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11 2025

Exodus. Paolo Virno und die politische Philosophie der Flucht

Klaus Neundlinger und Gerald Raunig

Am 7. November verstarb der italienische Philosoph Paolo Virno. Wir trauern um einen fern-nahen Freund und veröffentlichen den Aufsatz „Exodus. Paolo Virno und die politische Philosophie der Flucht“, verfasst 2006 als Einleitung zu einer deutschsprachigen Zusammenstellung von Paolo Virnos Texten über den Exodus als politische Figur.[1]

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Exodus ist einer der zentralen und wiederkehrenden Begriffe der politischen Philosophie von Paolo Virno, die der italienische Philosoph seit Beginn der 1980er Jahre zu einem auch über die politische Theorie hinausgehenden theoretischen Gefüge entwickelt. Virnos Schreiben konstituiert nicht nur eine akademische Biographie, sondern auch die eines politischen Aktivisten, der von Beginn an versucht hat, seine theoretische Arbeit mit Fragen der sozialen Bewegungen, der gesellschaftlichen Umbrüche und der Möglichkeit neuer, alternativer sozialer Ordnungen zu verbinden. Der Großteil der theoretischen Arbeiten Paolo Virnos ist noch nicht übersetzt, sodass es noch lange dauern wird, bis eine detaillierte Auseinandersetzung mit seinen Thesen und Ansätzen stattfinden kann.

Bislang ist – auch im spanisch- und im englischsprachigen Raum – wohl die „politische Seite“ seiner Arbeit stärker beachtet worden. Dazu beigetragen hat sicherlich seine Biographie, sein Engagement innerhalb der vielgestaltigen italienischen Linken, deren Ansätze, Debatten, Aktionen und Fragestellungen seit den 1970er Jahren auch immer wieder über Italien hinaus rezipiert und aufgenommen wurden. Virno wurde 1952 geboren und war schon in den frühen 1970er Jahren als junger Mann aktiv in der Gruppe Potere Operaio und in der Autonomia-Bewegung, wofür er drei Jahre, bis zu seinem Freispruch, im Gefängnis verbrachte. Er fiel also jener beispiellosen Repressionswelle zum Opfer, die 1979 und in den darauf folgenden Jahren Tausende politische AktivistInnen und Intellektuelle hinter Gitter brachte. Viele dieser AktivistInnen flohen vor der Verfolgung nach Frankreich, manche nach Deutschland und in andere Länder.

Damit wurde – als Reaktion nicht nur auf den explizit gewalttätigen, bewaffneten Angriff auf den Staat, sondern auch auf die Infragestellung des herrschenden Gesellschaftsmodells und vor allem auf die zersetzende Kritik der Lohnarbeit im Fordismus – eine in sich äußerst heterogene Szene zerschlagen, die über 20 Jahre hindurch gewachsen war und sich ungemein ausdifferenziert hatte. Begonnen hatte diese Entwicklung damit, dass sich in den späten 1950er Jahren eine Reihe von Intellektuellen, die mit ihren Anliegen und Fragestellungen weder in der Kommunistischen Partei noch in den Gewerkschaften Gehör fanden, darüber zu verständigen begannen, dass die Subjektivität in der fortgeschrittenen industrialisierten Produktionsweise eine enorm wichtige Rolle spielte. Allerdings gab es für diese Einsicht, die mit der Zeit auf alle sozialen Bereiche ausgeweitet wurde, kaum theoretische Instrumente innerhalb der marxistischen Tradition.

Es ging also von Anfang an darum, eine Theorie des subjektiven Widerstandes innerhalb des Fabrikregimes, später innerhalb des Schul- und Universitätssystems, innerhalb der patriarchalischen Familie, der kapitalistisch strukturierten Stadt sowie des Systems der kulturellen Produktion zu formulieren. Dieser Widerstand, so lautet die Einsicht, die den so genannten Operaismus (von italienisch operaio, der Arbeiter) begründet, ist keine Reaktion auf kapitalistische Formen der Ausbeutung, sondern das treibende Moment der kapitalistischen Entwicklung selbst. In den Blick geraten dadurch die individuellen und kollektiven Strategien des täglichen Kampfes gegen die Verschleißung durch die Arbeit an den Maschinen, aber auch immer mehr die Frage nach der Konstitution im Sinne der Produktion von rechtlichen, kulturellen, technischen Dispositiven, die durch die Auseinandersetzungen in und außerhalb der Fabrik ständig weiterentwickelt, in Frage gestellt und verfeinert wurden. Die Frage ging also nicht so sehr nach dem objektiven Sinn von Gesetzen, sondern nach dem subjektiven Umgang mit ihnen, sowie nach den Zugangsmöglichkeiten zu kulturellen Aktivitäten, nach dem Einsatz neuer Techniken und Technologien für eigene Zwecke.

