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10 2020

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Eran Schaerf

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[1] Sie fragt ihn, was er gerade machen würde und er erzählt ihr von dieser Geschichte, die auseinanderfällt und dabei immer mehr Fußnoten hinterlässt, zu einem Textkörper, der zu imaginieren bleibt. Sie ist sich der Bedeutung von Fußnoten nicht sicher und fragt ihn, ob Fußnoten Brunnenvermeldungen seien. Sogleich merken sie, dass mit dem Wort Brunnenvermeldungen etwas nicht stimmt, und brechen in Lachen aus. Sie kennen das schon: ein Wort aus einer anderen Sprache hat sich in ihre deutschsprachige Unterhaltung hineinübersetzt. Solche Übersetzungen ereignen sich öfters, wenn sie Deutsch sprechen, die ihnen gemeinsame Fremdsprache. Und wie schon öfters fragt er sich, was sie so zum Lachen bringt, wenn ein Wort sich wie ein deutsches Wort anhört, in Wirklichkeit aber keines ist. Ist es die Freude darüber, dass die Bewegung zwischen Sprachen sich gelegentlich verselbständigt und unabsehbar ein Wort zu Tage fördert, das ihnen ebenso vertraut wie fremd vorkommt? Brunnenvermeldung, sagt sie, wird wohl die Übersetzung für Bronvermelding sein, das auf Holländisch Quellennachweis bedeutet. Aber was ist nochmal Levantinismus, fragt sie, um zum Anfang ihrer Unterhaltung zurück zu kehren, und was hat es mit Reenactment zu tun. Er zögert, wie er Levantinismus beschreiben soll. Historisch? Literarisch? Politisch? – ist es doch gerade ihre Überschneidung, die die gegenwärtige Relevanz von Levantinismus ausmacht. Er denkt dabei an die autobiografischen Essays von Jacqueline Kahanoff, die Literatur, Geschichte und Politik so ineinander verweben, dass das Intervall zwischen historischen und mythischen Ereignissen eine Rolle zu spielen beginnt. Für Albert Hourani, sagt er, war der Levantiner ein Imitator von Kulturen. Das verbindet Levantinismus mit Reenactment, sogar mit Assimilation - jener Praxis der Aufführung nach Vorlage. Inzwischen sind sie am Anfang ihres Spaziergangs angekommen. Imitation, sagt sie, ist interessant, wenn sie den Anspruch nicht erhebt, dem Imitierten genau zu entsprechen. Dann fällt ihr ein, dass es auf Japanisch ein Wort gibt, dass Lernen-durch-Schauen bedeutet. Es ist wie das englische learning-by-doing, aber eben anders. Die Vorstellung gefällt ihm, sagt er, dass wir beim Anschauen das Angeschaute in Gedanken imitieren und erst dann in Handlung übergehen.

[2] Handlung wäre demnach die Wiederaufführung (Reenactment) eines Gedanken-Ereignisses. Der Begriff Gedanken-Ereignis wurde von Hannah Arendt im Bezug auf Franz Kafkas Geschichte Er geprägt. (Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 13)

[3] Der fremde Gebrauch der Sprache wird hier nicht weiter charakterisiert, als dass es dabei um eine Handlung geht, in der Worte nicht allein gelesen, sondern auch erblickt werden. Vermutlich geht dieser Sprachgebrauch auf Theodor W. Adorno zurück. “Wie der Essay die Begriffe sich zueignet“, vergleicht Adorno mit „dem Verhalten von einem, der im fremden Land gezwungen ist, dessen Sprache zu sprechen, anstatt schulgerecht aus Elementen sie zusammenzustümpern. Er wird ohne Diktionär lesen. Hat er das gleiche Wort, in stets wechselndem Zusammenhang, dreißig mal erblickt, so hat er seines Sinnes besser sich versichert, als wenn er die aufgezählten Bedeutungen nachgeschlagen hätte, die meist zu eng sind gegenüber dem Wechsel je nach dem Kontext, und zu vag gegenüber den unverwechselbaren Nuancen, die der Kontext in jedem einzelnen Fall stiftet. Wie freilich solches Lernen dem Irrtum exponiert bleibt, so auch der Essay als Form.“ (Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur I, Frankfurt am Main 1958, S. 29).

