06 2025
Die deutsche Staatsräson in den Ruinen der Gegenwart
Im Ramadan 2024 dreht die Journalistin Hanna Resch mit Unterstützung von palästinensischen Kolleg:innen vor Ort für die Tagesthemen, die Nachrichtensendung der ARD, eine Reportage aus dem Geflüchtetenlager Eid al-Fitr in Rafah (Gaza). Internationale Journalist:innen dürfen den Gazastreifen nicht mehr frei betreten, sie erhalten nur in geführten ‚Touren’ durch Mitglieder der Israeli Defence Force (IDF) Zugang zum Gebiet. Die Reportage porträtiert Ayman, seine Frau und die zwei kleinen Kinder in dem Versuch, unter den Bedingungen von Vertreibung, Zerstörung, Bombardierungen und extremer Preisinflation ein traditionelles Fastenbrechen zu improvisieren. Auf die Frage, was er sich von der Welt wünsche, antwortet Ayman: „dass die Welt mit uns fühlt“.
Ein Jahr später, nachdem die zweimonatige Waffenruhe im März 2025 einseitig aufgehoben wurde, liefert die ‚westliche Welt’ weiterhin Waffen nach Israel. Ankündigungen, den Gazastreifen völkerrechtswidrig vollständig zu besetzen, stoßen mittlerweile zwar vermehrt auf Kritik, die sich im politischen Handeln allerdings kaum widerspiegelt. Wenige Wochen zuvor hatte Friedrich Merz noch angekündigt, es würden „Mittel und Wege“ gefunden, trotz internationalem Haftbefehl und damit völkerrechtwidrig einen Besuch Netanjahus in Deutschland zu ermöglichen. Inzwischen erklärte der Bundeskanzler, die „Ziele“ Israels im Gazastreifen seien für ihn nicht mehr erkennbar und dass das Völkerrecht nun „wirklich verletzt“ werde. Politische und diplomatische Konsequenzen haben diese Besorgnisbekundungen jedoch weiterhin nicht nach sich gezogen. Der Vorschlag, auf europäischer Ebene das Assoziierungsabkommen auszusetzen, das die Rechtsgrundlage für politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen Israel und der EU bildet, fand von Seiten Deutschlands bei einer Abstimmung der Europäischen Außenminister:innen Anfang Juni 2025 keine Zustimmung. Man wolle alle Gesprächskanäle offenhalten, hieß es. Die Ankündigung des Außenministers Johann Wadephul, Waffenexporte überprüfen zu wollen, wurden von Seiten der bayrischen Schwesterpartei mit dem belehrenden Hinweis zurückgerufen, politische Freunde könne man kritisieren, aber nicht sanktionieren. „Das wäre das Ende der deutschen Staatsräson, und das ist mit der CSU nicht zu machen“, verkündete der CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann. Damit wird implizit vorausgesetzt, dass nicht die Lieferung von Waffen, sondern sie auszusetzen begründungsbedürftig sei – so als seien Waffenlieferung an Israel der eigentliche Kern der deutschen Staatsräson.
Der Ausdruck ‚Staaträson‘, ein Bekenntnis zu Deutschlands Verantwortung für die Sicherheit Israels, geht auf eine Rede von Angela Merkel zurück, die sie 2008, zur Feier des 60. Jahrestages der Staatsgründung, in Israel gehalten hat. Merkel formulierte damals die Überzeugung, dass sich eine menschliche(re) Zukunft nur unter der Bedingung einer übernommenen Verantwortung für die Vergangenheit gestalten ließe. Der Rahmen für eine solche gemeinsame Gestaltung seien die von Israel und Deutschland geteilten Werte der Freiheit, der Demokratie sowie des kostbarsten Guts, das wir, so Merkel, haben: „die unveräußerliche und unteilbare Würde jedes einzelnen Menschen“. Der Würdebegriff, wie er im Deutschen Grundgesetz und im internationalen Recht verankert ist, geht auf Immanuel Kant zurück. Was an diesem Begriff bemerkenswert ist, das ist seine Unbestimmtheit: die Würde ist das, was sich jeder Bestimmung entzieht. Sie ist nicht gebunden an nationale, religiöse, politische, sexuelle oder irgendeine andere Zugehörigkeit. Dass sie unveräußerlich ist, besagt, dass ihre Verletzung unter keinen Umständen gerechtfertigt werden kann. Man kann die Würde nicht ‚verspielen’ und man darf sie, so heißt es bei Kant, nicht verrechnen: Sie hat keinen Preis, sondern – jeweils – einen absoluten Wert. Man kann also nicht mehr oder weniger Würde haben, sondern jeder Mensch ist hinsichtlich seiner:ihrer Würde gleich. Diese Gleichheit ist, wenn die Würde unbestimmt ist, plural und heterogen. Gleich ist folglich die jeweilige Einmaligkeit als Verschiedenheit. Die Würde verspricht damit eine Gleichheit ohne Angleichung, die angemessener als Gleichrangigkeit zu bezeichnen wäre, wie Christian Neuhäuser argumentiert.