Damit waren nicht nur Anknüpfungen an marxistische Theorieströmungen, sondern auch gewisse Affinitäten zu den Arbeiten und Aktivitäten der französischen Philosophie gegeben, wie etwa zum Engagement Félix Guattaris im Bereich der institutionellen oder zur Theorie der Macht im Sinne einer Technologie des Selbst, wie sie von Michel Foucault Ende der 1970er Jahren ausgearbeitet wurde. Die Frage nach dem Status der Subjektivität innerhalb des kapitalistischen Verwertungsprozesses bzw. innerhalb der liberalen, rechtsstaatlichen Demokratien führt letztlich zu dem Problem, ob und vor allem wie es möglich ist, diese Gesellschaftsform zu überwinden und gänzlich neue Formen der Vergesellschaftung des Subjekts zu finden. Es geht, kurz gesagt, um den Ausbruch aus bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und um deren Neufundierung. Im Gegensatz zu seinen prominenteren Kollegen Antonio Negri oder Franco „Bifo“ Berardi unterhielt Paolo Virno in den 1980er Jahren zwar keine persönlichen Beziehungen zu Deleuze und Guattari, auch bezieht er sich nicht explizit auf deren Konzepte oder auf Foucaults benachbarte Theorien etwa zur Biopolitik. Und dennoch, die Resonanzen zwischen den verschiedenen europäischen Strömungen der politischen Philosophie, wie sie das ausgehende 20. Jahrhundert prägten, klingen auch in Virnos zentralen Begrifflichkeiten an und nach.

Der prägnante letzte Satz des ersten Virno-Aufsatzes über den Exodus enthält etwa einen derartigen Anklang, indem er verweist auf die „alte Idee des Fliehens, um dadurch besser angreifen zu können“. Es waren Gilles Deleuze und Félix Guattari, die in den 1970er Jahren den Begriff der Fluchtlinie und – eng damit verbunden – Vorstellungen einer aktiven, einer offensiven, einer konstituierenden bzw. produktiven Flucht entwickelten. In Aufnahme  eines Zitats des Black-Panthers-Aktivisten George Jackson heißt es z.B. in dem Buch Dialoge, das Deleuze zusammen mit Claire Parnet geschrieben hat: „Fliehen, ja, doch im Fliehen nach einer Waffe suchen.“[2] Im selben Buch, das 1977 geschrieben wurde, kommt nicht nur bereits die Kolonisierungs- und Fluchtbewegung der amerikanischen SiedlerInnen in Richtung Westen als geografische Fluchtlinie in der amerikanischen Literatur vor,[3] es finden sich auch Hinweise auf den alttestamentarischen Exodus der Israeliten.[4] All diese Figuren gelangen in Virnos über die Jahrzehnte verstreuten Überlegungen zum Exodus ebenfalls zur Ausführung.

