Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

09 2015

Jay-Walker. Wie es dazu kam, dass Jay-Walking mit dem Tode bestraft wird

Stefano Harney

Aus dem Englischen von Nina Bandi und Gerald Raunig

languages

Dieser Text wurde zum ersten Mal im Dezember 2014 an der Wiener Akademie der Bildenden Künste vorgetragen. Er basiert auf Anmerkungen für meine Zusammenarbeit mit Fred Moten. In den darauf folgenden Gesprächen entwickelten Fred und ich zwei weitere Texte: „Mikey the Rebelator“, veröffentlicht im Performance Research Journal und „Michael Brown“, veröffentlicht in Boundary 2.  Ich möchte Anette Baldauf danken, die mir die Möglichkeit gab, diese Überlegungen in Form eines Vortrags zu formulieren, und Gerald Raunig dafür, dass er mich ermunterte, meine Notizen in der vorliegenden Form in Kamion 1 zu veröffentlichen.


Wie kam es, dass Jay-Walking mit dem Tode bestraft wird? Aus Jay-Walking eine Straftat zu machen, war ein Aspekt des Übergangs vom kolonialen Kapitalismus zum Industriekapitalismus in den USA. Ein Jay war jemand vom Land, der in der Mitte der Straße ging, ein Ort, der allerdings rasch dem aufkommenden Automobilverkehr vorbehalten wurde. Es gab eine öffentliche Kampagne, um die Leute davon abzuhalten, auf den Straßen zu gehen und so diesen Verkehrsstrom, dieses Fließband der Autos aufzuhalten. Als aber Michael Brown am 9. August 2014 in Ferguson, Missouri wegen Jay-Walking niedergeschossen wurde, änderte sich etwas. Natürlich wurde auch sehr schnell darauf hingewiesen, dass sich nichts geändert hatte. Unabhängig voneinander können diese beiden Aussagen jedoch nicht verstanden werden. Denn das, was sich geändert hatte, machte das, was sich nicht geändert hatte, umso unveränderlicher. Ich werde im Folgenden zu erklären versuchen, was ich damit meine. Aber ich beginne einfach mit dieser Behauptung. Der heutige logistische Kapitalismus verlangt nach einem nie dagewesenen, verallgemeinerten Zugriff auf uns. Dieser unbegrenzte Zugriff hat jedoch eine Geschichte sowohl unter jenen, die ihm am meisten unterworfen, als auch unter jenen, die am meisten von ihm befreit waren. Ich spreche vom Urmoment der Logistik im Kapitalismus, vom Sklavenhandel und seiner grausamen Fracht. Ich spreche aber auch von einer Geschichte, in der der Zugriff nicht nur verweigert, sondern sabotiert und sogar befreit wurde. Michael Browns Jay-Walking war ein Akt der Sabotage, und in der Protestbewegung von Ferguson sehen wir die Befreiung des Zugriffs einmal mehr am Werk, in den Jay-Walking-Fußstapfen der Black Radical Tradition. In einem berühmten Ausspruch sagte Cedric Robinson, dass die Black Radical Tradition die Kritik der westlichen Zivilisation sei. Hier möchte ich sie übertragen als die Kritik der westlichen Idee und Praxis des Zugriffs auf andere. Wie Denise Ferreira da Silva zeigt, verlangt diese Idee und Praxis zunächst nach der Verweigerung des Zugriffs anderer auf sich selbst, und erst dann nach der Herausbildung des Zugriffsrecht auf andere – im Besonderen auf das, was Hortense Spillers als unbestimmtes Fleisch der anderen bezeichnet.

