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09 2003

Über den forschenden Militanten

Colectivo Situaciones

Übersetzung: Sebastian Touza | Uli Nicke

1

Letztlich haben wir begriffen, dass die Macht keinesfalls der Ort des Politischen schlechthin ist. Die Macht, wie es Spinoza vor langer Zeit formulierte, ist der Ort der Traurigkeit und des absoluten Unvermögens. Wie können wir dieses Wissen über die Emanzipation nennen, das die Veränderung nicht mehr über den unrechtmäßigen Besitz des Staatsapparats, der zentralen Macht, sondern als Destituierung jedes Zentrums, begreift?

Wenden wir uns der Gegenmacht zu. Emanzipatorische Bewegungen, so meinen wir, wollen den Staatsapparat nicht erobern, um eine Veränderung herbeizuführen. Vielmehr versuchen sie, diese Orte zu meiden und die Bildung einer zentralen Organisation zu verhindern.

Der Kampf um Würde und Gerechtigkeit geht weiter: Die Welt in ihrer Gesamtheit wird hinterfragt und neu gestaltet. Eben diese Aktivierung des Kampfes (die eine echte Gegenoffensive darstellt) leistet der Herstellung und Verbreitung von Hypothesen der Gegenmacht Vorschub.

In den letzten Jahren ist der populäre Kampf in Argentinien wieder aufgetaucht. Die Piquetes i und der Aufstand vom Dezember 2001 ii haben den Rhythmus der Radikalisierung beschleunigt. iii Das Engagement und die Frage nach konkreten Interventionsformen sind wieder von zentraler Bedeutung. Diese Gegenoffensive ist auf vielfältige Art und Weise tätig und richtet sich nicht nur gegen offensichtliche Feinde, sondern auch gegen jene, die die Erfahrungen der Gegenmacht formatieren wollen, um sie in vorgegebene Schemata zu pressen.

Laut James Scott ist physischer, praktischer und sozialer Widerstand der Ausgangspunkt von Radikalität.[1] Jede Machtbeziehung, jede Art der Unterordnung produziert Orte der Begegnung zwischen Herrschenden und Beherrschten. In diesen Räumen der Auseinandersetzung führen die Beherrschten einen öffentlichen Diskurs, der darin besteht, das zu sagen, was die Mächtigen hören wollen. Damit verstärken sie den Anschein ihres eigenen Gehorsams, während sich – in aller Stille – in einem der Macht verborgenen Bereich, eine Welt des klandestinen Wissens bildet, ein Wissen, das zur Erfahrung von Mikro-Widerstand und des Ungehorsam gehört.

Dies geschieht permanent, außer in Zeiten des Aufruhrs, wenn die Welt der Unterdrückten ans Tageslicht kommt und FreundInnen und Fremde in Erstaunen versetzt.

So existiert das Universum der Beherrschten gespalten: als aktive Unterwürfigkeit und freiwilliger Gehorsam, aber auch als lautlose Sprache, die die Verbreitung von Witzen, Ritualen und Wissen, die Widerstandscodes bilden, zirkulieren lässt,.

Diese Vorgängigkeit der Widerstände bildet die Grundlage für die Figur des „forschenden Militanten“, dessen Bestreben es ist, eine theoretische und praktische Arbeit zu entwickeln, die darauf abzielt, Erkenntnisse und Formen einer alternativen Gesellschaftlichkeit mitzuproduzieren, ausgehend von Vermögen (Potencia) iv dieser subalternen Erkenntnisse.[2]

Militante Forschung geht weder von ihrem eigenen Wissen von der Welt aus noch von ihrer Vorstellung davon, wie die Dinge sein sollten. Ganz im Gegenteil, die einzige Bedingung, die sie erfüllen muss, ist eine schwierige: Sie muss ihrem „Nicht-Wissen“ treu bleiben. In diesem Sinne ist sie eine authentische Anti-Pädagogik, von der zum Beispiel Joseph Jacotot gesprochen hat.[3]

Wie wir noch sehen werden, versucht sich der forschende Militante sowohl vom akademischen Forscher als auch vom der politischen Aktivisten, vom Menschenfreund einer Nichtregierungsorganisation (NGO), wie auch vom alternativen Aktivisten oder vom Wohlmeinenden zu unterscheiden.

Gleichermaßen Distanz zu institutionellen Vorgängen wie zu ideologischen Gewissheiten wahrend, handelt es sich vielmehr darum, das Leben entsprechend einer Reihe von Hypothesen (praktischer und theoretischer Natur) über die Wege der (Selbst-) Emanzipation zu organisieren. Militante Forschung ist demnach auch die Kunst, Zusammensetzungen zu schaffen, die die Suchbewegungen und die Elemente von Gesellschaftlichkeit potenzieren.

Im Gegensatz zur universitären Forschung geht es darum in autonomen Kollektiven tätig zu sein, die die von den akademischen Institutionen vorgegebenen Regeln nicht beachten, was beinhaltet, eine positive Verbindung zu subalternem, verstreutem, geheimem und verborgenem Wissen herzustellen und ein Korpus an praktischem Wissen der Gegenmacht zu produzieren. Ganz im Gegensatz zur Verwendung der Erfahrungen als einem Bereich zur Bestätigung von Laborhypothesen.

Es ist bekannt, dass die akademische Forschung einer ganzen Reihe entfremdender Mechanismen unterworfen ist, die den Forscher vom eigentlichen Sinn seiner Tätigkeit abhalten: Er muss seine Arbeit nach festen Regeln, Themen und Schlussfolgerungen ausrichten. Finanzierungsfragen, Kontrolle, sprachliche Anforderungen, überbordende Bürokratie, nichtssagende Konferenzen und Protokolle – all das sind Bedingungen, mit denen sich die offizielle Forschung arrangieren muss.

Militante Forschung entfernt sich von diesen Bereichen akademischer Arbeit, wobei sie weder gegen sie opponiert noch sie ignoriert. Es geht nicht um die Ablehnung und Negierung universitärer Forschung, sondern vielmehr darum, ein anderes Verhältnis zum populären Wissen zu schaffen.

Während die an der Universität gewonnenen Erkenntnisse gewöhnlich einen Bereich konstituieren, der mit dem Markt und dem wissenschaftlichen Diskurs verbunden ist (wobei jegliche anderen Formen der Wissensproduktion außer Acht gelassen werden), ist militante Forschung durch die Suche nach eben jenen Berührungspunkten gekennzeichnet, an denen sich das gewonnene Wissen mit dem populären Wissen zusammenfügt.

