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02 2022

Die Ursprüngliche Räumung

Niki Kubaczek

Es ist Dienstag morgen, 1. Februar 2022 um 8:30Uhr. Mehrere hundert Polizist:innen dringen in eines der drei besetzten sogenannten „Grätzel“ der lobaubleibt-Bewegung ein. Es werden Zäune aufgestellt und unter Polizeibewachung das Camp abgerissen, Menschen festgenommen und mehrere hundert Bäume noch am selben Tag gefällt. Die U-Bahnstation Hausfeldstraße ist gesperrt. Trotz der vielen Einsatzkräfte und der­ infrastrukturellen Behinderungen kommen über den Vormittag hinweg mehrere hundert Menschen, um den Protest zu unterstützen. Widerstand gegen das Unbewohnbar-Machen des Planeten lässt sich nicht auf- und abdrehen wie ein Wasserhahn.

Als die Holzpyramide in der ‚Wüste‘, wie dieses Protestcamp genannt wird, dem Baggerarm nachgibt, brechen Menschen in Tränen aus. Eine junge Klimabewegung hatte sich ein Symbol gebaut, das jetzt vor ihren Augen niedergerissen wird. Als die Überreste der Pyramide in die Bauschuttmulde und die Aktivist:innen, die sich nicht so leicht räumen lassen wollen, in den Dreck gepresst werden, ruft die Menge den Inhaftierten zu „Ihr! / seid! / nicht allein! / Ihr seid nicht allein!“.


Eine massivst schonende Staatsgewalt

Im Video-Interview mit der Zeitung Kurier[1] erklärt der Polizeisprecher: „Zwei Aktivisten befinden sich noch auf dem Gelände. Sie haben sich massivst [das Wort ‚massivst‘ wird in die Länge gezogen und die Stimme wird leicht gehoben] angekettet [Pause] in einem Rohr unter der Erde. Wie man sich‘s genau vorstellen kann [Pause] die Information liegt mir noch nicht vor. Aber es scheint hier sehr viel Fingerspitzengefühl zu bedürfen, um hier, so schonend [auch dieses Wort wird langgezogen] wie möglich, die beiden Aktivisten hier aus dieser Fixierung zu befreien und sie dann vom Platz der [zuckt leicht mit den Schultern, nickt sanft mit dem Kopf und schlägt die Augenlieder nieder] ursprünglichen Räumung [kurze Pause] wegzubringen.“

Während die Polizei mit Waffen und dem Recht auf Gewaltanwendung ausgestattet offensichtlich als besonders schonend in ihrem Vorgehen hervorgehoben werden soll, so sollen die Aktivist:innen, die Widerstand leisten, indem sie ihre Körper potentiellen Gewaltakten durch die Polizei exponieren, als massivste Aggressor:innen dargestellt werden. Aggression und Verteidigung werden in ihre Gegenteil verkehrt.

Neben den beiden Begriffen massivst und schonend gibt es noch eine dritte Hervorhebung in den polizeilichen Schilderungen: Die ursprünglichen Räumung. In der Auseinandersetzung mit der Entstehung des Kapitalismus widerspricht Marx dem damals wie heute weit verbreiteten Glauben, der Grund dafür, dass manche reich und viele arm sind, liege in der Tüchtigkeit der Reichen und der Faulheit der Armen begründet. Dem hält Marx entgegen, dass nicht die Tüchtigkeit, sondern die Gewalt der entscheidende Faktor der Kapitalakkumulation ist. Durch Enteignungen, Raub und Vertreibung wurden den Menschen die Re/Produktionsmittel gestohlen und sie wurden zu jenen gemacht, die nur durch den kontinuierlichen Verkauf ihrer Arbeitskraft überleben können. Der Anspruch auf das Raubgut wurde dann perfider weise auch noch rechtlich abgesichert.