Paolo Virno entwickelt sein eigenes Exodus-Konzept schon sehr früh, und zwar direkt aus den Erfahrungen der Autonomia in den 1970er Jahren. Im September 1981 veröffentlicht er den kurzen Aufsatz „Il gusto dell’abbondanza“[5] („Der Geschmack des Überflusses“), in dem sein Begriff von Exodus schon relativ klar umrissen wird. Ausgehend von einem Bild, das schon Marx als Krise des kapitalistischen Akkumulationsprozesses beschreibt, nämlich der Desertion der ArbeiterInnen aus der Fabrik, versucht sich Virno an einer Interpretation der Schwierigkeiten der Implementierung des Kapitalismus in den USA. Niedrige Kosten für Landbesitz, ein scheinbar unerschöpfliches Reservoir an Land und eine Situation der Überfülle ermöglichten die massenhafte Flucht aus der Arbeit unter den Lohnherren. Der subjektiv begründete Widerstand gegen die kapitalistische Unterwerfung der Arbeit ist, und hier wird die direkte Linie der operaistischen Tradition greifbar, nicht ausschließlich Reaktion auf unhaltbare Zustände, sondern Destabilisierung des gesamten Systems aufgrund der Suche nach Alternativen, aufgrund der Flucht. Die Flucht endet nicht in einer Abwesenheit, in einer nachbesetzbaren Leerstelle, sondern im Szenario einer Auseinandersetzung. Virno zufolge sind der in den 1970er Jahren entstehende Kult der Mobilität, das Begehren, der Eindeutigkeit zu entfliehen, die Desertion aus der Fabrik nichts anderes als Widergänger dieser frühen US-amerikanischen Krise des Kapitalismus: „Der Nomadismus, die individuelle Befreiung, die Desertion, das Gefühl des Überflusses bringen heute den sozialen Konflikt hervor.“ Schon 1981 beschließt Virno seinen Aufsatz über den Exodus folgendermaßen:

„Ungehorsam und Flucht sind jedoch keine negativen Gesten, die uns dem Handeln und der Verantwortlichkeit entheben. Im Gegenteil. Desertieren heißt, die Bedingungen zu verändern, unter denen sich ein Konflikt entfaltet, anstatt sich ihnen zu unterwerfen. Und die positive Herstellung eines günstigen Szenarios bedarf größerer Initiative als der Zusammenstoß mit vorher festgelegten Bedingungen. Ein affirmatives ‚Tun‘ charakterisiert das Abfallen, das der Gegenwart einen sinnlichen und operativen Anstrich einprägt. Der Konflikt beginnt genau da, wo wir etwas im Fliehen herstellen, um soziale Beziehungen und neue Lebensformen zu verteidigen, die wir schon zu erfahren in Begriff sind. Zur alten Idee des Fliehens, um dadurch besser angreifen zu können, kommt die Sicherheit hinzu, dass der Kampf umso wirksamer sein wird, wenn wir etwas zu verlieren haben außer unseren Ketten.“

Neben der Grammatik der Multitude ist der international wahrscheinlich am meisten rezipierte Text Virnos der 1994 in italienischer Sprache erschienene Aufsatz „Virtuosität und Revolution“.[6] Das Verhältnis dieses älteren Textes zum 2001 auf italienisch publizierten Band Grammatik der Multitude ist keineswegs einfach nur die lineare Weiterentwicklung eines Gedankens. Wurden einige längere Textteile auch eins zu eins in den späteren Text übernommen, so finden sich im früheren Text teilweise expliziter politische Formulierungen. Vor allem aber verschiebt sich die Perspektive der Hauptbegriffe stark: Während es im jüngeren Text die von Michael Hardt und Antonio Negri weit verbreitete Figur der Multitude und ihrer Grammatik ist, die im Zentrum der Betrachtungen steht, will der sieben Jahre früher veröffentlichte Aufsatz – wie der Untertitel explizit zum Ausdruck kommen lässt – eine „politische Theorie des Exodus“ entwerfen.

An einigen Stellen, an denen später der Begriff der Multitude erscheinen wird, finden wir in „Virtuosität und Revolution“ jenen der azione politica, der politischen Handlung oder des politischen Handelns. Virno sagt hier, es bedarf „eines Modells des politischen Handelns, das es der Handlung erlaubt, sich gerade daraus zu speisen, was heute ihre Blockade bestimmt“. Was bestimmt aber die Blockade politischen Handelns unter heutigen Arbeits- und Lebensbedingungen? Laut Virno vor allem die Tatsache, dass in der postfordistischen Produktion die Grenzen der Arbeit sowohl in Richtung des politischen Handelns als auch in Richtung der kognitiven Kooperation verschwimmen. In einer Neudefinition von politischer Praxis müsste diese kognitive Kooperation wieder ihren Eigensinn zurückgewinnen und die „eiserne Intimität“ mit der Produktion sprengen. Sie müsste öffentlich werden, anstatt in der Produktion aufzugehen: ein „öffentlicher Intellekt“ in der Nachfolge des Marxschen general intellect und des operaistischen Begriffs der „Massenintellektualität“, als grundlegendes Repertoire einer diffusen Intelligenz, als Partitur, die eine Vielheit verbindet. Diese Öffentlichkeit des Intellekts, die sich gerade außerhalb der postfordistischen Produktion und in Opposition zu ihr entwickelt, soll sich jedoch als nichtstaatliche Öffentlichkeit etablieren, und sie tut dies im Exodus aus dem Gehorsam gegenüber dem Staat.[7]