Falls meine Rede metaphorisch oder romantisch klingt, oder nach einem Optimismus des Willens: Ja, das ist sie, aber sie ist auch sehr materiell – in der Tat materieller als alle deplatzierten Aufrufe, „Rasse“ und Klasse zu verbinden (denn sie werden im Gegenteil nie getrennt sein). Genauer noch möchte ich sagen, dass Michael Browns Sabotage auf eine symbolische Art materiell war. Und um das zu verstehen, müssen wir auf die Entwicklungslinien des logistischen Kapitalismus zurückkommen und auf die Gründe, wieso die Verweigerung des Zugriffs und das Streben nach anderen Formen der Bewegung (wieder) in direkten Konflikt mit dieser Form des Kapitalismus gerät.

Wir werden zum verborgenen Reich des Operations Management in den 1960er und 70er Jahren vorstoßen müssen, als der industrielle Kapitalismus begann, zu dem zu werden, als was wir ihn damals noch nicht erkennen konnten. Je nach Kontext bezeichnen wir ihn als postmodernen oder postindustriellen Kapitalismus, als Globalisierung oder als kognitiven Kapitalismus. Nun sehen wir aber, dass eine mögliche Bezeichnung auch die des logistischen Kapitalismus ist. Indem wir ihn so nennen, gelingt es uns auch zu erklären, wie die lange grausame Geschichte von staatlicher und außerstaatlicher Gewalt gegen jene, die am meisten dieses psychotische Verlangen nach Zugriff verkörpern, in eine neue Phase der Intensität eingetreten ist. Das psychotische Verlangen nach immer mehr Zugriff war nie weg, es findet jetzt aber zu neuem Leben, einem neuen Leben, das es aussaugen kann, in der unwahrscheinlichen, verborgenen Stätte des Operation Managements.


Verborgene Stätte

In den 1970er Jahren geschehen zwei Dinge in Bezug auf das Operations Management. Das erste ist Kaizen, das zweite die Logistik. In den 1970ern war die japanische Praxis der ständigen Optimierung, Kaizen, im Operations Management äußerst einflussreich geworden wie auch in den Managementpraktiken, die ihrerseits vom Operations Management beeinflusst wurden. Mit Kaizen verschob sich der Blick des Managements weg von den Arbeiter_innen und Maschinen hin zum Fließband. Das Fließband war nicht mehr Mittel zur Fügung der Arbeiter_innen und der Maschinen, sondern die Arbeiter_innen und Maschinen waren da, um das Fließband zu organisieren, das zum Selbstzweck wurde.

Wie es Deborah Cowen in ihrem großartigen Buch The Deadly Life of Logistics richtig beschreibt, ist das auch die Zeit, in der das Operations Management die Logistik zum ersten Mal zur Kenntnis nimmt. Das Resultat davon wird ein neues Verständnis davon sein, wie das Fließband gefügt ist, und in der Folge und in Verbindung mit Kaizen, wie es durch die Gesellschaft auseinandergenommen und wieder zusammengefügt werden kann, auf der Suche nach ständiger Optimierung durch die immer größere Nachfrage nach Zugriff. Wenn ich sage, dass das Operations Management die Logistik zur Kenntnis nimmt, meine ich, dass sich das Operations Management bisher darauf beschränkt hatte, was es innerhalb der Fabrikmauern überblicken konnte. Seine Aufmerksamkeit begann am Eingangsportal und endete am Ausgangstor. Seit aber Arbeiter_innen auf die Fabrik (und Bewegungen auf den Staat) Druck ausüben, begann sich das Operations Management dem Problem anzunehmen, die Versorgung am einen Ende und die Verkäufe am anderen zu gewährleisten. Und es begann, diese Probleme als Produktionsprobleme zu betrachten, als Erweiterungen des Fließbands über die Fabriktore hinaus, als durchgängige Optimierung einer durchgehenden Linie. Obgleich auch das wieder auf eine symbolische Weise materiell wäre, könnte man sagen: Das Operations Management folgte den Arbeiter_innen bei ihrem Exodus aus der Fabrik.

