gibt).

An die 15 Personen haben geantwortet, ergänzt wurde das durch Gespräche und Diskussionen über die Fragebögen. Die “Ergebnisse” waren weiters durch Berichte und Erzählungen von KollegInnen und MitarbeiterInnen derer beeinflusst, die die Fragebögen ausfüllten und diskutierten. Auf Grund der Auswahl der Befragten hatten die meisten ein Interesse an einem kämpferischen Leben, auch mit der Hoffnung, irgendwann nicht mehr ausgebeutet zu werden, wobei die Prekarität, in der wir lebten, relativ zu sehen ist. Einmal weil es in der Szene weniger sozialen Druck gibt, etwas zu repräsentieren, was nur durch Geld zu erlangen ist. Außerdem weil ein gesichertes soziales Umfeld besteht, aus dem Anerkennung gezogen werden kann. Trotz der Bewusstheit über den Kapitalismus wurden üblicherweise außerhalb der Diskussionen um den Fragebogen die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen kaum angesprochen. Die Arbeitsverhältnisse waren bis zu einem bestimmten Punkt freiwillig gewählt, auch wenn sich manches einfach so ergeben hatte, das Leben in der Szene und/oder die politische und kulturelle Aktivität stand im Zentrum. Und auch wenn sich unter den Befragten keine MigrantInnen und auch nicht die oft zitierten Billa-Kassiererinnen befanden, so waren trotzdem die Unterschiede zwischen den Arbeitsverhältnissen immens. Das reichte von Computerprojekten, in denen in relativ kurzer Zeit viel Geld verdient werden konnte bis hin zu Schwarzarbeit wie etwa Plakatieren mit geringer Entlohnung. Typisch für alle Verhältnisse war die längerfristige Unsicherheit und das Schwanken zwischen kaum erträglichem Arbeitsanfall und Freizeiten, was oft mit finanziellen und ökonomischen Problemen verbunden war.

Im Fordismus war die Arbeit durch relativ hohe Löhne der Männer und die Einbeziehung der Gewerkschaften in das Kapitalverhältnis geprägt. Das Machtverhältnis zwischen ArbeiterInnen und Kapital drückte sich durch die Höhe der Löhne aus. Verbunden war das mit der Disziplin in der Fabrik und außerhalb (von der Schule bis zum Gefängnis) sowie der Dominanz patriarchaler Unterdrückung in der Familie. Im Postfordismus sind die Fabriken nicht verschwunden, haben aber Teile der Arbeit ausgelagert (in kleine Firmen oder auch an Prekarisierte wie LeiharbeiterInnen, geringfügig Beschäftigte, befristetet Angestellte und WerkvertragnehmerInnen). Diese Formen hat es im Fordismus ebenso gegeben wie die Teilzeitbeschäftigung von Frauen. Wurde im Fordismus die “prekäre” Arbeit der Männer noch als Durchgangsphase betrachtet, etwa während des Studiums oder auch als Flucht aus der Fabrik in politische oder kulturelle Aktivität, so hat sich diese Tendenz jetzt stark verbreitert. Die Normalarbeitsverhältnisse sind trotzdem auch in Europa nicht verschwunden.

Immer wieder wird behauptet, in den postfordistischen Arbeitsverhältnissen sei weniger Widerstand möglich, weil die Vereinzelung die Kommunikation erschwert. Das vermeintliche kollektive Aufbegehren der ArbeiterInnen scheint mit der Vereinheitlichung in der Fabrik (oder im Büro?) zu tun zu haben. In den neuen Arbeitsverhältnissen kämen die Menschen nicht mehr zusammen. Aber schon unter fordistischen Bedingungen fanden sich die Menschen in “proletarischen” Organisationen, etwa der Sozialdemokratie, nicht hauptsächlich an ihren Arbeitsplätzen zusammen, sondern in ihrem Wohn- und Freizeitbereich. Einzig die Forderung nach “Gleichheit” (“Gleicher Lohn für alle”) passt kaum mehr zu postfordistischen Verhältnissen: in der Fabrik wurden Unterschiede “künstlich” erzeugt, um ArbeiterInnen an Hand von Lohngruppen, aber auch entlang ethnischer Grenzen oder an Hand des Geschlechts gegeneinander auszuspielen. Im Postfordismus ist es aufgrund vielfältiger und unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsbedingungen schwierig, sich eine messbare “Gleichheit” vorzustellen. Nicht mehr gleicher Lohn für alle, sondern ein garantiertes Grundeinkommen könnte daher eine solche Forderung sein.

