10 2000
Vertretung, Darstellung, Vorstellung. Der Kampf der MigrantInnen um Repräsentation
Das größte Problem in den Kämpfen der MigrantInnen war stets die "Erfindung" eines politischen Subjekts, die Repräsentation eines "Wir". In Großbritannien organisierten sich die Minderheiten in den siebziger Jahren unter dem Sammelbegriff "black". Dabei handelte es sich um eine weitgehend defensive Vereinigung in der Auseinandersetzung mit dem Rassismus. Doch im letzten Jahrzehnt wurde die Mobilisierung unter diesem Banner zunehmend schwierig. Zum einen brachen innerhalb dieser Identitätskonstruktion soziale und ethnische Unterschiede auf. Zum anderen nahm die entstehende globale Massenkultur die "schwarzen" kulturellen Widerstandspraktiken als Reservoir von Stiloptionen in sich auf. In den Protesten der MigrantInnen in Frankreich zu Beginn der achtziger Jahre wurde ein ähnlicher Sammelbegriff verwendet: "beur". Auch hier orientierte sich die repräsentative Bezeichnung am rassistischen Fokus der Mehrheit auf eine bestimmte Gruppe von Einwanderern: "Beur" war ein Sprachspiel mit dem Attribut "arabe".
Mitte der achtziger Jahre wurden die Proteste in Frankreich merklich schwächer. Die Differenz im ethnischen Sinne freilich hatte weder in den Forderungen an die französische Gesellschaft noch intern eine wesentliche Rolle gespielt; als Problem erwies sich vielmehr die lokale Heterogenität der beteiligten Gruppen. Die kulturelle Differenz wurde erst von der Regierung Mitterand massiv thematisiert. Mit Hilfe der korporatistischen Organisation "SOS Racisme" gelang es auf diese Weise, die Bewegung zu entpolitisieren. Zudem haben auch in Frankreich die kulturellen Widerstandsmomente der MigrantInnen ihren Weg in die nationale Variante der globalen Massenkultur gefunden - man denke nur an den Erfolg von Musikern wie Rachid Taha oder französischem HipHop.
In Deutschland hat es eine politische Organisierung der MigrantInnen
in Bezug auf ihre Situation im Einwanderungsland bis heute
praktisch überhaupt nicht gegeben. Da die Bundesrepublik
die Einbürgerung relativ strikt verhinderte, blieb den
MigrantInnen nur die Orientierung auf das politische Spektrum
des "Heimatlandes" oder das Ausweichen auf Kulturvereine.
Die Schaffung eines politischen "Wir" in den Kämpfen
der MigrantInnen ist bis heute nicht einmal ansatzweise gelungen
- die Community-Strukturen bleiben weitgehend voneinander
getrennt. Die Ansatzpunkte für die Proteste in Großbritannien
und Frankreich - mangelnde Gleichheit und Rassismus - wurden
in Deutschland von vornherein entschärft, denn die meisten
MigrantInnen gehen noch heute davon aus, dass sie als "Fremde"
notwendig anders behandelt werden. Was bleibt, ist höchstens
der moralische Appell ans Menschsein.
Freilich hat es auch in Deutschland eine Differenzierung innerhalb
der Massenkultur gegeben. Diese hat sich jedoch anders abgespielt:
Die Einbeziehung von "Fremdheit" wurde hier bislang
vornehmlich aus der Retorte produziert. Auf der Ebene öffentlicher
Bilder dominiert ein "rassischer" Exotismus, während
die großen Einwanderergruppen weiterhin deutlich unterrepräsentiert
sind. Allerdings lässt sich trotz der Unterschiede in
allen drei Staaten dennoch ein ähnlicher Prozess beobachten,
wobei dieser Prozess eine doppelte Ausrichtung besitzt: Zum
einen hat sich die politische Artikulation von MigrantInnen
vermindert (oder wurde gleich im Keim erstickt), zum anderen
nehmen die kulturellen Praktiken der "Fremden" in
der öffentlichen Sphäre der Einwanderungsländer
mittlerweile einen prominenten Raum ein. Offenbar haben die
Kämpfe der Einwanderer um angemessene politische Vertretung
in erster Linie zu einer verstärkten Sichtbarkeit auf
dem Feld der Kultur geführt (oder wurden dort vorweggenommen).
