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01 2019

Für eine neue politische Ökosophie

Gerald Raunig

« Il apparaît nécessaire que les composantes vivantes qui existent au sein de chacun de ces mouvements s’organisent entre elles et en liaison avec le mouvement associatif afin de préparer une recomposition d’ensemble du mouvement d’écologie politique. Ce futur mouvement devrait être pluraliste et profondément implanté dans la société à partir de collectifs de base et de collectifs sectoriels. […] Ce n’est qu’à la condition de catalyser un ‘passage à l’acte’ collectif dans tous ces domaines pratiques que les idées écologistes pourront devenir autre chose qu’une mode superficielle dans l’opinion. Il s’agit, en effet, d’œuvrer à l’émergence d’une nouvelle démocratie écologique, synonyme d’intelligence, de solidarité, de concertation et d’éthique de la responsabilité. » (Félix Guattari, „Vers une nouvelle démocratie écologique“, 1992)

 

Mit zunehmender Enttäuschung über die sozialdemokratische Politik François Mitterands in der ersten Hälfte der 1980er Jahre und trotz seiner Freundschaft mit dessen Kulturminister Jack Lang wird Félix Guattari 1985 Mitglied der französischen Grünen. Bis zu seinem Herztod im August1992 spielt er eine gewisse Rolle in den umweltpolitischen Diskursen in Frankreich und versucht, nicht einfach die verschiedenen Flügel zu einen, sondern die grüne Bewegung als vielstimmig und dissensuell zu etablieren. Inmitten dieses Engagements für eine multiple politische Ökologie entsteht Ende der 1980er Jahre ein Essay, den Guattari eigentlich als Teil seines komplexesten Buchs Cartographies schizoanalytiques[1] vorgesehen hatte. Sein Herausgeber Paul Virilio überzeugt ihn, den Text eigenständig zu veröffentlichen, und Die drei Ökologien werden 1989 zu einem kleinen Verlagserfolg.

Les Trois Écologies sind Guattaris politisches Manifest am Ende eines Jahrzehnts, das er selbst als „Winterjahre“ bezeichnet.[2] Seine Deutung dieser Jahre trägt in Vielem Züge unserer Gegenwart. Nicht nur der Geist von Donald Trump spukt schon durch Guattaris Text, hier als zynischer Akteur der Spekulation, Gentrifizierung und völlig ungehemmten Vertreibung von ärmeren Schichten aus Manhattan und anderswo; in den Drei Ökologien warnt Guattari ebenso vor Zuspitzungen der Phänomene des religiösen Fundamentalismus, wie er den Zusammenhang zwischen technologischen Transformationen und neuen Subjektivierungsweisen herausarbeitet, und betont – auch hierseiner Zeit voraus – mögliche Nebenwirkungen der digitalen Revolution: „Arbeitslosigkeit, erdrückende Existenz am Rande der Gesellschaft, Einsamkeit, Untätigkeit, Lebensangst, Neurose“.[3] Doch neben den psychischen Problemen und persönlichen Schicksalsschlägen, die auch Guattari selbst in dieser Zeit zu verdauen hat, fliesst eine soziale Depression weit über jede Privatheit hinaus in alle Poren des Socius. Jenes Amalgam aus rechtsradikal-rassistischen Bewegungen, wie sie in verschiedenen europäischen Ländern, in Frankreich in Form des Front National um „den Einäugigen“ Jean-Marie Le Pen aufkommen, und autoritären Verschärfungen eines sich zwischen 1968 und 1989 restabilisierenden Kapitalismus, macht dem Theoretiker der maschinischen Flüsse schwer zu schaffen.

Die 1980er Jahre waren aus dieser Sicht geprägt durch politische Repression und Rassismus, nationalistische Schismen, beschleunigte Massenmedialisierung und ökologische Katastrophen. Dies alles vor dem Hintergrund eines – wie Guattari es bezeichnet – „weltweit integrierten Kapitalismus“. Zehn Jahre später wird man das Globalisierung nennen, und ich möchte nicht zuletzt mit Bezug auf Guattaris Arbeiten heute dafür den Begriff des maschinischen Kapitalismus vorschlagen: Maschinisch ist diese Form des Kapitalismus nicht nur in ihrer allumfassenden Durchsetzung algorithmischer Logiken und informatisch geprägter Transformationen von „sozialen“ Medien und Lebensweisen, sondern im Sinne von Guattari als Gefäss für die Ausbreitung von Selbstregierung und maschinischer Indienstnahme. Zu den unterschiedlichen Formen sozialer Unterwerfung kommen also Formen quasi freiwilliger, ja sogar herbeigewünschter Selbstunterwerfung: der Wunsch, Teil, Komponente, Rädchen einer Maschine zu werden.