Als man begann, alles Material, das in die Fabrik kam, als Teil der Kalkulation der Produktion zu sehen, und nicht nur als Kosten zu Beginn der Produktion, und umso mehr mit dem aufkommenden Glauben, dass diese Kalkulation selbst dem Prinzip von Kaizen unterworfen werden kann, führte das Operations Management, mehr als alle anderen kapitalistischen Wissenschaften, zur Entstehung der sozialen Fabrik. Aber dies erlaubt uns auch, die soziale Fabrik von einem anderen Winkel aus zu betrachten. Dafür müssen wir noch etwas länger beim Operations Management verweilen. Wir werden sehen, dass es auch am Ursprung von all dem steht, von der Private Equity Firma über die Derivate bis – und dies ist am wichtigsten – zur Figur des Beraters, auf die ich später nochmals zurückkommen werde.

Mit der Verlagerung der Aufmerksamkeit von den Arbeiter_innen und den Maschinen zur Fertigungslinie selbst verändert sich die Art und Weise, wie das Management über Wert spricht. Das Management sieht das Fließband nicht mehr als statischen Kostenfaktor an – während die Verbindung von Menschen und Maschinen den Mehrwert durch den relativen Zuwachs an Produktivität generiert. Es ist umgekehrt das Fließband, das dynamisch ist. Es ist der Prozess, in dem Wert geschöpft werden muss, und insbesondere im Potenzial der Fertigungslinie. Mit diesem Potenzial entsteht auch die Spekulation (die anderen Obsessionen des Managements verschwinden natürlich nicht gänzlich mit dem Auftauchen einer neuen Obsession. In der Tat könnten wir auch eine spekulative Verschiebung im Übergang vom Personalmanagement zum Human Ressource Management und von der statischen Buchhaltung zu dynamischen Formen der Buchführung in der andauernden Aufmerksamkeit gegenüber Arbeiter_innen und Maschinen sehen – in diesen beiden sich verändernden Feldern wird Spekulation, oder die Zukunft in der Jetztzeit, zum Objekt der Analyse.). Diese Spekulation mit der Produktionslinie wird durch die Einbeziehung der Logistik und durch Fortschritte bei den Algorithmen enorm verstärkt.

Das Management begann bald nicht nur in der Fabrik in der Optimierung der Fertigungslinie Wert zu schöpfen, sondern darüber hinaus in allen Aspekten der Versorgung, der Verteilung und des Konsums außerhalb der Fabriktore. Und der beste Weg dahin war die wachsende Leistungsfähigkeit von Algorithmen zu nutzen, erstens durch die Implementierung einer Reihe von internen Management-Systemen, und dann durch die Verbindung unterschiedlicher Algorithmen: zunächst die aus der Logistik, dem Transport und der Lagerung, und dann auch die aus dem Konsum – jene aus den Kundenbeziehungen und dann auch die, welche eines Tages zu Big Data werden würden. Dies kulminiert in Unternehmen wie SAP und 4G-Logistikfirmen, wo sich die Firma im Kern aufgelöst hat und weniger in die Finanz als in die Fertigungslinie aufgegangen ist. Die Idee, dass es immer eine bessere Möglichkeit geben würde, die Fertigungslinie anzuordnen, den Prozessfluss auszugleichen, den Prozess kontinuierlich zu optimieren, erhält eine enorme Stärkung durch den Algorithmus. Ein Grund dafür ist, dass der Algorithmus diese Aufgabe – die kontinuierliche Selbstoptimierung – zumindest teilweise selber durchführt, insbesondere im Fall von sogenannten genetischen und evolutionären Algorithmen. Der Algorithmus vermittelt den Eindruck, nie mit sich selbst zufrieden zu sein, und er scheint sich andauernd zu optimieren. In der Tat hat er kein anderes Ziel als dieses, und er treibt die Fantasie voran, dass das Fließband ebenso sein eigener Zweck sein soll – wer daran arbeitet und wie es mechanisiert oder computerisiert ist und sogar was es herstellt, das ist alles sekundär im Vergleich mit seinem eigenen Effizienz-Ziel. Und diese Idee eines Fließbands, das aus sich selbst heraus immer leistungsfähiger werden kann und dadurch immer mehr Wert produziert, bringt eine Spekulation mit dem Fließband hervor. Um dies zu illustrieren, müssen wir nur an die Führungspersonen denken, die sich von Institution zu Institution, von Firma zu Firma bewegen. Sie mögen nichts wissen über die Menschen oder die Maschinen, die an diesen Stätten wirken. Aber das ist egal. Sie wissen, wie sie das Fließband an diesen Orten immer effizienter machen können. Das ist ihre einzig notwendige Qualifikation. Auf der Ebene der Firma ist es Private Equity, das vorgibt, dies zu tun. Sie müssen nichts wissen über das Produkt der Unternehmen, die sie kaufen. Ja, sie verkaufen sich sogar genau aufgrund dieser Indifferenz gegenüber dem Produkt. Sie wissen, wie sie neuen Wert aus dem Fließband heraus generieren können. Ich füge auch gleich hinzu, dass wir zwar wissen, dass dies nicht die ganze Geschichte ist, dass die diesbezügliche Verleugnung in der Businesswelt jedoch fast allumfassend ist. Das meine ich, wenn ich sage, es gibt eine Spekulation mit dem Fließband – eine Wette, ein Investment, dass dieses Band immer schneller fließen kann, immer genauer, immer kreativer, immer mehr, unabhängig von Produkt oder Ziel.


Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang

Aber was für das Kapital eine neue Welt der Spekulation eröffnet, ist ein neuer Albtraum der Dekonstruktion für die Arbeit. Ich verwende den Begriff Dekonstruktion hier mit seiner philosophischen Konnotation. Derrida mag vergeben werden, dass er das Operations Management nicht interpretiert hat, aber sein Nicht-zu-Ende-Denken hat eine Parallele genau an dem Punkt in der Geschichte, nämlich im Nicht-zu-Ende-Kommen der Arbeit, des Arbeitsprozesses selbst. Es wurde zwar bemerkt, dass das Nicht-zu-Ende-Kommen die Eigenschaft der neuen, immateriellen Waren sei, jedoch beschreibt dies nur die Oberfläche der Dinge. Die Klassenmacht, die das Kapital im logistischen Kapitalismus entwickelt, kommt nicht oder nicht nur von der nicht zu Ende gekommenen Ware, sondern von der nicht zu Ende kommenden Arbeit, die ihren Abschluss verhindert und sie mit Unvollständigkeit heimsucht, ja sogar mit dem Gedanken eines Wertüberschusses, der in jedem Moment des Arbeitens noch eingefangen werden muss, in jeder Fertigung der Linie. Nicht nur Derrida, sondern auch Bataille. Oder Bataille durch Derrida: Die begrenzte Ökonomie der Fabrik trifft auf die verallgemeinerte Ökonomie der algorithmischen Gesellschaft. Die Arbeit wird durch ihr Potenzial an Überschuss zerlegt, welches für das Management, auch wenn es in der Kreativitätsrhetorik verkleidet daherkommt, faktisch ein äußerst materielles Mittel ist, um immer mehr Zugriff zu verlangen, ohne je einer Schließung oder Begrenzung des Arbeitsvertrages zuzustimmen. Für das Management gibt es nun immer das Potenzial, immer die Metrik, auf mehr zuzugreifen, um mehr quantifizieren zu können. Um es klar zu sagen: Das ist die Bedeutung von allem, vom Nullstunden-Vertrag für Kaffee-Baristas über die Deregulierung von Kaffeemärkten für Kaffeebohnensortierer und die Mikro-Arbeitsaufteilung des mechanical turk bei Amazon bis zur privaten temporären Butler-‘App’ mit dem Namen Alfred. Es stimmt, weder hört Arbeit je auf, noch kommt sie ihrer Mythologie nach, wie es Peter Fleming richtigerweise in seinem neuen Buch dargelegt hat. Aber sie hört nie auf, weil sie nie ans Ende gekommen ist. Oder genauer weil das Fließband, und dadurch der Arbeitsprozess, nie abgeschlossen ist. In der Tat ist der Arbeitsprozess in aktiver Weise nicht ans Ende gekommen. Und nicht nur muss dieser Prozess konstant zerlegt werden, sondern er muss auch kontinuierlich wieder zusammengefügt werden. Wir müssen uns kollektiv fügen, um die Produktionslinie in der sozialen Fabrik zu fügen.