Diese Sichtbarkeit mag zwar teilweise interessante Produkte
hervorbringen, doch an den weiter ungerechten Machtverhältnissen
ändert sie überhaupt nichts.
Mittlerweile trägt die Sichtbarkeit der MigrantInnen dazu bei, dass in den Einwanderungsländern ein neues nationales "Wir" repräsentiert werden kann; ein "Wir", das nicht länger als nationalistisch-verschlossen verstanden wird, sondern als offen, tolerant und "vermischt" - also gerüstet für den globalen Wettbewerb. Die Einspeisung der MigrantInnen in die kulturelle Sphäre verlangt dabei von den Beteiligten oft genug ein gehöriges Maß an Selbstexotisierung (sie müssen sich als authentische Stimmen der Differenz gerieren - sei es "ihrer" Kultur, des "Lebens zwischen den Kulturen" oder der "Hybridität", des "Ghettos", etc.). Darüber hinaus werden bestimmte Differenzen aus dieser neuen Repräsentation der metropolitanen Nationen ausgeschlossen. Das zeigen etwa die wiederkehrenden Diskussionen um Kopftücher, die in der Mehrheitsgesellschaft gewöhnlich als gefährliche Symbole kultureller Intoleranz und Frauenfeindlichkeit interpretiert werden.
Angesichts des geschilderten Doppelprozesses ist es sinnvoll, noch einmal einen genaueren Blick auf den Begriff der Repräsentation zu werfen. In den letzten Jahren ist diese Bezeichnung zu einer zentralen Kategorie in der theoretischen Diskussion geworden. In den Cultural Studies werden vor allem die Fremd- und Selbstdarstellungen von MigrantInnen einer Analyse unterzogen oder auf ein möglicherweise subversives Potential abgeklopft. Repräsentation hat jedoch mindestens zwei, eigentlich jedoch drei verschiedene Elemente. Zunächst heißt der Begriff nichts anderes, als dass etwas durch etwas anderes ersetzt wird, das dessen Stelle einnimmt. Der erste Bestandteil von Repräsentation ist daher Vertretung. Die politische Bedeutung von Repräsentation als Vertretung wuchs in der Moderne immer weiter an. Mit der Einführung des Absolutismus begann der Herrscher, das ganze Volk in seiner Person zu vertreten. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts begann dieses Volk schließlich, sich selbst zu vertreten - durch gewählte Abgeordnete im Parlament.
Diese Art der Vertretung zog den zweiten Bestandteil von Repräsentation gleich nach sich: Die Darstellung. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgte auf die Einführung der Volksherrschaft auch gleich ein Prozess der staatlich betriebenen kulturellen Homogenisierung. Die kulturelle Vereinheitlichung der Bevölkerung sollte dabei die Garantie für einen gewissen Konsens bieten. In diesem Prozess ging es um die umfassende Verkörperung des Volkes in einheitlicher Schriftsprache, Traditionen, Medien, Bauten, Fahnen, Münzen usw. Tatsächlich sollten hier Gemeinschaften geschaffen werden, die vorher in dieser Form nicht existierten. Dafür hat Benedict Anderson den Begriff der "imagined community" geprägt.
In dieser Umschreibung versteckt sich das dritte Element von Repräsentation, welches Vertretung und Darstellung umschließt: Die Vorstellung oder, um mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan zu sprechen, das Imaginäre. Lacan verdeutlichte den Begriff vor allem mit dem "Spiegelstadium" des Kleinkindes - mit jenem jubilatorischen Moment, in dem sich das Kind erstmals im Spiegel selbst erkennt. In diesem Augenblick schweißt das Kind seinen heterogenen "zerstückelten Körper" durch die imaginäre Wahrnehmung der eigenen Einheit zu einem Ich im Freudschen Sinne zusammen. Dieser Vorgang läßt sich als Metapher für die Repräsentation der nationalen Gemeinschaft lesen: Tatsächlich funktioniert die Vertretung des Volkes eigentlich nicht; die Bevölkerung bleibt sozial, sexuell und kulturell ein "zerstückelter Körper". Die Mitglieder des Volkes müssen daher stets aufs Neue dazu bewegt werden, sich als Einheit wahrzunehmen. Dies geschieht durch die Produktion eines imaginären Überschusses: Dazu wird ein Spiegel benötigt.