Die militante Forschung versucht, unter alternativen Bedingungen zu arbeiten, die vom Kollektiv selbst und durch die Bande der Gegenmacht, in die sie sich einschreibt, geschaffen werden. So möchte sie eine eigene Art von Effektivität in der Produktion eines für die Kämpfe nützlichen Wissens schaffen.

Dabei modifiziert die militante Forschung ihre Position: Sie versucht, eine Fähigkeit zur Selbstinterpretation von Kämpfen zu entwickeln und dabei das Fortschreiten und die Produktionen anderer Erfahrungen wieder aufzunehmen und zu verbreiten.

Im Gegensatz zum politischen Aktivisten, für den sich die Politik immer in ihrer eigenen separaten Sphäre abspielt, ist der forschende Militante jemand, der sich ständig Fragen stellt, der nicht zufrieden ist mit den ideologischen Auslegungen und Modellen der Welt.

Ebenso wenig ist militante Forschung eine Praxis „engagierter Intellektueller“ oder einer Gruppe von „Beratern“ von sozialen Bewegungen. Ihr Ziel besteht weder darin Erfahrungen zu politisieren noch sie zu intellektualisieren. Es geht nicht darum, ihnen zu ermöglichen, große Fortschritte zu machen, um sich vom Gesellschaftlichen zu „ernsthafter Politik“ zu entwickeln.

Die Mannigfaltigkeit steht im Gegensatz zu diesen Vorstellungen von Fortschritt und Ernsthaftigkeit: Es geht weder um die Lehre noch um die Verbreitung von Schlüsseltexten, sondern darum in den Praxen nach Bewegungen zu suchen, die zunehmend Anzeichen für die Entstehung einer neuen Gesellschaftlichkeit aufweisen. Wenn die Sprache der militanten Forschung von diesen Praxen losgelöst wird, wird sie auf die Verbreitung eines Jargons, einer Mode oder einer pseudo-akademischen Ideologie reduziert, der die situationale Verankerung v entzogen ist.

Militante Forschung materialisiert sich in Form von Workshops und kollektiven Lektüren, in der Produktion von Bedingungen für das Denken und den Vertrieb von produktiven Texten, in der Herstellung von Kreisläufen, die auf konkreten Kampferfahrungen basieren, über das Studium sowie zwischen Kerngruppen forschender Militanter.

Seit dem Jahr 2000 haben wir einen besonderen Weg innerhalb eines Magmas sozialer Bewegungen, Versammlungen und Entdeckungen eingeschlagen, der als „argentinisches Labor“ bezeichnet wird. Dieser Weg erregte Aufmerksamkeit vor allem infolge eines neuen Typs von Aufstand, der am 19. und 20. Dezember 2001 stattfand.

Um die Ausarbeitungen, die sich aus dem Beschreiten dieses Weges ergeben haben, zu verbreiten, gründeten wir einen eigenen Verlag, De Mano en Mano vi, und veröffentlichten einige Dossiers, Textentwürfe und Bücher, die positiv auf die Forschung zurückgewirkt haben. Im folgenden Abschnitt werden einige Hypothesen über unsere Vorstellungen des forschenden Militanten präsentiert, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf diesem Weg entstanden sind und einen provisorischen Charakter behalten, insofern sie laufend weiter ausgearbeitet werden.

2

Militante Forschung, so wie wir sie verstehen, entbehrt eines Objekts. Wir sind uns bewusst, dass diese Aussage paradox klingt: Wenn geforscht wird, dann wird auch irgendetwas erforscht. Wenn es nichts zu erforschen gibt, wie kann man dann von Forschung sprechen? Allerdings sind wir zugleich auch davon überzeugt, dass dieses Merkmal genau das ist, was der Forschung ihr Vermögen verleiht. Einer Forschung, die auf Objektualisierung vii verzichtet, ist das Absehen von der üblichen Vorstellung vom Forscher implizit, was genau dem Ziel des forschenden Militanten entspricht.

Forschung kann sehr wohl ein Mittel zur Objektualisierung sein (Es ist nicht Originalität von unserer Seite, dieses alte Wissen zu bekräftigen. Trotzdem ist es wichtig, daran zu erinnern, dass dies eine der schwerwiegendsten Einschränkungen der gewöhnlichen Subjektivität des Forschers ist). Wie Nietzsche ins Gedächtnis ruft, ist der Theoretiker (und die Theoretikerin) – was etwas komplexer ist als „der/die Lesende“ – der-/diejenige, die eine Handlung von einem völlig externen Standpunkt aus wahrnimmt (das heißt, seine Subjektivität ist in einer Art und Weise konstituiert, die vollkommen unabhängig von dieser Aktion ist). Daher schreibt der Theoretiker (oder die Theoretikerin) dem Subjekt der Aktion eine Intention zu. Um es deutlich zu machen: Eine derartige Zuschreibung setzt hinsichtlich des Protagonisten der beobachteten Aktion einen Urheber und eine Intention voraus. Sie vermittelt Wertschätzungen und Ziele und produziert schließlich „Wissen“ über die Aktion (und den Handelnden).

Auf diese Weise bleiben der Kritik mindestens zwei entscheidende Momente unzugänglich: Zum einen hinsichtlich des (externen) Subjekts, das wahrnimmt. Der Forscher braucht sich nicht selbst erforschen. Er kann schlüssiges Wissen über die Situation schaffen, soweit er (und eigentlich dank des Umstandes, dass) er sich außerhalb befindet, in sicherer Distanz, die ihm vermeintlich eine gewisse Objektivität garantiert. Diese Objektivität ist nur in eben dem Maße authentisch und effizient wie sie nichts anderes ist als die Kehrseite der Objektualisierung – der Gewalt – jener Situation, über die gearbeitet wird.

Aber es gibt noch einen anderen blinden Fleck der Kritik: der Forscher, dessen Tätigkeit in der Durchführung von Zuschreibungen besteht, macht nichts anderes, als die ihm in seiner eigenen Forschungssituation zur Verfügung stehenden Mittel auf jene unbekannten Erscheinungen anzuwenden, die ihm sein Objekt präsentiert. Auf diese Weise entwickeln sich ForscherInnen zu Maschinen, die ihrem Untersuchungsobjekt Einsichten, Wertschätzungen, Interessen, Filiationen, Ursachen, Einflüsse, Rationalitäten, Intentionen und unbewusste Motive zuerkennen.