Wir müssen uns kollektiv fügen, um die Fertigungslinie zu fügen, weil der Arbeitsprozess formell nicht mehr in der Verantwortung des Managements liegt (falls es informell je so war). Die Verantwortung liegt bei den über die soziale Fabrik zerstreuten Arbeiter_innen. Und was bedeutet diese Verantwortung? Welche Form nimmt sie an? Verknüpfung, Flexibilität, Verfügbarkeit, Umstrukturierung auf Abruf, Übersetzbarkeit, kurz, Zugriff, radikaler Zugriff auf die Arbeit. Aber nicht nur auf die Arbeit, es bedeutet den vollen und uneingeschränkten Zugriff auf die Erde, auf all ihre organische und anorganische Materie, und auch auf das Kapital, jedoch normalerweise in der Form von Schulden. Und daher sagen wir besser und vor dem Hintergrund von Randy Martins bahnbrechender Arbeit: Es bedeutet den Zugriff auf die Finanzialisierung, das heißt, eine radikale Offenheit, finanzialisiert zu werden.


Der Berater

Es gibt natürlich Widerstand gegen diese Logik, wie es auch eine andere, selbstbestimmte Logik und Logistikalität in den Undercommons gibt. Aber diese Logik des nicht zu Ende kommenden Arbeitsprozesses und des Verlangens, uns zu fügen, hat einen mächtigen Träger. Diesen Träger der Logik des logistischen Kapitalismus werde ich den Berater1 nennen. Ich meine mit dieser Bezeichnung nicht spezifisch jene, welche sich selbst Berater_innen nennen. Genauso wenig meine ich damit den Akt, Beratung anzubieten und beratende Dokumente zu produzieren. Ich meine all jene, die den Virus des Arbeits-Algorithmus in sich tragen und verbreiten. Um vom Berater sprechen zu können, muss ich kurz auf die davorliegenden Figuren zurückgreifen, deren Erbe er ebenso ist wie auch ein angsteinflößender Vorreiter des (extra)legalisierten Diebstahls und der Gewalt.

Primitive Akkumulation, oder – wie ich vorziehe es zu nennen – Sklav_innen- und Kolonialkapitalismus ist durch das Aufkommen nicht des Zugriffs charakterisiert – Menschen leiden unter solcher Nachfrage, seit die Geschichte der Welt eine Geschichte des Klassenkampfes ist –, sondern durch diese radikale, unaufhörliche, psychotische Forderung nach dem Zugriff. Wenn man so will, könnte man etwas verkürzt sagen, dass dies auch die Differenz zwischen traditionellen Praktiken der Sklaverei, einschließlich derjenigen in Teilen Afrikas, und der ersten großen grauenhaften Logistik, des Afrikanischen Sklavenhandels ist. Totale Gewalt begleitete die irrsinnige Forderung nach totalem Zugriff auf das Fleisch der Afrikaner_innen, nach Arbeit und Sex. Angekündigt oder begleitet von einer ähnlichen Nachfrage nach aboriginalen Bevölkerungen und gefolgt von Varianten von Zwangsarbeit und migrantischer Sklaverei bis zum heutigen Tag. Das ist der Kern der primitiven Akkumulation. Der Träger dieser wahnsinnigen Forderung nach Zugriff war der Siedler/Kolonist. Doch der Kolonist stellte sich natürlich nicht als Träger dieser Beziehung vor, sondern unverhohlen als Träger von Eigentum und „Rasse“.