Die Multitude, die nicht bereit ist, Staat zu werden, soll nach Virno eine auf radikale Weise neue Form der Demokratie hervorbringen. Exodus nennt Virno also in erster Linie das massenweise Abfallen vom Staat, die Allianz von general intellect und politischer Handlung, den Übergang zu einer öffentlichen Sphäre des Intellekts. In dieser Hinsicht ist der Exodus eine Form des offensiven Entzugs: eine Flucht, die immer schon zugleich eine Gründung impliziert. In „Virtuosität und Revolution“, also Mitte der 1990er Jahre, gesellt Virno der politischen Theorie des Exodus noch ein Bündel von Kategorien hinzu, die aus seiner damaligen Sicht helfen würden, der politischen Krise am Ende des 20. Jahrhunderts entgegenzutreten: radikaler Ungehorsam, Unmäßigkeit, Multitude, Sowjet, Exempel, Widerstandsrecht – alles Begriffe, die dann auch bezeichnend wurden für die globale Bewegung, die mangels einer besseren Benennung Antiglobalisierungsbewegung getauft wurde.[8]

Ein weiterer philosophischer Begriff, der immer stärker ins Zentrum von Virnos Denken rückt, taucht bereits in dem oben angeführten Zitat aus dem ersten Exodus-Text auf, nämlich der der Bedingung. Virno fragt in einem fundamental philosophischen Sinn nach den Möglichkeitsbedingungen der politischen Aktion und bezieht sich dabei immer stärker auf sprachphilosophische und anthropologische, ja sogar evolutionstheoretische Positionen. Es geht darum, den Menschen als Bündel von Vermögen zu beschreiben, die sich im Verlauf der Evolutionsgeschichte herausgebildet haben. Dies unterscheidet ihn ganz wesentlich von den französischen Philosophen, aber auch von vielen marxistischen DenkerInnen. Allerdings sind die theoretischen Überlegungen, die Virno zur Sprache und deren Inkarnation, also deren Vergegenständlichung in der „menschlichen Natur“ anstellt,[9] nicht als geschichtslose Verallgemeinerungen misszuverstehen, wie aus einem Text von 2005 über die „Anthropologie und Theorie der Institutionen“ hervorgeht.[10] Und sogar hier, inmitten von Spekulationen über die unheimlichen und Furcht erregenden Aspekte „der menschlichen Natur“, treffen wir ein weiteres Mal auf den Exodus. Wenn wir – so Virno – der befreienden Innovation und der Destruktivität ein und dieselbe Wurzel zugestehen, auf die Erlösung durch Dialektik und Synthese verzichten und das Negative als eine Seite einer grundlegenden Ambivalenz verstehen, dann stellt der Exodus auch „eine Widerlegung der Position Carl Schmitts dar: eine nicht mehr staatlich organisierte Republik unterhält eine äußerst enge und durch nichts verhüllte Beziehung zur angeborenen Destruktivität unserer Art.“ Diese Destruktivität besteht gerade in einer nicht-dialektischen Negativität, die gemäß Virno zugleich – über die performative Wirkung sprachlichen Handelns – auch eine Öffentlichkeit außerhalb des Staatsapparates zu instituieren in der Lage ist.[11]

Die menschliche Natur tritt hier vor allem deshalb ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil sie nichts anderes als Potenzialität ist und diese Potenzialität das wahre Fundament jeglicher gesellschaftlichen Institution bildet. Wer eine Theorie des politischen Handelns und damit der Öffentlichkeit erarbeiten will, muss diese im Vermögen der menschlichen Sprache verankern, und ebenso in unserer Fähigkeit, Sinnesreize und andere Stimuli der Außenwelt aufzunehmen und zu verarbeiten. Darin öffnet Virno auf theoretischer Ebene nicht nur die Saussuresche Sprachanalyse einer politischen Analyse, sondern auch das Bemühen Wittgensteins um eine Fundierung der mit der subjektiven Wahrnehmung und der Möglichkeit des Gefühlsausdrucks verbundenen erkenntnistheoretischen Probleme in der Sprache, was diesen zur Zurückweisung der Möglichkeit einer Privatsprache führte.