[4] Es handelt sich bei dem Stück um eine levantinische Wiederaufführung, ein Genre, das das Performative in alltäglichen Handlungen ins Licht rückt und das in den dreißiger Jahren des 21. Jahrhunderts populär wurde. Es galt als Reaktion auf eine Welle literarischer Erfahrungsberichte, in denen Autoren ihre Identität als Ergebnis von Wahrheitsfindung dargestellt haben. In der levantinischen Wiederaufführung hingegen definieren sich Autoren als Übersetzer der Projektionen, die seitens der Gesellschaft auf sie treffen.

[5] Einem Irrtum exponiert zu sein – ob wegen Hautfarbe, Kleidungstil, Verhalten oder Sprachgebrauch - ist freilich eine Erfahrung, die nicht nur Migranten machen. Die Wanderung durch Rollen im Alltag bringt unweigerlich Momente der Exponiertheit mit sich und lässt dabei temporäre Bühnen entstehen. Diese Bühnen sind nicht so sichtbar wie Theaterbühnen, obgleich ihnen an Theatralität nichts mangelt (Fast nichts – denn, anders als bei einem Stück, das fürs Theater geschrieben wurde, lässt sich bei diesem Stück kein Autor identifizieren, nur Übersetzer, die es wiederaufführen). Auf einer solchen Bühne befindet auch er sich, wandert von einer Rolle in eine andere, und redet wie der oder die oder wie Pini, der sich bewusst wird, dass er nicht in der Uniform eines israelischen Soldaten im Libanon auftreten kann, ohne die Kontrolle darüber zu verlieren, welche Figuren sein Auftritt bei seinen Zuschauern hervorruft. „Nicht ich habe über die Rollenverteilung entschieden und nicht ich habe die Bestandteile der Handlung bestimmt. Bis jetzt wusste ich nicht, dass, wenn du dazu bereit bist, in den Kleidern einer bestimmten Figur auf eine Bühne zu treten, wird dir auf der Stelle die Anwesenheit anderer Figuren aufgezwungen, mit ihren Namen, Eigenschaften, Begabungen, auch gesellschaftliche, nationale und sogar religiöse Situationen werden dir aufgezwungen und alle möglichen Verknüpfungen, die man sich vorstellen kann. Wenn du die Geschichte nach langer Zeit aufzurollen beginnst, scheint es dir, oder du versuchst dich, die anderen, davon zu überzeugen, dass die Motivation der Figuren, deine Rolle und ihre, der Moment ihres Auftretens und sogar der Moment ihres Todes, dein Bühnenabtritt und das Nichteintreten deines Todes, von vornherein bestimmt, bereits beim Schreibprozess des Theaterstücks geplant und organisiert wurden. Und dass weder du noch sie an diesem Schreibprozess teilhatten.“ (Emanuel Pinto, Tinnitus, Tel Aviv 2009, S. 13)