Die urprüngliche Akkumulation von Kapital ist somit ursprünglicher Raub, Mord, Zerstörung und Vertreibung: Sie ist ursprüngliche Räumung. Die ursprünglich Räumung zerstört die Commons, etwa das Land, das einmal von allen genutzt werden konnte, um so Raum zu schaffen für die kapitalistische Ausbeutung von Mensch und Natur. Wenn auch unwillentlich erinnert uns der Polizeisprecher daran, dass von einer ursprünglichen Räumung nur dann die Rede sein kann, wenn es etwas gibt, das die Staatsgewalt räumen möchte, etwas, das gefügig gemacht werden soll, vertrieben oder zerschlagen gehört, um dann das Land einzuzäunen, infolge dessen alles Lebendige auszubeuten und das, was sich nicht fügt[2], abzutöten. Die ursprüngliche Räumung verweist darauf, dass vor der Einzäunung das Land allen gehört und Ort der Zusammenkunft, des Gemeinsamen, der Commons ist[3], wie es die Wüste war. Die ursprüngliche Räumung verweist außerdem auf die Gewalttätigkeit, mit der die Commons in der Entstehung des Kapitalismus zerschlagen wurden und in der Aufrechterhaltung des Kapitalismus immer wieder zerschlagen werden.


Ludwigs Relativierung des Brandanschlags

Die Gewalttätigkeit gegenüber jenen, die sich der ursprünglichen Räumung nicht einfach fügen wollen, zeigt sich noch einmal deutlicher, wenn wir von der Räumung der Wüste einen Monat zurückblicken: Am 31. Dezember 2021 übten Unbekannte einen Brandanschlag auf ein weiteres der drei Protestcamps aus. Eine Behausung in der Hirschstettner Straße wurde mit Hilfe von Brandbeschleuniger in Feuer gesteckt, 8 Personen, die in der selbstgebauten Holzunterkunft schliefen, entkamen nur knapp und auch nur zufällig den Flammen.

Als Bürgermeister Michael Ludwig in einem Interview nach seiner Sicht der Dinge auf den Anschlag gefragt wurde, war seine Antwort lediglich: „Es ist auf jeden Fall ein Zeichen, dass ein rechtsfreier Raum in einer Stadt kein Vorteil ist.“[4] Es stimmt wohl, dass es rechtswidrig ist, ein Gelände zu betreten, das de jure nicht deines ist. Allerdings deckt diese Rechtsübertretung die verfassungsrechtliche Demonstrations- und Versammlungsfreiheit. Eine Besetzung ist somit mitnichten ein rechtsfreier Raum. Sie wäre ein rechtsfreier Raum, bestünde die Geschichte nur aus Michael Ludwigs, denn dann gäbe es keine verfassungsrechtlich abgesicherte Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.

Neben dem Umstand, dass Ludwigs Kommentar rechtlich schlicht falsch ist, gibt es aber noch einen wichtigeren Aspekt, und zwar einen politischen: Folgen wir der Logik des Wiener Bürgermeisters, so wäre es etwa auch nicht mehr als nur ein Zeichen, dass rechtsfreie Räume kein Vorteil sind, wenn jemand freihändig Fahrrad fährt, ein Passant sich provoziert fühlt und die Person erschießt; denn schließlich ist freihändig Fahrradfahren verboten. Wer Baustellen besetzt, so scheint Ludwig der Meinung zu sein, braucht sich auch nicht wundern, wenn er oder sie umgebracht wird.

Der Wiener Bürgermeister reiht sich damit in einen Trend auf globaler Ebene ein: Ein Ende letzten Jahres veröffentliche Bericht von global witness zeigt auf, dass 2020 weltweit 227 Umweltaktivist:innen umgebracht wurden.[5] Während die Besetzer:innen sich das Recht herausnehmen, die Eigentumsverhältnisse auf den Boden und auf die in der Regel rechtlich abgesicherte kapitalistische Zerstörung des Planeten in Frage zu stellen, in dem sie ein Protestcamp errichten, so nimmt es sich Ludwig heraus, das Recht auf die Unversehrtheit von Leib und Leben in Frage zu stellen.


Die Sorge der Bewegung

„Eigentlich müsste ich ein kämpferisches Zeichen setzen und ins Mikrofon schreien“, erzählt Lucia Steinwender, Aktivistin bei System Change Not Climate Change und bei lobaubleibt, auf einer Kundgebung einige Tagen nach dem Brandanschlag und einige Wochen nach den Einschüchterungen durch die von der SPÖ lancierten Klagsdrohungen in Millionenhöhe gegen teilweise minderjährige Aktivist:innen. „Aber der Kern des Kampfes, den wir führen, ist eigentlich die Sorge um- und füreinander; der Kern der Welt, die wir dabei sind aufzubauen: Dass wir uns umeinander kümmern, statt zu konkurrieren; dass wir die ökologischen Lebensgrundlagen pflegen, statt zu zerstören. Dass wir Sorgearbeit, die meistens von Frauen und Flinta-Personen getragen wird, aufwerten und untereinander verteilen, statt sie unsichtbar zu machen und auszubeuten.“[6]