Mit dem Aufstieg des industriellen Kapitalismus – der Kolonist verschwindet nicht, auch wenn er manchmal zum Jay wird, oder zur Tochter des Bauers, wie wir an der Figur des Handelsreisenden sehen werden – bekommen wir eine neue Herrschaftsfigur, den Bürger. Vom Bürger kann man sagen, dass er das nationalistische Heteropatriarchat als kapitalistisches Gesellschaftsverhältnis hervorbringt. In anderen Worten sind die Klassenverhältnisse unterschiedlich ausgebildet, auch wenn beide Kapitalismen und beide Träger überlappen und auf unterschiedliche Art und Weise fortbestehen. Es ist diese Abstammungslinie, der ich die Hervorbringung des Beraters zuordne. Der Berater trägt das uneingeschränkte, irrsinnige Verlangen nach absolutem Zugriff in sich, und dies tut er, indem er den Algorithmus bei sich aufnimmt. Aus diesem Grund begegnen sowohl dem Nationalismus als auch dem Eigentum neue Antagonismen mit dem Berater, da sie auf der Beschränkung des Zugriffs basieren. (Und in der Tat können wir sagen, dass es gewisse Veränderungen im exklusiven heteromännlichen Privileg gibt, auch wenn diese, wie in den Fällen von Eigentum und Nation, von einer gewalttätigen Reaktion auf jeglichen neuen Zugriff begleitet werden, einen Zugriff, der in jedem Fall selbst eine Form von Gewalt darstellt, wie wir uns in Erinnerung rufen sollten.)

Der Berater ist gekennzeichnet durch einen doppelten Charakter, ähnlich wie die vorgängigen und immer noch wirksamen Figuren des Kolonisten/Siedlers und des Bürgers. Der Berater glaubt, er sei ein algorithmischer Agent, der aktiv Menschen, Firmen, Institutionen und sogar Länder umstrukturiert. Aber der Berater ist auch ein Problem für den Algorithmus, ein Hindernis für diese Umstrukturierung, obwohl sich der Berater dessen nicht bewusst ist, und sich als ein revolutionärer Agent versteht. Davon ist er allerdings weit entfernt. Wir können seinen doppelten Charakter erkennen, wenn wir die Herkunft des Beraters beim Handelsreisenden verorten. Der Handelsreisende wird wörtlich genommen zum Problem – zum ‘Handlungsreisenden-Problem’ in der kapitalistischen Wissenschaft der Logistik. Dieses Problem ist gut bekannt. Es handelt sich um die Frage, wie ein Handlungsreisender zu bewegen ist, oder ein Tanklastwagen, irgendetwas eben, das auf einer möglichst effizienten Route bewegt werden soll. Aber noch wichtiger ist die Frage, wie dies auf eine Weise geschieht, die Veränderungen in der Bedeutung davon vorwegnehmen kann, was am effizientesten ist. Anders gesagt ist es die Suche nach einem Algorithmus, der die kontinuierliche Optimierung verkörpert. Nun ist der Punkt aber, dass der Geschäftsmann zu menschlichen Fehlern neigt und an menschliche Zeit gebunden ist, so wie der Lastwagenfahrer auch. Dasselbe gilt für den Berater. Letzten Endes sind sie dem Algorithmus im Weg, und keineswegs sein Träger. Das ist der Grund dafür, dass es nicht darauf ankommt, was ein Berater tut oder sagt (so wie es alle bestätigen können, die schon einmal einem zugehört haben). Der Berater ist ein Modellversuch, ein Experiment nicht in der Bewegung und Auslieferung von Gütern, sondern in der Bewegung und Dekonstruktion des Arbeitsprozesses. Der Berater ist wie ein Agent, der es gewohnt ist, etwas anderes aufzulösen, in diesem Falle eine existierende Fertigungslinie, und der dann letztendlich sich selbst auflösen sollte, sobald diese Aufgabe erledigt ist. Das ist der Grund, wieso der Berater ohne sich dessen bewusst zu sein, ein Problem darstellt, eine Lösung, aber nur in diesem spezifischen, chemischen Sinne.