Wenn also die Würde, neben Freiheit und Demokratie, Teil einer deutsch-israelischen Werteverbindung ist, dann gehört zu einer ‚Politik der Freundschaft’ zwischen den beiden Staaten auch, deutlich zu benennen, wenn diese Werte und ihre Träger:innen verletzt werden. Wenn die Staatsräson, deren bloße Nennung meist jede weitere Ausführung ersetzt, was damit jeweils politisch und konkret gemeint ist, mehr und anderes als eine bedingungslose Zustimmung für jedes Handeln sein soll, das sich als ‚Selbstverteidigung’ bezeichnet, dann muss ihre Bekräftigung auch damit einhergehen, sich in aller Deutlichkeit dafür einzusetzen, dass die Würde des:der anderen nicht verletzt wird, wer und wo immer dieser Jemand sei.
Die israelische Armee habe, so hat die Philosophin Seyla Benhabib kurz vor der Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises im September 2024 formuliert, mit der Kriegsführung in Gaza das Recht auf Selbstverteidigung überschritten. Das Selbstverteidigungsrecht von Staaten ist, wie die Menschenrechte, Teil des Völkerrechts. Beide Rechte unterscheiden sich unter anderem in ihrer Struktur. Wie der Philosoph Jacques Derrida argumentiert hat, legen sie einen jeweils anderen Souveränitätsbegriff zugrunde. Die Souveränität der Menschenrechte dient der Einschränkung nationalstaatlicher Souveränität. Anders als in einem Konflikt zwischen souveränen Staaten steht bei Menschenrechtsverletzungen nicht „Souveränität gegen Souveränität.“ Die Menschenrechte erklären eine anders strukturierte Souveränität, indem sie jede und jeden Einzelne:n als S/souverän erklären. Doch bleibt das Problem, dass sich nicht jede:r Einzelne wirksam – souverän – auf dieses Recht berufen kann. Dass Menschenrechte durchgesetzt werden können, ist, wie der Philosoph Arnd Pollmann argumentiert, „von völkerrechtlichen Selbstbindungen nationaler Staaten“ abhängig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) stellen eine rechtlich-politische Institutionalisierung zur Einschränkung der Souveränität von Nationalstaaten dar. Rechtswidrig den vom IStGH erlassenen Haftbefehl gegen Netanjahu zu ignorieren bedeutet, die nationalstaatliche Souveränität – und nationale Interessen – als das stärkere Recht zu erklären, so als ob Recht hat, wer der Stärkere ist. Eine solche Parteinahme ist nach Pollmann problematisch, weil sie den „Grundgedanken“ der Menschenrechte preisgibt: dass „strikt alle Menschen als fundamental gleichwertig zu achten sind“. Sie folgt außerdem einem Freund-Feind-Schema: Es ist, so Pollmann, leicht, ‚für’ die Menschenrechte zu sein, wenn sie von den ‚anderen’, etwa in Diktaturen, verletzt werden, von denen man sich im demokratischen Selbstverständnis ohnehin unterscheidet und mit denen man nicht die gleichen Maßstäbe und Werte, etwa der Freiheit und Demokratie teilt. Gehen diese Verletzungen jedoch von einem erklärten politischen Freund aus, fällt die Kritik oft auffällig kleinlaut aus. Die Betonung von Israels Recht auf Selbstverteidigung droht so aber zu verdecken, was gerade die Errungenschaft der modernen Menschenrechte ist: die Einsicht, dass sich das Recht von Staaten auf ihre Selbstverteidigung nicht mit dem ausnahmslosen Schutz der Menschenrechte verrechnen lässt. Eben das meint, wie auch Derrida hervorhebt, dass die Menschenrechte strukturell eine andere Souveränität erklären – nämlich den Schutzanspruch jeder:s Einzelnen, der keinen Preis hat und „kein Äquivalent verstattet“, auch nicht in Gestalt der Selbstverteidigung souveräner Staaten.