Eine wichtige Erfahrung, die wir aus der Untersuchung zogen, war, dass die Kampf- und Organisationsbedingungen für prekär Arbeitende gleich schwierig oder leicht waren wie in der fordistischen Fabrik. Wieviel (individueller) Widerstand geleistet wird, hängt mehr von der Identifikation mit den Betriebsstrukturen ab als von der Größe oder der (noch) fordistischen Organisation. Und wer sich an Zeiten der politischen Agitation in fordistischen Jobs erinnert, wird wissen, wie groß der Ärger über die Angepasstheit der ArbeiterInnen und wie schwierig es war, nur über die Lohnhöhe zu reden, geschweige denn von Kampfmaßnahmen und Streik. Mobbing und Konkurrenz waren und sind unter den Arbeitenden ausgesprochen verbreitet, genauso wie Sexismus und Rassismus. Es ist nicht unbedingt die Prekarität und der postfordistische Charakter der Arbeit, der den Widerstand erschwert.

Da es in der Zeit der Untersuchung praktisch keine offen ausgebrochenen Kämpfe gab, nur vereinzelt gab es Berichte über Auseinandersetzungen in der Vergangenheit, beschränkten sich die Angaben der Befragten auf individuelle Widerstandsformen. Krankfeiern ist allgemein gesagt nur in den Jobs möglich, in denen ein formales Angestelltenverhältnis existiert, also in befristeten Jobs oder in der Leiharbeit. Dort wo es die Bedingungen dazu gibt, werden sie benützt. Krankenstände gehen jedoch in allen Bereichen zurück, was mit dem allgemein verschärften Druck der UnternehmerInnen und nur beschränkt mit den “neuen” Arbeitsbedingungen zusammenhängt. Die Angst vor Entlassung ist auch in den “Normalarbeitsverhältnissen” gestiegen oder auch immer dagewesen. Von befristeten Angestellten, die mit keiner Verlängerung rechnen, wird Krankfeiern sogar stärker als von fix Angestellten genutzt. Diese Möglichkeit existiert natürlich nicht für neue Selbständige und WerkvertragsnehmerInnen.

Langsam Arbeiten, mehr Stunden aufschreiben oder auch mehr verlangen ist als defensive Aktionsform fast immer möglich. Die UnternehmerInnen haben oft keine Kontrolle über die tatsächlichen Anforderungen und die Zeit, die notwendig ist, um die Arbeitsanforderungen zu erfüllen. Selbst bei Formen der neuen Selbständigkeit gibt es trotz Konkurrenz einen Spielraum, weil die AnbieterInnen von Produkten und Dienstleistungen wissen, dass die UnternehmerInnen den Wert nicht einschätzen können und Unsicherheiten durch neu zu suchende PartnerInnen vermeiden. Manchmal scheint es, als würde das augenzwinkernd dazugehören wie schon die Pausen und passive Resistenz in der fordistischen Fabrik. Wenn mehrere KollegInnen zusammenarbeiten, ist es allerdings wichtig, dass ein gutes Verhältnis untereinander herrscht, damit es kein gegenseitiges Ausspielen gibt.

Wie begrenzt kämpferische Aktivitäten waren, zeigt, dass in einer Antwort Schimpfen oder sich lustig machen über die ChefInnen als “Klassenbewusstsein” bezeichnet wurde. Das passiert selbst dort, wo persönliche Abhängigkeitsverhältnisse von den ChefInnen existieren. Sabotage und Diebstahl sind in prekären Verhältnissen so selbstverständlich, wie sie es schon im Fordismus waren. Die Bedingungen dafür haben nichts mit prekärer oder “normaler” Arbeit zu tun, sondern mit den Möglichkeiten, Kontrolle zu umgehen.

Das Stellen von Lohnforderungen ist mit den gleichen Schwierigkeiten verbunden wie in fordistischen Betrieben, abhängig vom Spielraum, den die UnternehmerInnen haben und dem Druck, den die Arbeitenden gemeinsam aufbauen können. Es gibt sogar Situationen, in denen Prekäre, Befristete oder WerkvertragsnehmerInnen, bessere Ausgangsbedingungen haben, weil die UnternehmerInnen unter Zeitdruck stehen und selbst bei einem Überangebot an Arbeitskräften nicht innerhalb von Stunden Ersatz finden können.

Zusammenfassend kann als Ergebnis unserer Untersuchungen von 1997 gesagt werden, dass in prekären Arbeitsverhältnissen fast alle bekannten individuellen Widerstandsmöglichkeiten vorkommen und genutzt werden. Selbst die neuen Selbständigen, in diesem Fall wirklich eher als Scheinselbständige zu bezeichnen, identifizieren sich nur begrenzt mit der Arbeit, und nützen damit viele der Möglichkeiten gegen die Arbeit zu sein[3].