Immer beruht menschliches Handeln auf Bedingungen, doch sind diese dadurch bestimmt, dass sie historische Transformationen durchmachen. Das Besondere an unserer Epoche ist, dass sie wie keine geschichtliche Phase vor ihr unsere reine Potenzialität – also unsere Möglichkeit, auf Unvorhergesehenes zu reagieren und unser Verhalten nicht nur zu ändern, sondern auch dessen Regelmäßigkeit zu verstehen und in Frage zu stellen – unmittelbar in den Produktionsprozess einfließen lässt und somit einmal gezogene Grenzen zwischen politischem Handeln und Produzieren aufhebt. Die Bedingungen der Möglichkeit des Handelns sind deshalb nicht mehr die gleichen wie vor der postfordistischen Transformation, als über Jahrhunderte jene Figuren der politischen Theorie vorherrschten, die eine klare Abgrenzung des politischen Handelns von Arbeit und intellektueller Reflexion voraussetzten.

In Motto di spirito e azione innovativa („Witz und innovatives Handeln“)[12] wiederholt sich die theoretische Strategie der Politisierung der sprachlichen Grammatik ein weiteres Mal: Das Buch ist zunächst eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem „Wesen“, der „Struktur“ und der „Logik“ des Witzes, in permanent geführter Korrespondenz zur Frage des Entstehens von Kreativität und innovativer Handlung. Seinen Ausgangspunkt nimmt es von einer sprachphilosophischen Lektüre von Freuds 1905 veröffentlichter Studie über den Witz. Virno nennt dieses Buch den bedeutsamsten Versuch, die verschiedenen Arten des Witzes auf eine gleichsam botanische Weise zu deuten, und er geht selbst nicht viel anders vor, allerdings − hierin wiederum Deleuze und Guattari nicht unähnlich − streng anti-freudianisch.

Der Witz ist mit Virno das Diagramm[13] der innovativen Handlung. In seiner Grammatik spiegeln sich wie in einer Miniatur die makrokosmischen Veränderungen der Lebensformen. In weitläufigen philosophischen Ausführungen vor allem über Aristoteles, Wittgenstein und Carl Schmitt versucht Virno aufzuzeigen, dass uns gerade der Witz vor Augen führe, dass und wie unsere Welt zu verändern sei. Und relativ überraschend kommt er nach diesen Überlegungen unter anderem über die Schwierigkeit, eine Regel anzuwenden, und ihre Beziehung zu Ausnahme und Ausnahmezustand, schließlich auch auf zwei seiner bekannten Figuren aus den früheren Schriften zurück. In Motto di spirito e azione innovativa tauchen diese Figuren zuerst als die zwei grundlegenden Typen des Witzes auf. Die zwei Hauptformen des Witzes sind für Virno der mehrfache, mehrdeutige Gebrauch von Begriffen und Redewendungen und die Verlagerung von Bedeutung. Alle Witze, wie auch alle Unternehmungen von Menschen, ihre Lebensform zu verändern, speisen sich, so Virno, entweder aus der ungewöhnlichen Kombination vorhandener Elemente oder aus einer abrupten Abweichung. Der Witz wird hier zum Mikrokosmos, in dem wir die unerwartete Kombination und die Bedeutungsverlagerung als Grundlage der Veränderung von Lebensformen erfahren. Aber auch auf der makroskopischen Ebene finden wir diese grundlegende Typologie des Witzes wieder, als Innovation und – als Exodus.