Mit der Staatsräson wird oftmals auch eine Verantwortung für ein zukünftiges Gedenken verbunden und benannt. Deutschland habe, wie die Philosophin Susan Neiman in einem Interview ausgeführt hat, die „Lehren“ aus den Verbrechen des Nationalsozialismus missverstanden. Ein rechtliches Erbe der Menschenrechtsverbrechen der Nazis und der Shoah ist die Genozidkonvention der Vereinten Nationen. Politisch und im Zusammenhang von Gedenkveranstaltungen in Deutschland ist häufig zu vernehmen, dass mit Menschen in Gaza zwar getrauert werden dürfe, es sich aber nicht gehöre, von einem Genozid und überhaupt von völkerrechtswidrigen Verbrechen zu sprechen. Es ist irritierend, dass gerade in Deutschland keine offene politische Debatte darüber ermöglicht wird und scheinbar auch nicht zulässig ist, ob die Menschenrechtsverletzungen in Gaza den Tatbestand eines Genozids erfüllen. Als Hinweise dafür können eine ganze Reihe von Ausladungen in und aus Deutschland von kritischen, vor allem jüdischen und israelischen Intellektuellen gelten, die das Regierungshandeln unter Netanjahu kritisieren – etwa Nancy Fraser, Eyal Weizman und Omri Boehm. Damit wird von Seiten Deutschlands zu einer problematischen Homogenisierung dessen beigetragen, was als legitime und vernehmbare jüdisch-israelische Stimme gelten darf und was nicht. Jüdische Holocaustforscher wie Amos Goldberg, Omer Bartov, Raz Segal und Michael Rothberg sprechen angesichts des Vorgehens der israelischen Armee im Gaza-Streifen von einem Genozid, in Israel protestieren tausende – darunter Angehörige der Geiseln, Aktivist:innen und Reservist:innen – gegen die Ausweitung der Kampfhandlungen und die Ankündigung einer vollständigen Besetzung des Gaza-Streifens; die Graswurzelbewegung Standing Together Movement organisiert Protestmärsche an die Grenze zum Gaza-Streifen. In „silent protests“ werden Fotos von im Gazastreifen getöteten Kindern gezeigt, um in Israel öffentliche Räume zu schaffen, an dem das Ende ihrer Welt ‚zählen’ und ihr Tod betrauert werden kann.
Omer Bartov hat unlängst in einem Interview gefordert, dass die deutsche Politik Konsequenzen aus dem vermuteten Genozidtatbestand zieht. Mit Blick auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen, Expert:innen, Ausschüssen und Sonderberichterstatter:innen, die Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen und Verstöße Israels gegen die Genozidkonvention sammeln, wirkt Deutschlands Bekenntnis zu einer globalen Verantwortung provinziell: Mehrere westliche Staaten, darunter Frankreich, England und Kanada, haben einzelne Abgeordneten der rechtsgerichteten Netanjahu-Regierung mit Sanktionen belegt; eine Abstimmung der EU hat dazu geführt, dass aufgrund von Menschenrechtsverletzungen im Gazastreifen und der Blockade von Hilfslieferungen das Assoziierungsabkommen mit Israel überprüft wird – 17 von 25 Mitgliedstaaten haben dafür gestimmt. Wie auch die Staatsräson in den Ausführungen von Angela Merkel hat das Abkommen der Europäischen Union mit Israel die Achtung der Menschenrechte zur Grundlage. Mit Verweis auf die Staatsräson zu begründen, man werde keine Sanktionen gegen Israel verhängen, wirkt so höchst widersprüchlich, wenn nicht sogar unglaubwürdig. Es sollte gerade im Sinne der Staatsräson sein, dass Israel als ein demokratischer Partner agiert und die Rechte der Freiheit, Gleichheit und Würde achtet und schützt. Das mit der Staatsräson verbundene, menschenrechtlich aber leere und militärisch verkürzte Bekenntnis zu Israel hat möglicherweise mehr mit einem deutschen Selbst- und Identitätsverständnis zu tun als mit Sicherheit und Frieden im Nahen Osten. Anstatt der global player für eine zukunftswirksame ‚Erinnerungskultur’ zu sein, für den sie sich hält, verschwimmt der deutschen Politik, während sie der Shoah gedenkt, die Sicht vor den institutionalisierten Menschenrechtsverbrechen der Gegenwart.