Offen bleibt die Organisationsfrage, kaum jemand kann sich vorstellen, welche Formen der Organisation gefunden werden könnten. Vorschläge zur Organisierung, die außerhalb des Arbeitsbereiches (Arbeitslosenorganisationen, Hausbesetzungen) lagen, wurden positiv gewertet. Von der österreichischen Gewerkschaft, dem ÖGB wurde nichts erwartet, so herrschte in Bezug auf die Frage um die “Gewerkschaftlichkeit” der prekären Arbeit Ratlosigkeit. Vielleicht sollte das aber als Vorteil gesehen werden, weil sich so keine bürokratisierten Formen der Organisierung herausbilden können. Einen Ansatz sähe ich heute am ehesten in einem Versuch, der vor nicht allzulanger Zeit aus dem anarchistischem Spektrum angefangen wurde. Es wurde ein regelmäßiges Treffen von (nicht nur) prekär Arbeitenden organisiert, um in Auseinandersetzungen Einzelne von außen zu unterstützen, etwa durch die Produktion von Flugblättern oder mit Öffentlichkeitsarbeit. Diese Gruppe zerfiel als es keine konkreten Kämpfe gab (vorher ging es hauptsächlich um Arbeitsbedingungen in alternativen Strukturen).Die “gewerkschaftliche” Organisation sollte versuchen, an solchen sozialen Zusammenhängen anzuknüpfen.

Die “Koordination” zerfiel an inneren Widersprüchen. Ein Teil sah uns im eigenen Sumpf stecken, die Diskussionen wurden kaum aus der Szene hinausgetragen, auch beeinflusst durch den “Szenencharakter” unserer militanten Untersuchung. Am ehesten bewegten wir uns außerhalb unseren engen sozialen Feldes, wenn es um TrainerInnen und LehrerInnen in der Erwachsenenbildung ging, die meist befristete WerkvertragsnehmerInnen waren. Als eine Institution geschlossen wurde (IKL – Interkulturelles Lernen), beteiligten wir uns an den Protesten. Nachwirkungen gibt es kaum. Dass Beschäftigte in der Erwachsenenbildung heute aktiver sind, hat weniger mit unserem Projekt zu tun, sondern eher damit, dass viele politisierte AkademikerInnen aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich in solchen Jobs landen. Allerdings wurden die Entwürfe für unsere (flexiblen) Fragebögen im Rahmen einer militanten Untersuchung prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen um die EuroMayday-Parade in Wien wieder aufgegriffen.

Die “Ergebnisse” (oder Nicht-Ergebnisse) des Versuchs einer “militanten Untersuchung” sind subjektiv und tendenziös und wurden auch so dargestellt. Mir ging es darum, in Auseinandersetzungen und Kämpfen Lebens- und Organisationsformen zu finden, die Versuche zur Überwindung kapitalistischer Ausbeutung sind. Auch wenn unser Projekt gescheitert ist, halte ich die “militante Untersuchung” für eine ausgezeichnete Methode, Zusammenhänge zu erkennen und zu diskutieren. Wenn es sich verbreitert, kann dies ein Mittel sein, Kämpfe zusammenzufassen, sie zu unterstützen, sie sichtbar zu machen und zu verstärken oder auch nur Mut zu machen, einmal mehr das Maul aufzureißen. Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung aus einem persönlichen Gespräch nicht vorenthalten: “Es macht Spaß, Widerstand zu leisten” – und dann darüber zu reden, gerade weil ein großer Teil der Arbeitsverhältnisse trotz allem noch immer unangenehm und entfremdet ist. Kämpfe machen Spaß, schaffen Kommunikation und Beziehungen. Und außerdem hat mensch dann was zu erzählen.



[1] Klassenzusammensetzung ist auf der einen Seite die Anordnung und Strukturierung durch das Kapital, die Anwendung von Technologien oder die Arbeitsorganisation in und außerhalb der Fabrik und die Zusammensetzung der Arbeitenden, um die Ausbeutung zu garantieren (“technische Zusammensetzung”). Auf der anderen Seite ist es die Widerspenstigkeit der Arbeitenden, ihre Kampfbereitschaft und ihre Kampfmöglichkeiten (“politische Zusammensetzung”).

[2] Es ging um finanzielle Einschränkungen für Studierende. Charakteristisch an dieser Bewegung war die Dezentralität und die Einbeziehung von Studierenden, die nicht unbedingt links waren.

[3] Unter den Beteiligten befanden sich keine PraktikantInnen, die zur Gratisarbeit gezwungen sind und auch kaum ArbeiterInnen im Wissenschaftsbetrieb, die wegen einer erhofften Karriere mehr und auch gratis arbeiten.