[6] Sie haben sich verabschiedet und für in hundert Jahren verabredet, zuversichtlich, dass der Zufall – oder dieses Stück? – sie eher zusammenbringen würde. Bald darauf wird ihm eine Figur aufgezwungen, die für eine Weile als die Hauptfigur des Stücks erscheint. Dieser Vorgang, in dem ihm Figuren aufgezwungen werden, gibt ihm das Gefühl, eine Projektionsfläche für andere zu sein. Das drückt sich gerade dann aus, wenn er scheinbar von sich spricht. Vgl. die darauf folgende Szene: „Meine Augenbrauen zogen sich zusammen als der Zahnarzt mir sagte, in Schweden, wo er sein Handwerk gelernt habe, würden schon seit dreißig Jahren keine Goldkronen gemacht werden, damit niemand wie ein Kümmeltürke aussähe. Deshalb würde er mir eine Krone aus Keramik empfehlen. Er muss meine Mimik so verstanden haben, als wäre ich lediglich mit der Bezeichnung Kümmeltürke nicht vertraut, und fügte hinzu: damit niemand wie ein Levantiner aussähe. Es überraschte mich wenig, dass „ein Levantiner“ bemüht wurde, um darzustellen, wie ein Europäer, für den er mich hielt, nicht aussehen solle. Und doch staunte ich auf dem Heimweg über den Weg, den „der Levantiner“ hinter sich gelassen hat, um in einer Berliner Zahnarztpraxis auf der Allee der Kosmonauten zu Beginn des 21. Jahrhunderts wiederaufgeführt zu werden.“ (Paul Esterhazy, Sei echt! Sonst sieht sich der Nationalstaat bedroht, Berlin 2022, ohne Seitenangaben)

[7] Zur Wiederaufführung einer Figur in der Rede siehe auch Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016, S. 192: „Eine Beleidigung ist ein Zitat aus der Vergangenheit. Ihre Bedeutung hat sie nur deshalb, weil sie von unzähligen Sprechern wiederholt worden ist. ‚Ein schwindelerregendes Wort aus dem Dunkel der Zeiten’ (‚un mot vertigineux venu du fond des âges’), schreibt Genet in einem Gedicht. Doch für die so Adressierten handelt es sich stets auch um einen Blick in die Zukunft, um die fürchterliche Ahnung, dass diese Worte und all die Gewalt, die sie mit sich führen nie weggehen werden.“

[8] Er fragt sich, welche Zukunft der Auftritt des Levantiners bergen mag. Zunächst recherchiert er aber die Geschichte der Bürgerinitiative, die nach dem Fall der Berliner Mauer für die Umbenennung der Allee der Kosmonauten in Allee der Kosmopoliten gekämpft hat. Er hofft, ein Statement zur kosmopolitischen Gesellschaft zu finden oder mindestens ein Plädoyer für die Nennung von Straßen nach zukünftigen Ereignissen, um die Welt davor zu retten, ein Denkmal für die Welt zu werden. Die Recherche ergibt nichts. Er beginnt daran zu glauben, dass es nur eine Geschichte ist, an die er glauben soll, wie wenn sie das bestechende Ergebnis seiner Recherche wäre.

[9] Verschiedene Auftritte der Levantiner kreuzen seine Gedanken. Jacqueline Kahanoff beschreibt den Levantiner als ein „Mischling von zwei oder mehr Kulturen, der mit all seinen Schwächen und Selbstzweifeln fähig ist, das Übernommene für den Wiederaufbau und die Erneuerung einer eigenen Gesellschaft einzusetzen [...] In uns gab es eine starke Mischung von verzweifelter Aufrichtigkeit und Vortäuschung, einen enormen Durst auf Wahrheit und Wissen, gepaart mit dem obskuren Verlangen, uns zu verteidigen, sowohl gegen die arrogante Dominanz Europas als auch gegen die muslimische Mehrheit [...] die ihre Minoritäten verschmähte.“ (Jacqueline Kahanoff, Ambivalent Levantine, S. 198 und Childhood in Egypt, S. 12, in: Deborah A. Starr und Sasson Somekh Hrsgg., Mongrels or Marvels. The Levantine Writings of Jacqueline Shohet Kahanoff, California 2011). Albert Hourani hingegen stellt sich den Levantiner als unfähig vor, obgleich er in seiner Beschreibung ähnliche Eigenschaften aufzählt. „Ein Levantiner zu sein,“ schreibt er, „heißt, in zwei oder mehreren Welten zu leben, ohne der einen oder der anderen anzugehören; es heißt, in der Lage zu sein, durch die äußerlichen Formen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität, Religion oder Kultur zu gehen, ohne sie tatsächlich zu besitzen. Es heißt, keinen eigenen Wertekanon mehr zu besitzen; unfähig zu sein, etwas zu erschaffen, sondern nur zu imitieren und nicht einmal richtig, da dies bereits einen bestimmten Grad an Originalität erfordern würde. Es heißt, keiner Gemeinschaft anzugehören und nichts Eigenes zu besitzen. Es offenbart sich in Verlorenheit, Anmaßung, Zynismus und Hoffnungslosigkeit.“ (Albert Hourani, Syria and Lebanon. A Political Essay, London 1946, S. 70).