Diese beiden blinden Flecken der Kritik – oder dieselbe Blindheit gegenüber zwei Aspekten (hinsichtlich des Subjekts, das die Zuschreibung vornimmt, sowie hinsichtlich der Mittel dieser Zuschreibung) laufen auf einen einzigen Vorgang hinaus: auf eine Maschine, um über das Gute und das Böse in Übereinstimmung mit der Gesamtheit vorhandener Wertschätzungen zu urteilen.

Diese Eigenart der Produktion von Erkenntnissen führt uns ein offensichtliches Dilemma vor Augen. Die traditionelle universitäre Forschung – mit ihrem Objekt, mit ihrer Methode der Zuschreibung und ihren Schlussfolgerungen – gelangt selbstverständlich zu wertenden – und vor allem deskriptiven – Erkenntnissen hinsichtlich der Objekte, die sie erforscht. Allerdings erfolgt diese deskriptive Operation nicht erst nach der Formierung des Objekts, sondern entpuppt sich vielmehr als Produzentin dieser Objektualisierung. Dies geht sogar so weit, dass universitäre Forschung umso effizienter ist, je intensiver sie sich dieser objektualisierenden Kräfte bedient. Dementsprechend wirkt die Wissenschaft – und besonders die als sozial bezeichnete Wissenschaft – eher als trennend und verdinglichend in Bezug auf jene Situationen, an denen sie teilhat, denn als Element, das der Herstellung möglicher Erfahrungen (sowohl praktischer als auch theoretischer Natur) innerlich ist.

Der Forscher (oder die Forscherin) bietet sich selbst als Erfahrung synthetisierendes Subjekt an. Er ist derjenige, der die Rationalität dessen erklärt, was sich ereignet. Und als solcher bleibt er erhalten: als notwendiger blinder Fleck einer solchen Synthese. Er selbst bleibt als sinngebendes Subjekt von jeder Selbstüberprüfung ausgeklammert. Er und seine Mittel – seine Wertschätzungen, seine Begriffe, sein Blick – bilden die Maschine, die klassifiziert, Zusammenhänge herstellt, einschreibt, urteilt, verwirft und ächtet. Letztlich ist der Intellektuelle derjenige, der den Belangen der Wahrheit „Gerechtigkeit widerfahren lässt“, als Administration – Adäquation – dessen, was hinsichtlich der rationalen Horizonte der Gegenwart existiert.

3

Wir haben uns mit den Themen Engagement und Militanz beschäftigt. Heißt das etwa, dass wir vorschlagen, den militanten politischen Aktivisten höher einzuschätzen als den akademischen Forscher?

Das glauben wir nicht. Auch politische Militanz ist eine Praxis mit Objekt. Dementsprechend bleibt sie an eine Modalität der Instrumentalität gebunden: und zwar an jene, die sich mit anderen Erfahrungen mit einer immer schon konstituierten Subjektivität, mit vorausgehendem Wissen, das mit allgemein gültigen, rein ideologischen Aussagen ausgestattet ist – dem strategischen Wissen – in enge Verbindung bringt. Ihre Form des Zusammenseins mit anderen ist der Utilitarismus: Niemals geht es um Affinität, immer nur um „Übereinkommen“. Niemals geht es um Auseinandersetzung, immer nur um „Taktik“. Schließlich kann sich politische Militanz – insbesondere die von einer Partei ausgeübte – kaum als Erfahrung von Authentizität konstituieren. Schon von Beginn bleibt sie in der Transitivität gefangen: Was sie an einer Erfahrung wirklich interessiert, ist im Grunde immer „etwas anderes“ als die Erfahrung selbst. So gesehen ist politische Militanz – auch die aus dem militanten linken Lager – genauso äußerlich, beurteilend und objektualisierend wie universitäre Forschung.

Wir ergänzen die Tatsache, dass sich ein humanitärer Aktivist – wie zum Beispiel jemand, der sich in einer Nichtregierungsorganisation engagiert –diesen manipulierenden Mechanismen genauso wenig entziehen kann. Genau genommen konstituiert sich die nunmehr globalisierte humanitäre Ideologie ausgehend von einem idealisierten Bild einer bereits geschaffenen unveränderbaren Welt. Demgegenüber müssen die Bestrebungen auf jene mehr oder weniger außergewöhnlichen Orte gerichtet werden, an denen immer noch Elend und Irrationalität walten.

Die durch den solidarischen Humanitarismus ausgelösten Mechanismen erklären nicht nur jeden möglichen schöpferischen Akt für abgeschlossen, sondern führen außerdem – mit ihren barmherzigen Wohltaten und ihrer Rede von Ausschluss – die viktimisierende Objektualisierung ein, die einen jeden von seinen subjektivierenden und produktiven Fähigkeiten trennt.

Wenn wir von Engagement und vom „militanten“ Charakter der Forschung sprechen, dann tun wir dies in einem bestimmten an vier Bedingungen gebundenen Sinn: (a) der Charakter der Motivation, der die Forschung trägt; (b) der praktische Charakter der Forschung (Ausarbeitung praktischer, situierter Hypothesen); (c) die Bedeutung des zu Erforschenden: Das Produkt der Forschung lässt sich in seiner Totalität nur in solchen Situationen ermessen, die durch dieselbe Problematik und Konstellation von Umständen und Anliegen charakterisiert sind; und schließlich (d) ihre effiziente Vorgehensweise: ihre Entfaltung ist schon das Ergebnis, und ihr Ergebnis wirkt sich in einer unmittelbaren Intensivierung der effizienten Vorgehensweisen aus.

4

Tatsächlich verstärkt jegliche Idealisierung den Mechanismus der Objektualisierung. Dies ist ein authentisches Problem für die Militanz der Forschung.

Idealisierung – auch wenn sie aufs Neue einem Objekt verfällt, das nicht solchen Effekten verschrieben ist – resultiert immer aus dem Mechanismus der Zuschreibung (sogar wenn dies unter der Modalität wissenschaftlicher oder politischer Ansprüche gar nicht möglich ist). Denn die Idealisierung blendet – wie jede Ideologisierung – all jene Aspekte des konstruierten Bildes aus, die es als Ideal von Kohärenz und Fülle zu Fall bringen könnten.