Gegen diese gefügigen Subjektivierungsweisen braucht es damals wie heute weniger Maschinenstürmerei als neue Formen der abweichenden Organisierung, Instituierung und maschinischen Wunschproduktion. Was Guattari mit seiner vielfältigen Praxis der Intervention und Involvierung bei den ökologischen Bewegungen und entstehenden grünen Parteien Europas im Blick hat, ist keineswegs die Institutionalisierung einer single-issue-Umwelt-Partei im reduktionistischen Sinn. Wenn die Grünen der 1980er Jahre auch grundsätzlich um die Integration eher natur- wie traditionsbezogener, strukturell reaktionärer Komponenten und eher radikalerer linker Umwelt-Aktivist_innen rangen, waren sie keineswegs die weichgespülten soft-grünen Akteur_innen, als die sich heutige Parteien im grünen Spektrum erweisen. Für Guattari ging es immer um ein transversales Verständnis von ökologischer Entwicklung, aber auch von ökologischen Katastrophen, die weder isoliert in ihren Besonderheiten zu analysieren sind, noch als Komponenten einer totalisierenden und vereinheitlichenden Sicht, die zu Moralismen und Paranoia tendiert. In den 1980er Jahren betraf das vor allem die Nuklear-Katastrophe von Tschernobyl, die weitgehende Folgen für die Ukraine, Weißrussland und Russland und darüber hinaus für weite Teile der nördlichen Halbkugel brachte. Mit der Katastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima ist die Atomenergiepolitik seit 2011 erneut ins Zentrum von ökologischen Diskursen gerückt, darüber hinaus haben aber vor allem die Diskussionen um den Klimawandel gezeigt, wie transversal das Spektrum der umweltpolitischen Fragen heute behandelt werden muss. Ökologie bedeutet in diesem ersten Sinn eine Perspektive, die komplexe Gefüge von Um-Welten fokussiert: Um-Welten, die weniger als Aussen, das, was „um die Welt“ herum ist, verstanden werden, sondern als transversal durch die Welten hindurch gehend.

Es wäre aber zu kurz gefasst, Guattaris Text in diesem engeren Sinn der Ökologie auf eine rein umweltpolitische Bedeutung zu beschränken, ohne die ökologischen Sphären von Subjektivität und Sozialität zu berücksichtigen. Die zweite der drei Ökologien lässt sich als mentale Ökologie bezeichnen und zielt auf die radikale Transformation der Subjektivierungsweisen ab. Das zugrundeliegende Problem ist jene maschinische Dienstbarkeit, die zunehmende „Introjektion der unterdrückenden Macht durch die Unterdrückten“[4], die nur durch neue Formen von Dissens und Resingularisierung bekämpft werden kann. Es ist der berufliche Kontext Guattaris, der uns die Spur für ein besseres Verständnis dieser Forderung legt: In der psychiatrischen Klinik La Borde konnte er fast 40 Jahre lang erproben, wie das existenzielle Territorium und die Subjektivierungsweisen zusammenspielen, wenn mit dem Wahnsinn anders umgegangen wird. In dem kleinen Palais in der Solonge können, wie Anne Querrien schreibt, „mit nur 120 Betten 2000 Kranke versorgt werden, während die normalen psychiatrischen Kliniken dafür 2000 Betten und das entsprechende Budget benötigten“[5] La Borde ist ein Labor für jene sanfte Deterritorialisierung der Subjektivierungsgefüge, die Guattari als notwendig erachtet, um eine mentale Ökologie erst entstehen zu lassen. Nie wird das Individuum als abgeschlossenes im Vordergrund dieser Untersuchungen stehen, immer die dividuellen Linien, die wir ziehen und durch die wir gezogen werden, die sich durch uns hindurch ziehen. Statt sich von den klassisch individualpsychologischen Vorstellungen von der menschlichen Psyche leiten zu lassen, entsteht die Schizoanalyse der mentalen Ökologie gerade jenseits der wohlbestimmten Ganzheiten, als verkörperte Singularitäten der Animae und ihrer fragmentarischen Anschlüsse an die Territorien und Umwelten. Und das weit über die offenen Welten des Wahnsinns hinaus, z.B. in Guattaris Beschäftigung mit japanischen oder brasilianischen animistischen Subjektivitäten.[6]

Drittens betrifft die Ökologie auch den Socius, die sozialen Maschinen, deren Flüsse uns manchmal mitreissen, die oft aber auch zusammenbrechen. Vom mikrosozialen Umfeld in der Nachbarschaft bis zu grösseren institutionellen Unternehmungen und translokalen sozialen Bewegungen lassen sich die sozialen Ökologien als Milieus verstehen. Diese Milieus sind diffuse Terrains, Umgebungen, schwimmende, treibende, fliessende Ökologie, nicht festzulegen auf einen gewissen, abgegrenzten Bereich. Sie sind nicht einfach die Gesamtheit der Verbindungslinien zwischen menschlichen Individuen in einem bestimmten Raum, sondern heterogene Gefüge „von animalischem Werden, von pflanzlichem, kosmischem wie auch von maschinenhaftem Werden, korrelativ zur Beschleunigung der technologischen und informatischen Revolutionen“.[7] Mechanosphäre und Animismus befinden sich in diesem Verständnis von Milieus und sozialen Ökologien nicht ausserhalb der Sozialität. Sie formen vielmehr ein komplexes Territorium, das durch Affizierungen und ethisch-ästhetische Paradigmen geprägt ist.[8] Der oikos der sozialen Ökologie entspricht nicht mehr dem patriarchal kodierten Haushalt und seinem wirtschaftlichen Pendant, der ebenso patriarchal kodierten Ökonomie, sondern entwirft sich als Ökologie der Sorge. In Nachfolge der feministischen Leseweisen sozialer Reproduktion impliziert diese situierte Sorge auch ein ethisches Verhältnis zu Tieren, Dingen und Maschinen. Ihre heutigen Ausformungen findet die soziale Ökologie vor allem in den Versuchen, mit den Bewegungen des kritischen Urbanismus, des Rechts auf Stadt, der neuen Munizipalismen und ähnlichen Kontexten, die enge Verbindung von Lebensraum, Architektur und Sozialität zu bearbeiten, Stadtteile bewohnbar zu machen, existenzielle Territorien entstehen zu lassen.