[10] Hourani war der Sohn libanesischer Eltern griechisch-orthodoxen Glaubens, die von Marjeyoun nach Manchester einwanderten. Seine Familie konvertierte zum schottischen Presbyterianertum, er selber konvertierte als Erwachsener zum Katholizismus. Er besuchte eine alternative Grundschule, die sein Vater gründete, nachdem er als Ausländer von einer Schule in Manchester nicht aufgenommen wurde. Diese Erfahrung hinderte den in Manchester geborenen Hourani nicht daran, die eigene Assimilation weiter voran zu treiben. Sein Buch Syria and Lebanon hat er 1939 begonnen, womöglich in Kairo, wo er im Büro des britischen Außenministeriums und als Regierungs-Attaché beim dortigen britischen Armeehauptquartier die Kriegsjahre verbrachte. Ägypten war zu der Zeit zwar offiziell nicht mehr eine britische Kolonie, stand jedoch bis in die 1950er Jahren hinein unter britischem Einfluss. Vor dem Hintergrund der sich formierenden arabischen nationalen Bewegung beschäftigte sich der junge Hourani mit deren zukünftiger Einstellung gegenüber dem Westen. Er skizziert zwei Möglichkeiten für die Positionierung dieser Bewegung im Verhältnis zu Europa und Amerika: Sie kann sich als Opposition bilden, die sich lediglich das technische Knowhow vom Westen borgt, um sich gegen westliche Beeinträchtigungen und seine geistige Herausforderung zur Wehr zu setzen; oder sich dem Wiederaufbau der arabischen Gesellschaft durch Assimilation an die „besten Elemente westlichen Lebens“ verschreiben. Um Assimilation von Levantinismus abzugrenzen fügt Hourani in Klammern hinzu, dass sie nicht notwendigerweise durch Imitation erfolgen soll (Ebd., S. 2). Denn Imitation ist die Fähigkeit, die er dem „Levantiner“ zuschreibt. Sie ist vielleicht die einzige Fähigkeit, die „der Levantiner“ besitzt. Sie macht ihn in Houranis Augen für den nationalen Aufbau der Gesellschaft in der post-kolonialen Ära ungeeignet. Der Unterschied zwischen der levantinischen Imitation anderer Kulturen und die Assimilation im Sinne der Anpassung einer Kultur an eine andere dramatisiert sich in einer späteren Szene.

[11] Wenn die Kulturen von Besatzer und Eingeborenen aufeinandertreffen, beginnt die lokale Elite die Kultur der Besatzer zu imitieren, wobei sie aus Scham ihre eigene Kultur nach und nach ablehnt. Der Besatzer aber verspottet ihre oberflächliche Imitation seiner Kultur und wird immer mehr von der Idealisierung der Eingeborenenkultur ergriffen. Die lokale Elite hofft auf die Zusammenarbeit mit dem Besatzer bei der „Errichtung dieser neuen gesellschaftlichen Ordnung“, doch werden ihre Reformforderungen zurückgewiesen. Sie beginnt, die Autorität der Besatzer durch die von ihm übernommene Kultur – die inzwischen ein „integraler Teil“ von ihr wurde – zu destabilisieren. (Jacqueline Kahanoff, Ambivalent Levantine, S. 196-198). Vgl. Homy K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen, 2000, 125- 136 und 178. Bhabha beschreibt Mimikry „als den Affekt der Hybridität – als Modus sowohl der Aneignung als auch des Widerstands, vom Disziplinierten zum Begehrenden [...] Das Bedrohliche an der Mimikry besteht in ihrer doppelten Sicht, die durch Enthüllung der Ambivalenz des kolonialen Diskurses gleichzeitig dessen Autorität aufbricht [und] durch das beständig wiederholte Gleiten von Differenz und Begehren“ Autorität zerstört.