Wie sich gleichwohl zeigt, ist jedes Ideal – entgegen dem Glauben des Idealisten – eher auf der Seite des Todes als auf der des Lebens angesiedelt. Das Ideal schneidet die Realität vom Leben ab. Das Konkrete – das Lebendige – ist partial und völlig unbegreiflich, unzusammenhängend und widersprüchlich. In dem Maße wie das Lebendige auf seinen Fähigkeiten und seinem Vermögen beharrt, braucht es sich nicht an irgendein Bild anzupassen, das ihm Sinn zuerkennt und es begründet. Es ist genau umgekehrt: das Lebendige selbst ist die schöpferische Quelle – und nicht Objekt oder Verwahrer – von Wertschätzungen der Gerechtigkeit. Im Grunde ist jede Idee eines reinen und erfüllten Subjekts nichts anderes als der Bewahrung dieses Ideals.

Dieser Mechanismus der Idealisierung kommt klar in dem Begriff der „Ausgeschlossenen“, mit dem die Arbeitslosen in Argentinien beschrieben werden, zum Tragen. Wir haben es erwähnt: „Die Exklusion ist der Ort, den unsere biopolitischen Gesellschaften schaffen, um Menschen, Gruppen und Gesellschaftsschichten auf eine unterordnende Art und Weise mit einbeziehen zu können.“ viii

Die Idealisierung verbirgt unmerklich eine konservative Vorgehensweise: Hinter der Reinheit und Bestimmung der Gerechtigkeit, die ihr scheinbar zugrunde liegen, verbirgt sich neuerlich eine Verwurzelung in herrschenden Wertschätzungen. Daher auch der gerechtigkeitsliebende Anschein des Idealisten: Er will Gerechtigkeit widerfahren lassen, das heißt, er will die Wertschätzungen, die er für gut hält, materialisieren, wirksam werden lassen. Der Idealist tut nichts außer diese Wertschätzungen auf das Idealisierte zu projezieren (der Moment, in dem etwas, was einst vielfältig und komplex war, zum Objekt eines Ideals wird), ohne seine eigenen Wertschätzungen zu hinterfragen, das heißt, ohne eine subjektive Erfahrung, die ihn verformt, zu verwirklichen.

Dieser Mechanismus entpuppt sich letztlich als das größte Hindernis für den forschenden Militanten: Indem die Idealisierung in subtilen und kaum wahrnehmbaren Formen entsteht, produziert sich eine unüberbrückbare Distanz. Dies geht so weit, dass der forschende Militante nur noch das sieht, was er auf jenes, was ihm schon als Fülle scheint, projiziert hat.

Daher kann diese Tätigkeit nur ausgehend von einer sehr ernsten Arbeit am Forschungskollektiv selbst existieren, das heißt, das Kollektiv kann nicht existieren, ohne sich ernsthaft selbst zu erforschen, sich dabei zu modifizieren, sich in den Erfahrungen, an denen es teilhat, neuzugestalten, seine Ideen und Lektüren permanent zu kritisieren und schließlich Praxen in alle möglichen Richtungen zu entwickeln. ix

Diese ethische Dimension verweist auf die hohe Komplexität militanter Forschung: die subjektivierende Arbeit der Dekonstruktion jeder objektualisierenden Tendenz. Mit anderen Worten: eine Forschung ohne Objekt zu verwirklichen.

Wie in der Genealogie geht es darum, auf der Ebene der „Kritik der Wertschätzungen“ zu arbeiten. Sie zu durchdringen und „ihre Götzen“ zu zerstören, wie Nietzsche ausführt. Aber diese Arbeit, die an der – und auf die – Schaffung von Wertschätzungen ausgerichtet ist, kann nicht durch bloße „Kontemplation“ getan werden. Sie erfordert eine radikale Kritik allgemein anerkannter Wertschätzungen. Daher bedarf es einer Anstrengung zur Dekonstruktion der vorherrschenden Wahrnehmungsformen (Interpretation, Bewertung). Das Erzeugung von Wertschätzungen ist folglich nicht ohne die Produktion einer Subjektivität möglich, die in der Lage ist, sich radikaler Kritik zu unterziehen.

5

Es drängt sich eine Frage auf: Ist eine solche Forschung möglich, ohne dass gleichzeitig ein Prozess des Sich Verliebens ausgelöst wird? Wie wäre das Band zwischen zwei Erfahrungen, ohne ein starkes Gefühl von Liebe oder Freundschaft möglich?

Die Erfahrung der Militanz der Forschung gleicht mit Sicherheit jener eines Verliebten, vorausgesetzt, wir verstehen unter Liebe das, was eine bestimmte lange philosophische Tradition – der Materialismus – darunter versteht: das heißt, es handelt sich dabei nicht um etwas, das eine Person gegenüber einer anderen empfindet, sondern um einen Prozess, für dessen Existenz es zwei oder mehrerer bedarf. x Ein Prozess, der das „Eigene“ ins „Gemeinschaftliche“ verwandelt. An solch einer Liebe hat man teil. Ein solcher Prozeß entscheidet sich nicht intellektuell: Er bedarf der Existenz von zwei oder mehreren. Es handelt sich um keine Illusion, sonder um eine authentische Erfahrung des Anti-Utilitarismus.

In der Liebe, in der Freundschaft gibt es im Gegensatz zu den Mechanismen, die wir bis jetzt beschrieben haben, weder Objektualität noch Instrumentalisierung. Niemand schützt sich vor dem, was das Band vermag, noch kommt man unkontaminiert davon. Man experimentiert weder mit Liebe noch mit Freundschaft auf unschuldige Art und Weise. Wir alle gehen neu-zusammengesetzt daraus hervor: Diese beiden Vermögen – Liebe und Freundschaft – haben die Macht, die Subjekte, die sie einholen, zu konstituieren, zu qualifizieren und wiederherzustellen.

Diese Liebe – oder Freundschaft – konstituiert sich wie eine Beziehung, die das unbestimmbar macht, was sich bis zu diesem Moment als Individualität bewahrte, indem sie eine integrierte Figur durch mehr als einen individuellen Körper zusammensetzt. Gleichzeitig läßt eine derartige Befähigung der individuellen Körper, all jene Mechanismen der Abstraktion scheitern – Dispositive, die aus quantifizierbaren Körpern austauschbare Objekte machen – und die für den kapitalistischen Markt ebenso charakteristisch sind wie die anderen bereits erwähnten objektualisierenden Methoden.

Deshalb ist diese Liebe unserer Meinung nach eine Bedingung für die militante Forschung.