Dieser Spiegel entsteht auf der Ebene der Darstellung. Zum einen intern und positiv: Die "Erfindung" von Traditionen etwa schafft einen reflektierenden Grund zur Wahrnehmung von Einheit. Zum anderen extern und negativ: In der Geschichte Europas haben die Anderen - die "Wilden", die Sklaven, die Kolonisierten, die BewohnerInnen der "Dritten Welt" und auch die MigrantInnen - als Spiegel gedient, in dem sich die Subjekte des Westens spiegelverkehrt erkennen konnten: Weil "sie" wild, grausam, faul, fanatisch, verschlossen, intolerant waren, erschienen "wir" stets als zivilisiert, friedliebend, arbeitsam, demokratisch, offen und tolerant. In Bezug auf die außerwestlichen Anderen funktionierte Repräsentation in erster Linie als Machttechnik. Bereits Kolumbus legte den Mechanismus für diese Technik fest: Er nahm die karibischen Inseln für die spanische Krone in Besitz, indem er den Eingeborenen einen Text auf Spanisch verlas. Ein Kontakt fand nicht statt, Kolumbus suchte das Gespräch mit den realen Anderen nicht. Er bezog die Anderen in die westliche Ordnung ein, doch gleichzeitig schloss er sie aus: Er vertrat sie in einem Text. Dabei begründete dieser Text die Rechtmäßigkeit der Eroberung, also der fortgesetzten Verweigerung des Kontaktes. Dieser Text ist seitdem ein ständig wiederholtes Konvolut der genannten Stereotype: Die Darstellung der Anderen als "primitiv" legitimiert deren Ausschluss - wobei die Bedeutung von "primitiv" und Ausschluß je nach Situation und Zeit sehr unterschiedlich sein kann.
Daß die Anderen dem westlichen Imaginären als
Spiegel dienen, bleibt nicht ohne Einfluss auf das Selbstbild
jener Anderen. Der "objektive Blick" der Weißen,
den Frantz Fanon in "Schwarze Haut, Weiße Masken"
so eindringlich geschildert hat, ist immer Bestandteil der
eigenen Wahrnehmung. Insofern war die Politik von MigrantInnen
wie jede andere antirassistische Politik stets ein extrem
schwieriger Kampf um Repräsentation, in dem sich Vertretung
und Darstellung im Feld des Imaginären auf äußerst
komplizierte Weise mischten. Tatsächlich ist der "Gegner"
der antirassistischen Kämpfe nicht einfach außen,
sondern das scheinbare Gegenüber ist in die Konstruktion
der eigenen Identität verwickelt. Der Rückbezug
auf die ethnische Gemeinschaft bzw. die "Tradition"
hat in den Kämpfen der MigrantInnen nicht umsonst eine
immense Rolle gespielt: Es gibt ein Bedürfnis nach der
Aufwertung des eigenen Hintergrundes, der von der Mehrheit
und dem "objektiven Blick" im eigenen Innern stets
als minderwertig betrachtet wird. Freilich ist diese "Tradition"
ebenso eine "Erfindung" wie das Bild, das jener
"objektive Blick" erzeugt. Und oft genug bleibt
diese "Tradition" von diesem "Blick" stark
abhängig.