[12] Manchmal greift er doch zum Diktionär und übersetzt, ohne es wirklich zu können; um einen Gedanken aus einer anderen Zeit und einer anderen Sprache erblicken zu können; und vielleicht so zu verstehen, warum die Imitation einer Kultur minderwertig sein soll gegenüber ihrer „richtigen“ Aufführung durch Menschen, die in sie hineingeboren wurden. Anders als Hourani, der seine Assimilation an die britische Kultur musterhaft vollzogen hat, weiß die kleine Jacqueline in Jacqueline Kahanoffs Essay Childhood in Egypt, dass ihre Kindheit von der britischen Gouvernante und Alice in Wonderland besetzt ist, wie Ägypten von den britischen Soldaten. Ähnlich wie Kafkas Er, der zwei Gegner hat – der erste bedrängt ihn von hinten während ihm der zweite den Weg nach vorne verwehrt – kämpft Kahanoff mit ihrem östlichen und westlichen Begehren. Assimilation ist für sie keine Option, weil die Anpassung an eine einzige Kultur keinen Raum für kulturelle Differenzen lässt. Sie eignet sich den Begriff Levantinismus wieder an, der während ihrer Kindheit in Ägypten von britischen Kolonisatoren gebraucht wurde, um den Fehlversuch der Kolonisierten zu bezeichnen, westliche Kultur zu imitieren. Levantinismus impliziert für Kahanoff nicht nur die gegenseitige Befruchtung unterschiedlicher Kulturen, sondern auch einen Raum, in dem sich Machtverhältnisse eingeschrieben haben und wo Widerstand gegen die hegemonialen Kräfte der Gesellschaft möglich ist. Der levantinische Akt des Widerstands ist die Imitation. Auch wenn der Levantiner nicht „richtig“ imitieren kann, wie Hourani bemängelt, sieht Kahanoff in dem Fehlversuch eine kulturelle Praxis, die Ost und West subversiv verheiratet. Die Hochzeit ist kein „Fest der Identitäten“ (Bizawe), eher ein gesellschaftspolitisches Risikounternehmen. In der Umkehrung der Bedeutung von Levantinismus sucht Kahanoff nach der möglichen Umkehrung der Machtverhältnisse, die in diesem Begriff enthalten sind – zwischen Herrscher und Beherrschten, Europäer und Imitator, Fortschritt und Tradition. „Wir sind nicht so weit entfernt von deinem Ideal, wie du denkst,“ sagt Samuel zu seinem Vater, „auch wenn unsere Realität mit deinem Traum nicht zusammenpasst. Du hast uns gewünscht, eine Art Hochzeit zwischen Ost und West zu feiern. Gab es je eine perfekte Ehe? Kreuzungen bringen Mischlinge oder Wunder hervor und das ist es, was wir riskiert haben.“ (Jacqueline Kahanoff, Jacob’s Ladder, London, 1951; hebräische Ausgabe, 2014, 115; Eyal Sagui Bizawe, Vorwort zur hebräischen Ausgabe von Jacob’s Ladder, S. 39)

[13] Die Szene ist ein Schlachtfeld, auf dem die Kräfte der einen und der anderen Sprache aufeinanderprallen. Gewöhnlich bringt der „Gang zum Diktionär“ nur ein Fremdwort oder eine Definition mit sich. Doch hier dramatisiert sich der Blick in die Fremdsprache und bewirkt eine Überblendung der Figuren, wie sie nur in Gedanken-Ereignissen vorkommt. Er, Kafkas Er, der Levantiner, die Levantinerin, der Mischling und später auch weitere Figuren blenden sich ineinander, sprechen ihren Teil und blenden sich wieder aus, aber nur, um sich in eine weitere Figur einzublenden.