Wir beziehen uns auf diesen Prozess der Freundschaft bzw. des Sich Verliebens unter dem weniger verfänglichen Namen der Zusammensetzung. Im Gegensatz zur Artikulation, ist die Zusammensetzung nicht rein intellektuell. xi Ihr liegen weder Interessen noch Kriterien wie ein (politischer oder anderweitiger) Nutzen zugrunde. Im Unterschied zu den „Übereinkommen“ und den „Allianzen“ (strategische oder taktische, teilweise oder vollständige), die auf wörtlichen Übereinstimmungen basieren, ist die Zusammensetzung mehr oder weniger unerklärbar und geht weit über das hinaus, was man über sie sagen kann. Tatsächlich ist sie, solange sie andauert, viel intensiver als alle rein politischen oder ideologischen Auseinandersetzungen.

Liebe und Freundschaft erzählen uns vom Wert der Qualität vor der Quantität: der kollektive Körper, der aus anderen Körpern zusammengesetzt ist, erhöht sein Vermögen nicht durch die reine Quantität seiner individuellen Komponenten, sonder in Relation zur Intensität des Bandes, das sie eint.

6

Liebe und Freundschaft also: die Arbeit der Militanz der Forschung identifiziert sich nicht mit der Herstellung einer politischen Linie. Sie arbeitet – notwendigerweise – auf einer anderen Ebene.

Wenn wir eine Unterscheidung zwischen „der Politik“ (verstanden als Kampf um die Macht) und den Erfahrungen, in denen Produktionsprozesse von Gesellschaftlichkeit oder von Wertschätzungen mit im Spiel sind, behaupten, dann können wir auch zwischen dem militanten politischen Aktivisten (der seinen Diskurs auf irgendeine Einheit von Gewissheiten gründet) und dem forschenden Militanten (der seine Perspektive ausgehend von kritischen Fragen hinsichtlich dieser Gewissheiten anordnet) unterscheiden.

Zweifellos verliert man diese Unterscheidung oft aus den Augen, wenn eine Erfahrung als Modell präsentiert und aus dieser eine Quelle für eine politische Linie gemacht wird.

In einem bestimmten Maße glauben dann zumindest einige Leser, die Geburt einer „situationalen“ Linie als idealisiertes Produkt der Sprache – oder vielmehr eines Jargons – und als Vorstellung, welches die Notizbücher xii – scheinbar – von der Erfahrung übermitteln, erkennen zu können.

Für die Gegner wie auch für die Befürworter ist diese neue Linie zu einem Motiv für Auseinandersetzungen und Verschwörungstheorien geworden. Was das betrifft, so müssen wir zugeben, dass dies von allen möglichen Bestimmungen dieser Auseinandersetzung jene Reaktionen sind, die uns am wenigsten motivieren, sowohl wegen ihrer manifesten Unproduktivität, die aus solchen Ablehnungen und Unterstützungen resultiert, wie auch wegen der Form, in der die besagten Idealisierungen (egal ob positiv oder negativ) gewöhnlich die kritischere Betrachtung auf diejenigen die sie zu verantworten haben, ersetzen. So wird sehr schnell eine allzu fertige Position gegenüber dem, was eine Übung der Öffnung zu sein beansprucht, angenommen.

7

Gehen wir noch einen Schritt weiter in der Konstruktion des Konzepts der Forschung ohne Objekt. Innerlichkeit und Immanenz sind nicht notwendigerweise identische Prozesse.

Innen und Außen, Inklusion und Exklusion sind (wenn uns eine derartige Aussage erlaubt ist) Kategorien der herrschenden Ideologie: Gewöhnlich verbergen sie viel mehr als sie aufzeigen. Die Erfahrung des forschenden Militanten ist keine innerliche Erfahrung, sondern vielmehr eine Erfahrung des Arbeitens in Immanenz.

Der Unterschied kann unserer Meinung nach wie folgt beschrieben werden: Das Innen (und folglich das Außen) bezeichnet eine Position, die ausgehend von einer bestimmten Grenze organisiert ist, die wir als relevant erachten.

Innen und außen verweisen auf den Standort eines Körper oder eines Elements in Bezug auf eine Alternative oder eine Grenze. Innen zu sein, heißt also in diesem Sinne, eine Gemeinsamkeit zu haben, die uns der selben Gesamtheit angehören läßt.

Dieses Referenzsystem befragt uns auf den Ort, an dem wir situiert sind: Nationalität, soziale Klasse oder sogar auf unsere Haltung, die wir gegenüber den nächsten Wahlen, der Militärinvasion in Kolumbien oder der Programmation der Kanäle im Kabelfernsehen einnehmen.

In ihrer extremsten Form vereinigen sich zur Freude der Sozialwissenschaften die „objektive“ Zugehörigkeit (die aus der Wahrnehmung einer Gemeinsamkeit entsteht) und die „subjektive“ Zugehörigkeit (die aus einer Wahl aus angesichts etwas entsteht): Wenn wir Arbeitslose sind, können wir wählen, uns irgendeiner Piquetero-Bewegung anzuschließen; wenn wir aus der Mittelschicht sind, können wir wählen Teil irgendeiner Nachbarschaftsversammlung zu sein. Wegen dieser Festlegung – die gemeinsame Zugehörigkeit zu ein‑ und derselben Gesamtheit, in diesem Fall die soziale Klasse – wird eine Auswahl möglich – und wünschenswert – (eine Gruppe von Gemeinschaftlichen, mit denen wir uns zusammentun).

In beiden Fällen bedeutet, Drinnen Sein, eine bereits existierende Grenze zu respektieren, die mehr oder weniger unfreiwillig Standorte und Zugehörigkeiten festlegt. Es geht also nicht so sehr darum, die Möglichkeiten, die aus dem Moment der Entscheidung hervorgehen und die, wie im Fall des oa. Beispiels überaus subjektivierend wirken können, zu verkennen. Vielmehr geht es um eine Unterscheidung zwischen dem reinen „Sein“ und seinem „Drinnen“ (oder „Draußen“) hinsichtlich der Mechanismen der subjektiven Produktion, die ausgehend von einem Ungehorsam gegenüber diesen Geschicken auftauchen, bis dahin, dass an der Grenze nicht auf bereits vorbestimmte Optionen reagiert werden muss, sondern vielmehr die Ziele der Situation selbst herzustellen sind.

In diesem Sinne lohnt es sich, das Bild der Immanenz als etwas anderes als das reine „Drinnen Sein“ , zu präsentieren.