Es ist diese Sorge umeinander – um andere Menschen, Tiere, Pflanzen sowie um den Boden –, die in der ursprünglichen Räumung entsorgt, ein für alle Mal entfernt werden soll. Die ursprüngliche Räumung zielt darauf ab, die Territorien der ungefügigen Sorge und der Solidarität ein und für alle Mal auszureißen. Aber selbst wenn gegen Bewegungen wie lobau-bleibt durch eine Mannigfaltigkeit an Repression – Einschüchterungsklagen, Brandanschlag, Zerstörung des Camps und Demütigung der Aktivist:innen durch Inhaftierung – vorgegangen wird, so werden die ursprünglichen Räumungen nie total gewesen sein: Bereits wenige Tage nach der Räumung wurden Straßen blockiert, tausende lobaubleibt-Zeitungen in Wiener Postkästen verteilt und wenn auch dieses Mal nicht in der Pyramide, so traf man sich eben wo anders, sorgte umeinander, baute Rechtshilfestrukturen auf, widersetzte sich der Vereinzelung und schmiedete bereits die nächsten Pläne.

Die lobaubleibt-Bewegung zeigt, dass die Re/Produktionsmittel wiederangeeignet werden können; und allen Räumungsversuchen zum Trotz auch immer wieder angeeignet werden. Die Nutzung statt der Ausnutzung, die Schöpfung statt der Ausschöpfung der materiellen wie immateriellen Ressourcen und Umgebungen ist die Antwort, welche die lobaubleibt-Bewegung auf die Misere der kapitalistischen Ausbeutung und Enteignung gibt. Sie erinnert an jene Territorien, auf denen die Dinge gemeinsam, als Commons genutzt wurden, statt sie einzuzäunen, zuzuordnen und auszubeuten. Sie erinnert an jene ungefügigen Zusammenhänge und Mittel der Re/Produktion, die zerschlagen wurden, um die Menschen entweder zur Arbeit in den Fabriken, zur Arbeit in der Küche oder zur Arbeit auf den Plantagen zu zwingen.

Auch wenn die Wüste wieder platt gemacht wurde, die Sorge um das, was uns gemeinsam gehört und wofür wir gemeinsam die Verantwortung tragen, die gemeinsame sorgende und sorgsame Nutzung des Bodens sowie aller anderen für das Leben notwendigen materiellen wie immateriellen Ressourcen existiert fort. Auch wenn qua ursprünglicher Räumungen immer wieder versucht werden wird, die Ungefügigkeit ein und für alle Mal zu vertreiben und sie den Menschen auszutreiben, so wird sie nie ganz weggehen und der Zerstörung und Ausbeutung an noch unbekannten Orten ungefügige Territorien, Ökologien der Sorge[7], der Sorgsamkeit und der Solidarität entgegensetzen.[8]

 

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[1] Das Interview war unter https://kurier.at/chronik/wien/besetzung-der-stadtstrassen-baustelle-wird-geraeumt-polizei-ist-vor-ort/401890412 aufrufbar, wurde mittlerweile jedoch entfernt.

[2] Für eine kleine Geschichte der Ungefügigkeit siehe Gerald Raunig: Ungefüge. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution, Band 2. transversal texts 2021.

[3] Vgl. dazu Silvia Federicis Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Mandelbaum 2017.

[4] Michael Ludwig gegenüber dem ORF, 31.12.2021, Ausschnitt auf twitter: https://twitter.com/LobauReport/status/1476980382356721668?s=20&fbclid=IwAR2n7CRVmksOBh5T2h2BfAWS7QgV-nzC5TV-kzKqrUe5YfDYrM7a6S5_zRw

[5] https://www.globalwitness.org/en/campaigns/environmental-activists/last-line-defence/

[6]  https://fb.watch/ajhlsHahj2/

[7] Vgl. auch: Bärtsch u.a.: Ökologien der Sorge. transversal texts 2017.

[8] Herzlichen Dank an Hannah Eberle für die hilfreichen Anmerkungen zum Text. Der Text erschien in leicht gekürzter Form auch auf https://mosaik-blog.at/urspruengliche-raeumung-hausfeldstrasse-lobaubleibt/.