Natürlich hat der Berater, wie der Siedler und der Bürger auch, ein ‘Back-up’. Das, was Fred Moten und ich an einem anderen Ort Politik, Politik-Machen, Politik-Implementieren, Politik-Anschaffen genannt haben, das ist die Waffe der Wahl, wenn der Berater auf Widerstand stößt, wenn der Berater Planungen wittert in den Undercommons, eine andere Form des Zugriffs, eine andere Art des Fügens. Der Berater und seine Politik-Macher, seine Version von Night Riders erinnert uns daran, wieso Nahum Chandler Recht hat, wenn er auf die andauernde Bedeutung von Du Bois’ Begriff des demokratischen Despotismus pocht. Der Liberalismus hat nie den Staat von der Ökonomie getrennt, außer in der Ideologie, und genauso steht es um den Neoliberalismus. Diese beiden Figuren des Beraters und des Politik-Anschaffers sind im logistischen Kapitalismus nie inniger verbunden, als wenn sie nach Zugriff verlangen.


Hands up

Aber diese irrsinnige Forderung lässt wieder die primitive Akkumulation und ihr spezifisches, wenn auch ebenso psychotisches Verlangen nach Zugriff auf undifferenziertes Fleisch und Land in den Kolonien hervortreten. Damit kommt die Figur des Sklaven, die nie verschwand, zurück mit erneuerter Kraft der Unverfügbarkeit, die nichts anderes ist als radikale Verfügbarkeit für andere. Dies führt dazu, dass alle Träger_innen der Figur des Sklaven und der damit verbundenen Geschichten des totalen Zugangs, also alle zwangsarbeitenden, migrantischen, weiblichen, queeren Figuren als eine direkte Bedrohung der Produktionslinie erscheinen, über die Fertigungslinie der sozialen Fabrik zerstreute Saboteur_innen. Logistischer Kapitalismus geht einher mit einer Staatsform, die nach derselben Form des unmittelbaren Zugriffs verlangt. Sie stellt dich aber nicht zur Rede und macht damit aus dir einen Bürger. Sie fragt nur nach deiner ID, falls sie überhaupt nach irgendetwas fragt, bevor sie mit ihrer Gewalt ihren Zugriff auf dein Leben demonstriert.

Eine Form des absoluten Zugriffs zu erlauben, gegen und vor diesen gewalttätigen Forderungen nach Zugriff durch den logistischen Kapitalismus und seine psychotischen Vertreter, als radikal verfügbar, affiziert zu leben, wie Denise Ferreira da Silva es bezeichnen würde, das heißt, die andauernde Praxis auszuüben, ja zu erhellen, die Fred Moten und ich Haptizität nennen. Ein offenes Gefühl, als fühlend gefühlt zu sein. Sie konnten seine erhobenen Hände nicht sehen, aber sie waren erhoben, nur nicht zu ihnen, sondern zu uns. Sie hielten uns auf, diese hoch erhobenen Hände. Für sie sah es aus wie ein Dämon, zu viele Augen, zu viele Zungen, zu viele Hände. Aber für uns sieht es schön aus.

 

 

1 Anm. d. Ü.: Wir differenzieren die Figuren des Beraters, des Siedlers/Kolonisten und des Bürgers in der Übersetzung gendermässig nicht aus und verwenden bewusst die männliche Form, weil sie abstrakte Figuren eines jeweils anders verfassten heteronormativen und patriarchalen Kontextes darstellen.