Immanenz bezieht sich auf eine Modalität des Eintretens in eine Situation und arbeitet ausgehend von der Zusammensetzung – der Liebe oder der Freundschaft – um neuen möglichen Materialien der besagten Situation Platz zu machen. Immanenz ist daher eine konstituierende Mitzugehörigkeit, die die Repräsentationen des „Drinnen“ oder „Draussen“ transversal oder diagonal durchquert. Als solche rührt sie nicht vom Sein her, sondern bedarf der Tätigkeit des Eintretens, des Zusammensetzens.

Kurz zusammengefasst: Die Begriffe Immanenz, Situation und Zusammensetzung sind der Erfahrung der Militanz der Forschung eingeschrieben. Nützliche Namen für Tätigkeiten, die vor allem ein konstituierendes gemein Werden schaffen. Wenn sie in anderen Erfahrungen zum Jargon einer neuen politischen Linie oder einer neumodischen Philosophie werden – etwas, was uns nicht im Geringsten interessiert – erlangen diese Begriffe eine neue Bedeutung ausgehend von jenen Verwendungen, die nicht unsere sind.

In anderen Worten: der operative Unterschied zwischen dem „Innen“ der Repräsentation (Grundlage für Zugehörigkeit und Identität) und der Verbindung der Immanenz (konstituierendes Werden) durchzieht die größte Bestimmung, die diese letzte Form uns zuerkennt, um an neuen Erfahrungen teilzuhaben.

8

Es scheint, als hätten wir es geschafft, eine Unterscheidung zwischen Liebe-Freundschaft und den Formen von Vergegenständlichung, gegen welche die sich die – wie wir betonen –prekäre Figur des forschenden Militanten erhebt. Zweifellos sind wir noch nicht auf die grundsätzliche Frage der Ideologisierung der Auseinandersetzung eingegangen.

Der Kampf aktiviert Fähigkeiten, Ressourcen, Ideale und Solidaritäten. Auf diese Weise macht er uns auf eine wesentliche Beschaffenheit aufmerksam: die Würde. In ihr wird das Risiko des Todes weder gesucht noch angestrebt. Deshalb ist die Erinnerung an die toten Kameraden niemals abgeschlossen, sondern bleibt vielmehr schmerzhaft. Diese Dramatik des Kampfes ist zweifellos banalisiert , wenn die Auseinandersetzung ideologisiert wird, bis dahin, dass sie als ausschließlicher Sinn postuliert wird.

Wenn dies passiert, gibt es keinen Raum mehr für Forschung. Bekanntlich haben beide – Ideologie und Forschung – gegensätzliche Strukturen: Während sich Erstere aus der Gesamtheit an Gewissheiten konstituiert, existiert die zweite nur ausgehend von einer Grammatik von Fragen.

Gewiss bewirkt der Kampf – der notwendige und noble Kampf –nicht notwendigerweise eine Verherrlichung der Konfrontation als herrschenden Lebensinhalt. Es bestehen keine Zweifel daran, dass im Fall einer Organisation, die permanent kämpft, eine Grenze als ein schmaler Grat erscheinen kann, wie im Falle einer Piquetero Organisation. Diesen ernsten Punkt als selbstverständlich vorauszusetzen, hieße allerdings, ein vorschnelles Urteil zu fällen.

Anders als die militante Subjektivität, die sich auf den vorgegebenen Sinn der extremen Polarisierung des Lebens– der Ideologisierung der Konfrontation xiii – stützt, wirken die Erfahrungen, die eine andere Gesellschaflichkeit suchen, aktiv darauf hin, nicht der Logik der Auseinandersetzung zu verfallen, der zufolge die Multiplizität der Erfahrung sich auf die vorherrschende Bedeutung reduziert.

Die Auseinandersetzung allein schafft noch keine Wertschätzungen. Als solche geht sie nicht über die Distribution herrschender Wertschätzungen hinaus.

Das Ergebnis eines Krieges deutet an, wer sich das Existierende aneignet. Wer zukünftig das Eigentumsrecht an existierenden Gütern und Wertschätzungen hat.

Wenn der Kampf die „Struktur der Bedeutungen und Wertschätzungen“ nicht verändert, trägt er lediglich zu einem Rollenwechsel bei, was das Fortleben der Struktur selbst garantiert.

An diesem Punkt zeichnen sich vor unseren Augen zwei völlig verschiedene Vorstellungen von Gerechtigkeit ab – schließlich handelt es sich darum –. Einerseits den Weg des Kampfes um die Fähigkeit, die Maschine des Urteilens zu betreiben. Gerechtigkeit schaffen, heißt auf sich selbst zurückführen, was als Gerechtes betrachtet wird. Das heißt, auf andere Art und Weise die Distribution von existierenden Wertschätzungen zu interpretieren. Das andere Bild von Gerechtigkeit legt nahe, dass das, worum es sich handelt, ein schöpferisches Werden von Wertschätzungen, von Erfahrungen, der Welt ist.

Daher hat jeder Kampf, der nicht ein idealisierter ist, diese zwei Stoßrichtungen, die in der Selbstaffirmation ihren Ausgang nehmen: nach „Innen“ und nach „Außen“.

9

Militante Forschung sucht nicht nach einem Erfahrungs-Modell. Vielmehr gilt es sich gegen die Existenz solcher Ideale auszusprechen. Man könnte – zu Recht – sagen, dass es eine Sache sei, dieses Prinzip zu verkünden, und eine ganz andere, es praktisch umzusetzen. Man könnte auch schlussfolgern – und dort beginnen wir zu zweifeln – dass, damit diese noble Absicht Wirklichkeit wird, ist es nötig „unsere Kritikpunkte“ offenzulegen. Bei näherer Betrachtung dieser Forderung wird allerdings deutlich, bis zu welchem Punkt, das, was von uns verlangt wird, die Beibehaltung des Modell wäre, auf negative Art und Weise, um die wirkliche Erfahrung mit dem idealen Modell zu vergleichen. Ein Mechanismus, den die Sozialwissenschaften verwenden, um daraus ihre kritischen Urteile abzuleiten.

Wie man sieht, sind alle diese Überlegungen über Kritik und Produktion von Erkenntnissen keine kleinen Angelegenheiten, und sie sind es darum nicht, weil sie Fragen der Gerechtigkeit betreffen (und das Urteil ist nichts anderes als die rechtliche Form der Gerechtigkeit). Dieser Text kann nichts einem Rechtsbestand vergleichbares anbieten, noch liefert er Mittel, um Urteile über andere Erfahrungen zu fällen. Vielmehr trifft das Gegenteil zu: Wenn wir als „Autoren“ – sprechende Kadaver, die schreiben – überhaupt etwas erreichen wollten, dann war es eine diametral entgegensetzte Vorstellung von Gerechtigkeit anzubieten, die auf der Zusammensetzung beruht. Wozu das gut sein soll? Auf diese Frage gibt es keine vorausgehenden Antworten.