Die Genozidkonvention der UN dient nicht nur der Feststellung und Strafverfolgung, sondern soll außerdem Mittel zur Prävention und Intervention zur Verfügung stellen. Es wären folglich nicht nur die Verfahren zur Prüfung einer Verletzung des Völkerrechts politisch zu unterstützen. Zusätzlich sollte bereits unter den Bedingungen des Verdachts diplomatisch darauf hingewirkt werden, dass ein möglicher Völkermord abgewendet wird – etwa indem die Lieferung von Waffen geprüft und an die Bedingung geknüpft wird, einer Verteidigung zu dienen, die verhältnismäßig ist und internationalem Recht standhält. Diplomatische und politische Bemühungen an eine rechtliche Absicherung zu binden, ist fatal, so wichtig ein rechtliches Ergebnis für die weitere, auch strafrechtliche Aufarbeitung zweifellos ist. Einen Genozid nachzuweisen ist ein langwieriger und komplexer Prozess, da dies den Nachweis einer Zerstörungsabsicht voraussetzt. Wenn ein Genozid festgestellt sein wird, wird es für das Leben von Tausenden oder mehr schon zu spät gewesen sein. Die rechtliche Beurteilung kann folglich die politische und diplomatische Auseinandersetzung nicht ersetzen – auch weil es so komplex und schwierig ist, eine Absicht überhaupt nachzuweisen.
Aber die Hamas!, mag, wer bis hierhin gelesen hat, buchstäblich oder in Gedanken ausrufen – sie wurde bis hierher noch nicht einmal benannt. Müsste es nicht darum gehen, deren Angriffe zuerst zu benennen? Weit davon entfernt, die Würde von irgendjemanden zu achten, geben die Angriffe des 7. Oktobers 2023, bei denen Hamasterroristen über 1200 Menschen ermordet, 250 Menschen als Geiseln genommen und eine ganze Gesellschaft traumatisiert haben, ein grausames Beispiel dafür, wie radikal diese Menschenwürde verletzt werden kann. „Niemand verteidigt die Hamas“, erklärte die Philosophin Nancy Fraser anlässlich der Kritik an ihrer Unterzeichnung des offenen Briefes Philosophy for Palestine vom November 2023, wegen der ihr die Ehrenprofessur der Albertus-Magnus-Universität Köln entzogen wurde. Niemand, so Fraser, relativiert die Gewalt der Hamas, wenn er oder sie jene Seite, die sie bekämpft, dazu aufruft, sich an internationales Recht – an humanitäres Recht und an das Kriegsrecht – zu halten. Kritik an der militärischen Kriegsführung in Gaza und der gezielten Bombardierung von humanitärer und ziviler Infrastruktur findet sich indessen häufig mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, diese Strukturen würden von Hamasterroristen genutzt. Wenn sich Terrorzellen in und unter Krankenhäusern und Schulen befinden, so scheint es, handelt es sich um ein legitimes Kriegsziel, wie viele Zivilist:innen, in großer Zahl sind es Kinder, dabei auch immer getötet werden. Auch Benhabib hat in ihrer kritischen Replik auf den Brief Philosophy for Palestine argumentiert, man dürfe nicht vergessen, dass die Hamas die palästinensische Bevölkerung als Schutzschild benutze. Dieser Auffassung soll gar nicht widersprochen werden. Sie ist als Argument jedoch unvollständig und wird von denjenigen, die sie vertreten, nicht angemessen in ihren Konsequenzen berücksichtigt. 2009 haben der israelische Philosoph Avishai Margalit und der u.s.-amerikanische Philosoph Michael Walzer zusammen in einem Artikel dargelegt, wie man Terroristen bekämpft und gleichzeitig Zivilist:innen schützt – was im aktuellen Zusammenhang helfen kann, Argumentationslücken zu schließen.