Die Ressourcen, die es brauchte, um einen unerwarteten Ausweg aus dem Ägypten der Pharaonen zu öffnen, waren genau dieselben, aus denen sich Witze speisen: Verschiebung, Verlagerung, abrupte Abweichung von der Achse des Diskurses. Auf sprachlicher Ebene heißt diese Strategie, plötzlich das Thema zu wechseln, wenn sich eine Konversation wie auf Schienen bewegt. Im Feld des Politischen aktualisiert sie sich als kollektives Abfallen, als Exodus. Konfrontiert mit der Frage, ob sie sich dem Pharao unterwerfen oder offen gegen seine Herrschaft rebellieren sollten, erfinden die Israeliten eine Möglichkeit, mit der vorher niemand gerechnet hatte: sie fliehen. Der Exodus verwandelt den Zusammenhang, in dem ein Problem aufgetaucht ist, anstatt das Problem über eine Entscheidung zwischen vorgegebenen Alternativen zu behandeln. Er eröffnet, so heißt es in Motto di spirito e azione innovativa, eine Seitenstraße, die noch nicht auf den politischen Karten verzeichnet ist, um genau jene Grammatik zu verändern, die die Auswahl aller denkbaren Wahlmöglichkeiten bestimmt:

„Exodus ist die Übertragung der heuristischen Prozedur, die die Mathematiker als Datenvariation bezeichnen, auf die politische Praxis: Indem wir sekundären oder heterogenen Faktoren Vorrang geben, bewegen wir uns schrittweise weg von einem bestimmten Problem, nämlich der Frage: Unterwerfung oder Aufstand?, zu einem ganz anderen Problem: Wie können wir eine Bewegung des Abfallens verwirklichen und zugleich Formen der Selbstorganisation erproben, die zuvor unvorstellbar waren?“[14]

 

 

[1] Paolo Virno, Exodus, herausgegeben und aus dem Italienischen von Klaus Neundlinger und Gerald Raunig, Wien: Turia+Kant 2006.

[2] Gilles Deleuze / Claire Parnet, Dialoge, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980 [1977], S. 147. Vgl. auch die entsprechenden Stellen in Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus, übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 1992 [1980], etwa S. 279.

[3] Deleuze / Parnet, Dialoge, S. 45.

[4] Ebd., S. 49.

[5] Wiederveröffentlicht unter dem geänderten Titel „Dell’Esodo“ im Sammelband: Paolo Virno, Esercizi di esodo. Linguaggio e azione politica, Verona: ombre corte 2002.

[6] “Virtuosismo e rivoluzione”, in: Mondanità. L’idea de “mondo” tra esperienza sensibile e sfera pubblica, Rom: manifestolibri 1994, S. 87-119.

[9] Vgl. Paolo Virno, Quando il verbo si fa carne. Linguaggio e natura umana, Turin: Bollati Boinghieri 2003.

[10] https://transversal.at/transversal/0407/virno/de. Dieser Text stellt einen Ausschnitt aus einem längeren Aufsatz dar: Paolo Virno, “Il cosiddetto ‘male’ e la critica dello Stato”, in: L’animale pericoloso: natura umana e istituzioni politiche (Forme di vita 4/2005), Rom: DeriveApprodi 2005, S. 9-36.

[11] Virno, Quando il verbo si fa carne, S. 33-74; ders: Parole con parole. Limiti e poteri del linguaggio, Rom: Donzelli 1995; ders.: “Il significato logico del regresso all’infinito”, in: Rossella Bonito Oliva et al. (Hg.) Paura e immaginazione, Milano: Mimesis 2007, S. 231-250. 

[12] Paolo Virno, Motto di spirito e azione innovativa. Per una logica del cambiamento, Torino: Bollati Boringhieri 2005. Die deutsche Übersetzung des Vorworts findet sich unter dem Titel “Witz und innovatives Handeln” in der Ausgabe “creativity hypes” des eipcp-webjournals transversal: https://transversal.at/transversal/0207/virno/de.

[13] Zum Begriff des Diagrammes vgl. auch Paolo Virno, “Diagrammi storico-naturali. Movimento new global e invariante biologico”, in: La natura umana (Forme di vita 1/2004), Rom: DeriveApprodi 2004, S. 104-113.

[14] Virno, Motto di spirito e azione innovativa, S. 79 (Übers. K.N./G.R.).