Bis in alle Ewigkeit

September 2003

 

Aus dem Spanischen ins Englische übersetzt von Sebastian Touza und aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Uli Nicke und für die Veröffentlichung auf transform.eipcp.net redaktionell überarbeitet.


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Besuchen Sie unsere Website www.situaciones.org oder senden Sie uns eine E-Mail unter colectivo@situaciones.org, um mit uns über unsere Werke zu diskutieren, sich über unsere Bücher zu informieren und sie zu bestellen.

Dieser Essay setzt sich aus Fragmenten zweier Artikel zusammen, in denen die Methode der Intervention beschrieben wird, die uns vorschwebt: die militante Forschungsarbeit. Hierzu wurden Auszüge aus dem Essay „Por una política más allá de la política“ verwendet, der in dem von unserem Colectivo herausgegebenen und im November 2001 im Verlag Ediciones De Mano en Mano erschienenen Buch
Contrapoder: una introducción veröffentlicht wurde. Zudem greifen wir auf große Teile des Textes „Sobre el método“ zurück, der als Vorwort des im November 2002 ebenfalls bei De Mano en Mano veröffentlichten Buches La Hipótesis 891: Más allá de los piquetes erschienen ist. Er wurde von unserem Colectivo gemeinsam mit der Arbeitslosenbewegung von Solana verfasst



i Thema des Buches La Hipótesis 891 sind jene Entwicklungen, die von den durch Piqueteros ausgelösten Kämpfen und Denkstrategien eröffnet wurden. (Anmerkung von Sebastian Touza, dem Übersetzer des Textes ins Englische)

ii Vgl. 19 y 20. Apuntes para el nuevo protagonismo social, De Mano en Mano, Buenos Aires, 2002 (Anm. S. T.)

iii In der Nacht vom 19. Dezember 2001 strömten Tausende ArgentinierInnen auf die Straßen, Plätze und öffentlichen Areale der Großstädte. Nachdem drei Dutzend Menschen bei Straßenschlachten mit der Polizei getötet worden waren, trat Präsident Fernando de la Rúa am darauf folgenden Tag zurück. Der Aufstand sorgte dafür, dass die Phase intensiver gesellschaftlicher Kreativität, die mit der Gründung der Bewegung der Arbeitslosen – die, wegen der von ihnen durchgeführten Straßenblockaden, auch „Piqueteros“ genannt wurden – in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre eingesetzt hatte, wieder neuen Auftrieb gewann. In den Monaten nach dem Aufstand bildeten sich landesweit zahlreiche Versammlungen in den Stadtteilen. Viele Fabriken und Geschäfte, die bankrott gegangen waren, wurden von den ehemaligen ArbeiterInnen übernommen und wieder in Betrieb genommen. Mehrere dieser Initiativen schlossen sich zu auf dem Solidaritätsprinzip basierenden Handelsgenossenschaften zusammen. Dadurch trugen sie dazu bei, die lebensnotwendigen Bedarfsgüter für Millionen von Menschen bereitzustellen, die infolge einer Volkswirtschaft, die durch die unterwürfige Einhaltung der Vorgaben des Internationalen Währungsfonds und anderer globaler „Entwicklungs“-Agenturen am Boden lag, marginalisiert worden waren. (Anm. S. T.)

[1] Vgl. James C. Scott, Domination and the Arts of Resistance: Hidden Transcripts, London, New Haven 1992.

iv Im Spanischen gibt es zwei Wörter für den Begriff „Macht“: „Poder“ und „Potencia“, die von den lateinischen Wörtern „Potestas“ bzw. „Potentia“ abstammen. Colectivo Situaciones’ Verständnis von Macht basiert auf dieser Unterscheidung, die wiederum auf Spinoza zurückgeht. Während „Potencia“ eine dynamische, konstituierende Dimension besitzt, ist „Poder“ statisch und festgelegt. „Potencia“ bezeichnet unsere Vermögen, etwas zu tun, etwas zu bewirken und selbst beeinflusst zu werden, während der Mechanismus der Repräsentation, der „Poder“ charakterisiert, die „Potencia“ von den Repräsentierten trennt. (Anm. S. T.)

[2] Die Figur des „forschenden Militanten“ taucht das erste Mal auf in dem von Miguel Benasayag und Diego Sztulwark verfassten Buch Política y situación. De la potencia al contrapoder, Buenos Aires: Ediciones de Mano en Mano 2000.

[3] Vgl. besonders Jacotots großartigen Beitrag in dem Buch von Jacques Rancière: The Ignorant Schoolmaster: Five Lessons in Intellectual Emancipation, Stanford/California 1991.
Jacotot ist der Meinung, alle pädagogischen Lehren beruhen darauf, dass jemand von jemand anderem, der intelligenter ist als er, etwas ‚erklärt’ [explicate] wird, und brächten vor allem ‚aufgeklärte’ Kinder [explicated kids] hervor. Im Gegensatz dazu lehren ‚ungebildete Lehrer’ [ignorant schoolmasters], ohne etwas zu ‚erklären‘. Sie können lehren, was sie nicht wissen, weil sie ihre Erfahrungen nach einem grundsätzlich anderen Prinzip organisieren: dem der Gleichheit von Intelligenz. (Anm. S. T.)

v Jede „Situation“ ist Teil eines Systems aus Beziehungen, Netzwerken, Verbindungen, Übermittlungen und Distributionen von Macht. Vgl. Colectivo Situaciones, 19 y 20. Apuntes para el nuevo protagonismo social: Mit „Situation“ ist die Eigenschaft gemeint, Raum und Zeit auszublenden, die „sowohl Voraussetzung als auch Produkt der Entstehung von Sinn und Bedeutung“ sind (S. 19). „Situation bedeutet nicht lokal. Die Situation besteht in der praktischen Affirmation, dass die gesellschaftliche Totalität nicht separat von ihren Teilaspekten existieren kann, sondern jeder Teilaspekt seinen Wert besitzt“ (S. 26). „Die Situation kann man als ‚konkrete Universalität‘ betrachten.“ Wir können „die Universalität nur durch subjektive Verinnerlichung erkennen und in ihr intervenieren. Die Verinnerlichung ermöglicht es uns, die Welt als konkretes Element der Situation zu begreifen. Durch ein anderes Verständnis von der Welt – als etwas, das sich außerhalb der Situation befindet – würden wir zu einer abstrakten Wahrnehmung und zu Handlungsunfähigkeit verdammt werden“ (S. 30f.). (Anm. S. T.)