Margalit und Walzer setzen sich mit der Auffassung auseinander, dass im Krieg gegen einen feindlichen Gegner die Sicherheit der Zivilist:innen auf der Gegnerseite nachrangig sei – eine Auffassung, die die Autoren für „falsch und gefährlich“ halten, weil sie die für das Kriegsrecht wichtige Unterscheidung zwischen Kämpfer:innen und Zivilist:innen aushöhlt. Das Außerkraftsetzen dieser Unterscheidung ist, so die Autoren, ein Kennzeichen für Terrorismus. Das zeigt sich deutlich am Beispiel der Hamas, die den israelischen Staat angreift, indem sie die Bevölkerung zum Angriffsziel erklärt, tötet und verschleppt. „Wir sollten diesen Mechanismus im Kampf gegen den Terror nicht nachahmen.“ Die Autoren greifen auch dem im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza häufig eingebrachten Einwand vorweg, dass die Zugehörigkeit zur Zivilbevölkerung nicht automatisch bedeutet, unschuldig oder unbeteiligt zu sein. Das Beispiel, das sie dafür nutzen, ist die deutsche Bevölkerung im Nationalsozialismus, die die Verbrechen entweder hingenommen, sich darin eingerichtet oder sie sogar aktiv unterstützt haben. Zivilperson zu sein bedeutet, keine Kriegspartei zu sein, und Kriege finden rechtlich betrachtet zwischen (auch nicht-staatlichen) Kriegsparteien statt. Kollektivbestrafungen gegen die Bevölkerung, sei es durch Bombardierung, Hunger, die Zerstörung kritischer Infrastruktur, stellen Kriegsverbrechen dar. Die Verbrechen der anderen Seite, so argumentieren Margalit und Walzer, „entbinden ihre Gegner nicht von der Pflicht, die Verwundung oder Tötung von Zivilist:innen zu vermeiden“. Ihr Artikel schließt mit der Maxime, dass Zivilist:innen im Krieg so zu behandeln sind, als seien es die eigenen Staatbürger:innen. Das heißt, im Schutz der Zivilbevölkerung darf nicht unterschieden werden, ob es sich um Menschen auf der ‚eigenen‘ oder der ‚anderen‘ Seite handelt. Die Argumentation lässt die Frage unbeantwortet oder stellt sie vielmehr gar nicht, ob und wenn ja, wie Kriege geführt werden sollten – und wie sie sich begründen ließe. Sie ‚akzeptiert’ den Krieg als Teil einer politischen Realität, ohne einer Logik seiner moralischen oder politischen Rechtfertigung zu verfallen. Die Stärke ihrer Argumentation liegt darin, deutlich zu machen, dass sich eine Kriegsführung, die die Tötung von Zivilist:innen in Kauf nimmt, moralisch und politisch nicht rechtfertigen lässt, wie auch immer man zu der Frage steht, ob es gerechtfertigte oder gar ‚gerechte’ Kriege gibt oder ob und wie sich Terror wirksam militärisch bekämpfen lasse. Ihre Position lässt sich so verstehen, dass sie nicht nur von Soldaten gleich welcher Nationalität und Einheit verlangen, unter Aufwendung sämtlicher Mittel und Wege zu versuchen, Zivilist:innen zu schützen. Sie fordern implizit auch von einer philosophischen Begründung, einer Logik der Unvermeidbarkeit ziviler Opfer in Kriegen nicht nachzugeben.
Wo der Artikel von Margalit und Walzer heute unzeitgemäß erscheinen mag, ist hinsichtlich einer Kriegsführung, die sich auf dem engen Gebiet des Gazastreifens überhaupt nicht mehr für den Schutz jener zu interessieren scheint, die keine Kriegsparteien sind – handelt es sich um Palästinenser:innen, Hilfsorganisationen oder um die Geiseln, die die Hamas weiterhin in Gaza festhält und die so auch zum Teil jenes zivilen Schutzschildes werden, hinter dem sie sich versteckt und das Israel angreift.
Das Selbstporträt und andere Ruinen lautet der Titel eines Buches von Derrida, das als Aufzeichnungen eines Blinden überschrieben ist. Der Titel kann so interpretiert werden, dass jede:r, die:der sich selbst, und zwar aus den eigenen Augen, zu porträtieren sucht, eine Ruine zeichnet. Wer blind ist für die Augen und die Perspektiven der anderen, droht, sich in einer Welt einzurichten, die lediglich den eigenen Zwecken dient – und sieht nicht, dass diese Welt nicht nur zu anderen Ruinen, sondern zu den Ruinen der anderen wird. Zu solchen Ruinen trägt auch eine Staatsräson bei, die sich nur noch mit ihrer bloßen und politisch inhaltsleeren Selbstbekräftigung begnügt und damit letztlich vor allem die eigene nationale Identität zu stabilisieren sucht. Zu einer Ruine wird so, nach Derrida, auch die Ethik, und, wie man hinzufügen muss, das internationale Recht, wenn zu ihrem Ausgangspunkt und ihrer Bedingung die anderen als Nächste und Gleiche vorausgesetzt werden. Radikal schützenswert aber ist die Würde der anderen, wie es bei Kant heißt, in ihrer Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit, das heißt die Würde des und der anderen, wer und wo auch immer sie sind.