Der Kampf der MigrantInnen um Repräsentation ist aber
noch aus einem anderen Grund schwierig. Zum einen hat sich
die globale Massenkultur die kulturellen Praxen der MigrantInnen
als Differenzreservoir einverleibt. Auf der anderen Seite
erscheint die hegemoniale Identitätskonstruktion selbst
mittlerweile als seltsam "leer": Die Identität
der Mehrheit wird heute maßgeblich markiert durch die
Abgrenzung von den undemokratischen Tendenzen, dem Fanatismus
und der Intoleranz bestimmter Teile der MigrantInnen. Spiegelverkehrt
dazu gilt die Kultur der Metropolen heute als ausgesprochen
multikulturell bzw. kulturell differenziert, eben weil MigrantInnen
darin eine sichtbare Präsenz haben. Diese weitere Verwirrung
der Trennlinien bei gleichzeitiger Beibehaltung von Machtungleichgewichten
und Stereotypisierung macht den Kampf um Repräsentation
ungeheuer schwierig. Zudem dient die Sichtbarkeit der MigrantInnen
in der öffentlichen Sphäre oft als Beweis für
ihre "Integration" und wird mit realer Vertretung
verwechselt.
Ein bedeutender Teil der Interventionen von MigrantInnen in
den letzten Jahren drehte sich um die öffentliche Darstellung
- sei es auf der Ebene des symbolischen Widerstandes via Stil
im weitesten Sinne oder auf der theoretischen Ebene von Cultural
Studies, welche diesen Widerstand aufnahm und interpretierte.
Diese Art von Interventionen werden jedoch dadurch immer problematischer,
dass die hegemoniale Kultur diese Darstellungen von Differenz
immer schneller absorbiert. Deswegen sollte in den Kämpfen
der MigrantInnen das Element der politischen Vertretung gegenüber
der Darstellung aufgewertet werden. Dies bedeutet jedoch keine
einfache Rückkehr zu jener Politik der Vertretung, welche
etwa auf einer gemeinsamen Identität als "schwarz"
oder "beur" beruhte. Zwar ist es richtig, eine politische
Fiktion des/r imaginären Gesamtmigranten/in als Ausgangspunkt
zu nehmen (in Deutschland wird dies etwa mit der Bezeichnung
"Kanake" versucht), doch bleibt die Repräsentation
dieser immens heterogene Gruppe immer fragil.
Dieses Problem lässt sich auflösen, wenn die Identität der MigrantInnen konsequent nicht als partikulare Verschiedenheit missverstanden wird, sondern als universelle politische Plattform, deren Ziel zunächst Gleichheit ist. Hito Steyerl spricht in diesem Heft in diesem Sinne von einem Universalismus, der nicht dargestellt werden kann. Tatsächlich ist "der Migrant" ja nicht nur ein reales Wesen, sondern auch ein gesellschaftlicher Skandal. Die Existenz einer Gruppe in der Gesellschaft, welche durch askriptive Merkmale sichtbar gemacht und ausgegrenzt wird, widerspricht den Grundsätzen der modernen Demokratie. Von diesem abstrakten Verhältnis ausgehend, ist die Situation der MigrantInnen universalisierbar: Es gibt kein Problem der MigrantInnen, das nicht auch andere Teile der Bevölkerung betrifft. Die Staatsbürgerschaft etwa ist nicht allein das Problem der Einwanderer, sondern regelt die demokratische Verfaßtheit des gesamten Gemeinwesens. Die Arbeitsbedingungen der MigrantInnen hatten avantgardistische Vorbildfunktion für die heutigen neoliberalen Lockerungen der Arbeitsplatzsicherheit. Die Stereotypisierung ist heute mehr und mehr ein Mittel, um die Benachteiligung der verschiedensten Gruppen zu erklären: "Sie" sind je nachdem zu unflexibel, zu abhängig, zu faul, zu gewalttätig etc. Tatsächlich werden auch soziale Unterschiede innerhalb der einheimischen Bevölkerung zunehmend ethnisiert: So gelten etwa die "Ossis" in Deutschland, überspitzt gesagt, als ein gutmütiger, aber zurückgebliebener Volksstamm.
Freilich ist dies kein Plädoyer gegen eine pragmatische Politik für die Gleichstellung von MigrantInnen. Dies ist auch keineswegs ein Plädoyer gegen Differenz. Dies ist ein Plädoyer für die perspektivische Universalisierung der pragmatischen Ansprüche auf Gleichstellung. Eine Universalisierung, die Differenz nicht verleugnet, sondern erst ermöglicht. Das wäre dann eine Differenz, die nicht ununterbrochen in Ungleichheit verstrickt ist.