Die drei Ökologien sind keine starr voneinander getrennte Sphären, sie sind vielmehr transversal zu denkende Wechselwirkungen zwischen Ökosystemen, Subjektivierungen und Sozio-Mechanosphäre oder, wie Guattari es formuliert, drei Perspektiven auf die Welt, die damit gleichsam durch drei Wechselgläser betrachtet werden kann. Keineswegs sind diese ökologischen Praxisformen unter einen Hut zu bringen, zu homogenisieren, durch eine wie auch immer geartete Transzendenz zu vereinen. Guattaris Begriff dafür: Heterogenese. „Es gilt, die Singularität, die Ausnahme, die Seltenheit unter einer so wenig schwer lastenden Staatsordnung wie möglich zusammenzuhalten.“[9]

Diese Situierung der Singularität gegen Staats- und Vereinnahmungsapparate betrifft schliesslich auch die aktuelle Rezeption von Guattaris Arbeiten selbst. Dabei sei vor allem der aktivistisch-erfinderische Maschinist Guattari angerufen, der nicht so vereinnahmt werden kann und soll wie seine Freunde Deleuze und Foucault, deren militante Philosophie in gewissen Kontexten als liberal-relativistische umgedeutet wurde – oder gar als „postmodern“, ein Begriff, dem Guattari immer ablehnend gegenüber stand.[10] Félix Guattari blieb erfinderisch, indem er die sozialen Maschinen und die Begriffsmaschinen immer neu verkoppelte, als institutioneller Analyst, als Militanter der instituierenden Praxis und molekularen Revolution, als Erfinder der Ökosophie als einer „ethisch-politischen Verbindung zwischen den drei ökologischen Registern von Umwelt, sozialen Beziehungen und menschlicher Subjektivität“.[11] Wie in seinem eingangs zitierten letzten Text formuliert, muss diese neue Ökosophie auch „eine andere Form des Politikmachens“[12] hervorbringen. Uns Nachgeborenen bleibt die Aufgabe, neue Instituierungen zu erproben, Maschinen zu konstruieren, multiple Ökologien, die der Ökosophie Guattaris folgen, über sie hinausgehen und die Gefügigkeit im maschinischen Kapitalismus zu sprengen suchen.

 

 

[1] Félix Guattari, Cartographies schizoanalytiques, Paris : Galilée1989.

[2] Félix Guattari, Les années d’hiver: 1980–1985, Paris: Balland 1986 ; Neuauflage Paris : Les prairies ordinaires 2009.

[3] Félix Guattari, « Die drei Ökologien », Wien : Passagen 2012, 12f.

[4] Félix Guattari, « Die drei Ökologien », Wien : Passagen 2012, 41.

[5] Anne Querrien, „Von der Architektur für die Psychiatrie zur Ökologie der Stadt. Ein Ensemble von Aktionsforschungen inspiriert von Félix Guattari“, in: Isabell Lorey, Roberto Nigro, Gerald Raunig (Hg.), Inventionen 2, Zürich: Diaphanes 2012, 98-113, hier: 98.

[6] Vgl. dazu die filmisch-künstlerischen Forschungen von Angela Melitopoulos und Maurizio Lazzarato: Assemblages, Déconnage und The Life of Particles.

[7] Félix Guattari, « Die drei Ökologien », Wien : Passagen 2012, 27.

[8] Für eine über den hier abgedruckten Text hinausgehende Ausarbeitung des ethiko-ästhetischen Paradigmas vgl. Félix Guattaris letztes Buch Chaosmose, Paris: Galilée, 1992

[9] Félix Guattari, « Die drei Ökologien », Wien : Passagen 2012, 45.

[10] Vgl. z.B. Félix Guattari, « L’impasse post-moderne », in : La Quinzaine littéraire 456  (Feb. 1986), 20f.

[11] Félix Guattari, « Die drei Ökologien », Wien : Passagen 2012, 12.

[12] Félix Guattari, „Vers une nouvelle démocratie écologique“, http://www.multitudes.net/Vers-une-nouvelle-democratie/