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03 2020

Der Beginn des 21. Jahrhunderts: Das Recht auf Leben

Montserrat Galcerán Huguet

Übersetzung: eipcp

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Mit dieser Pandemie beginnt das 21. Jahrhundert. Ein Jahrhundert, in dem die Verteidigung des Rechts auf Leben zur Priorität wird.

Wenn wir von den Feminismen ausgehen, dann sind wir es gewohnt, «das Leben in den Mittelpunkt zu stellen». Es gibt aber auch Leute, die das hören, die Augenbrauen heben und uns spöttisch beäugen. Das Leben, so denken sie, erhält sich doch selbst, es reproduziert sich «natürlich», es hat weder Wert noch kostet es Geld, es kann frei gegeben und ohne jeden Dank empfangen werden.

Inmitten dieser Pandemie müssen wir diese Vorstellung über Bord werfen. Wir machen eine ungewöhnliche Erfahrung: uns am Leben zu halten erfordert eine enorme Anstrengung. Es ist vorrangige Notwendigkeit und erstes Recht.

Wir hätten nie gedacht, dass dazu so große und gleichzeitig so geringe Anstrengungen unternommen werden müssen. Uns zu Hause einzusperren und uns zu schützen; zehn Minuten am Tag auf Balkone und Fenster hinauszugehen, um all denen unsere herzliche Unterstützung auszudrücken, die darum kämpfen, dass es nicht so weitergeht. Techniker*innen, Fachleute, Nachbar*innen, Freiwillige um Hilfe zu bitten in einem Kampf, der in kriegerischen Begriffen ausgedrückt wird: «Krieg gegen das Virus», «wir werden diesen Krieg gewinnen»... Ich mag keine Kriege, nicht einmal diesen.

Sprechen wir eine andere Sprache: die der Rechte, des Gemeinsamen, der wechselseitigen Sorge. Zurückhaltung und Besonnenheit. Dieses Dogma, dass «jeder auf sich selbst aufpassen muss» und das Gemeinwohl sich erst als Folge zeigen wird, ist ein Scherbenhaufen. Wir verabschieden uns gerade vom klassischen Liberalismus und seinem perfiden neoliberalen Wiedergänger. Das 21. Jahrhundert beginnt erst wirklich mit dieser Pandemie. Es wird ein Jahrhundert sein, in dem die Verteidigung des Rechts auf das Leben aller Priorität haben wird. Denn vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte können sich die «Wenigen» nicht verteidigen, indem sie alle anderen im Stich lassen. Es gibt nicht nur keinen anderen Planeten, auf den man fliehen könnte, wenn dieser untergeht, sondern es bleibt auch keine Zeit, und die Pandemie, das Virus, diskriminiert nicht.

Wir brauchen einen anderen Vorstellungshorizont mit zumindest zwei Prinzipien. Als erstes Prinzip müssen wir uns das Recht auf das Leben aller sichern mit einem uneingeschränkten Zugang zum gemeinsamen Reichtum. Eine aktualisierte Vision der «Gemeingüter»: ein garantiertes Grundeinkommen, so etwas wie der existenzsichernde Lohn des 19. Jahrhunderts. Damals wurde das Recht auf die Bezahlung der Arbeit verteidigt, weil ein großer Teil der Bevölkerung diese nicht bekam; sie hatten Arbeit, aber ohne Bezahlung. Jetzt müssen wir das Recht auf ein Einkommen verteidigen. Die Idee, dass niemand zurückgelassen werden soll, ist schwerwiegend. Das ist keine Nächstenliebe, es geht ums Überleben.

Das zweite Prinzip ist eine neue Politik. Sie beweist, dass wir zu gehorchen wissen, wenn sie unser Leben verhandelt. Die öffentlichen Institutionen wiederum müssen die gesamte Entscheidungsgewalt, die sie sich angeeignet haben und die sie in unserem Namen ausüben, nutzen, um dieses erste Recht zu verteidigen. Wir definieren ein neues Prinzip der Gerechtigkeit: Alles, was gegen das Recht aller Menschen auf ein Leben in Würde verstößt, also die Politik der Austerität, die Korruption, die Suche nach persönlichem Gewinn bei der Ausübung von Politik, die Immobilienspekulation, die Privatisierung öffentlicher Güter, der Sozialabbau, die Prekarisierung der Arbeit, all dies sollte als Verbrechen gegen das Überleben angesehen werden. Leben statt Wachstum, das ist das Motto dieses Jahrhunderts. Nicht mehr das «Bereichert-Euch», das uns in allen Krisen und Kriegen des letzten Jahrhunderts in den Kopf gehämmert wurde. Geld ist notwendig, um zu leben, nicht um andere zu erpressen, und öffentliche Gelder werden benötigt, um dieses Recht zu fördern und zu verteidigen. Diese ungezügelte Gier ist zu weit gegangen. Sie muss gestoppt werden. Deshalb brauchen wir eine neue Politik.

Nietzsche hat einmal gesagt, dass wichtige Veränderungen unmerklich auf den Zehenspitzen daherkommen. Und Marx wusste sehr wohl, dass die Geschichte auf der schlechten Seite voranschreitet. Die Bedrohung erfordert von uns eine Anstrengung der Vorstellungskraft und einen Mut, deren wir uns bis jetzt nicht für fähig hielten. Lasst uns damit anfangen.

Das 21. Jahrhundert hat gerade erst begonnen.