vi Wörtlich heißt „De mano en mano“ „von Hand zu Hand“. Der Verlag wurde von der Studentengruppe El Mate gegründet, der die Mitglieder von Colectivo Situaciones ursprünglich angehörten. Mate ist ein südamerikanisches Aufgussgetränk, das üblicherweise in einer Gruppe aus einer Schale, die von Hand zu Hand weitergereicht wird, getrunken wird. (Anm. S. T.)

vii Die Autoren verwenden den Begriff „objetualizar“ (objektualisieren) sowohl im Sinne einer „Transformation in einen Forschungsgegenstand“ als auch für den Vorgang, „in ein Objekt verwandelt zu werden“ statt „zum Subjekt zu werden“. (Anm. S. T.)

viii Vgl. Colectivo Situaciones, 19 y 20: Apuntes para el nuevo protagonismo social, S. 100f.: Die Gruppe der „Ausgeschlossenen“ besteht aus Subjekten mit Bedürfnissen, die nicht in der Lage sind, selbst kreativ tätig zu werden, und deren Aktionen immer eine bestimmte apriorische Interpretation zukommt. Das Konzept von Arbeitslosen und Ausgeschlossenen, das aus der Sichtweise der Regierung, der Medien, der NGOs und der meisten Akademiker heraus entsteht, führt dazu, dass die Intensität und die Kraft der Menschen, die durch den Neoliberalismus verarmt sind, abnehmen. Im Gegensatz zu diesem Konzept nennen sich die Arbeitslosenbewegungen selbst „Piqueteros“, eine Subjektivität, die nicht auf die Konfrontationen im Rahmen der Straßenblockaden, auf die sie sich bezieht, beschränkt ist. Vielmehr bezeichnet der Begriff den Kampf für die Würde, der über den Wunsch nach Aufnahme in den Kreis der Lohnarbeiter hinausgeht. (Anm. S. T.)

ix Zu diesen vielschichtigen Praktiken, deren jede eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Colectivo Situaciones gespielt hat, gehört die aktive Teilnahme an Prozessen kollektiver Reflexion, die sich in Gestalt äußerst kreativer Ausdrucksformen von Argentiniens neuem Protagonismus manifestiert: Hierzu zählen die Arbeitslosenbewegung im Bezirk Solano im Großraum Buenos Aires, die Bauernbewegung in der im Norden des Landes gelegenen Provinz Santiago del Estero, die Organisation der Kinder während der Militärdiktatur Verschwundener HIJOS, Creciendo Juntos, eine von militante Lehrern geführte Schule, diverse Nachbarschaftsversammlungen und das mittlerweile aufgelöste Tauschnetzwerk sowie weitere Gruppen, etwa alternative Medien- und Kunst-Kollektive wie die Grupo de Arte Callejero. Zu den Aktivitäten von Colectivo Situaciones gehörte auch die Zusammenarbeit mit Intellektuellen aus Argentinien (unter anderen Horacio González, León Rozitchner und die Herausgeber der Zeitschrift La Escena Contemporánea) und dem Ausland (darunter Antonio Negri, Paolo Virno, Maurizio Lazzarato, John Holloway, die ehemaligen Anführer der legendären MLN-Tupamaros aus Uruguay und mehrere Kollektive wie zum Beispiel DeriveApprodi aus Italien und Precarias a la Deriva aus Spanien). Viele dieser Auseinandersetzungen sind später in Form von Interviews veröffentlicht worden. (Anm. S. T.)

x Zu dieser materialistischen Tradition des Konzepts der Liebe gehören auch die Werke von Spinoza und die Interpretation seiner Philosophie in den Arbeiten von Antonio Negri und Gilles Deleuze. Negri weist darauf hin, dass die Liebe die grenzenlose Fülle und Vielfalt in Spinozas ethischem Materialismus konstituiere (vgl. Antonio Negri, Die wilde Anomalie: Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft [1981], Berlin 1984). Laut Deleuze und Félix Guattari bezeichnen Liebe und Freundschaft das von Immanenz geprägte Verhältnis zwischen dem Philosophen und dem Konzept, das er entwickelt (vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie? [1994], Frankfurt am Main 2000). (Anm. S. T.)

xi Die Kritik von Colectivo Situaciones an der „Artikulation“ ist ausführlich im letzten Kapitel ihres Buches 19 y 20: Apuntes para el nuevo protagonismo social nachzulesen. „Artikulation“ bezeichnet eine Art von Beziehung, die auf Hegemonie beruht und bei der sich die einzelnen Teile eines Netzwerks um ein Zentrum herum gruppieren. Dementsprechend stellt die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk die Norm dar, und die Loslösung geschieht zum Nachteil der anderen Bestandteile. Im Gegensatz dazu lassen auf „Composition“ beruhende Beziehungen unzählige Widerstandsbewegungen entstehen, die dezentrale und ungewöhnliche Netzwerke bilden. (Anm. S. T.)

xii Gemeint sind Forschungs-Notizbücher mit dem Titel Situaciones, die bei De Mano en Mano erschienen sind. Jedes dieser Notizbücher ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse militanter Forschung, die Colectivo Situaciones mit bestimmten basisdemokratischen Bewegungen durchgeführt haben. (Anm. S. T.)

xiii Die Bewegungen, aus denen sich das zusammensetzt, was Colectivo Situaciones als Argentiniens neuen Protagonismus bezeichnet, also die Bewegungen, die sich der militanten Forschung verschrieben haben, zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich dagegen wehren, als direkte Opposition bezeichnet zu werden. Genau wie die Zapatistas lehnen sie die Logik der Konfrontation ab und setzen stattdessen mit Bedacht auf die Schaffung von Erfahrungen, Aktionen und Projekten, die dem Wunsch, das Leben zu verbessern, Ausdruck verleihen. „Zwischen der Macht, die zerstört, und den Aktionen der Gegenmacht besteht im Wesentlichen eine asymmetrische Beziehung“ (Colectivo Situaciones, „El silencio de los caracoles“, www.situaciones.org [http://194.109.209.222/colectivosituaciones/articulos_08.htm], Beitrag vom 17. Oktober 2003). (Anm. S. T.)