[14] „Wegen ihrer Vielfalt wurde die Levante oft mit einem Mosaik verglichen – ein flaches Bild, aus Steinstücken unterschiedlicher Farben zusammengefügt. Für mich ist sie mehr wie ein Prisma, dessen viele Facetten in den scharfen Kanten von Differenzen zusammenfinden, die je nach ihrer Position im Raum-Zeit-Kontinuum das Licht reflektieren oder brechen [...] und vielleicht ist für die Levante die Zeit gekommen, um sich im eigenen Licht neu zu bewerten, anstatt sich durch europäische Blicke, als altertümlich exotisch, müde, fahl und fast leblos zu sehen.“ Ein Prisma, das Licht umleitet, verschiebt den Fokus vom Objekt der Anschauung zu den Anschauungsbedingungen. Die Levante ist nicht mehr das altertümliche Mosaikbild, sondern ein optischer Reflexionskörper. (Jacqueline Kahanoff, From East the Sun, in: Deborah A. Starr und Sasson Somekh Hrsgg., Mongrels or Marvels. The Levantine Writings of Jacqueline Shohet Kahanoff, California 2011, S. 247)

[15] Die Wiederaufführung eines Ereignisses, das nicht stattgefunden hat, wird oft als essai (Französisch. Probe) bezeichnet. Siehe dazu ein Gespräch, das zwischen Aminatta Forna, Jacqueline Kahanoff und Homy K. Bhabha hätte stattfinden können und hier wiederaufgeführt wird. Forna: Wir holen uns unsere Geschichten zurück, wir besetzen das Zentrum und wir kehren den Blick um [...] Wir eignen uns nicht nur aufs Neue unsere Geschichten an, wir wenden auch den Blick auf die, die uns sehen [...] Die Macht der Geschichte liegt in den Händen des Geschichtenerzählers. Wer sich selbst immer nur durch die Augen eines anderen sieht, nimmt sich durch eine verzerrte Linse wahr. Diese Erfahrung teilen alle, die von der Geschichte an den Rand gedrängt wurden. Kahanoff: Ich teile auch diese Erfahrung, doch mein Blick, ob auf die eigene Geschichte oder auf „die, die uns sehen“, ist in sich gespalten. Ich sehe meine eigene Geschichte und sehe sie gleichzeitig auch durch die Augen des Kolonisators. Es scheint mir, dass wir nicht nur als minderwertig gesehen wurden, sondern uns selbst auch als minderwertig gesehen haben – oder, wie man in Israel sagt, als „Levantiner“, und zwar zu sehr, um es zu wagen, uns literarisch selbst darzustellen. Gide und Malraux waren unsere Idole und es fiel uns nicht ein, dass es unsere Aufgabe sei, unsere Geschichte in unseren Worten zu erzählen, anstatt sie zu imitieren. Selbstverständlich besuchten wir die italienische Oper in dem von Isma’il Pascha gebauten Opernhaus und fühlten uns wie in Prousts Beschreibung eines Opernbesuchs in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, ein Buch, das wir zuvor gelesen hatten. Doch beim Schreiben fiel uns auf, dass es nicht um Imitation in Sinne von übernehmen oder kopieren geht, sondern um einen Akt der Ermächtigung. Als ob wir uns in unserem Namen berechtigen mussten, unsere Geschichte zu schreiben. Den Platz am Rande gegen einen Platz im Zentrum einzutauschen, wäre mir zu wenig gewesen, die Hierarchie zwischen Zentrum und Rand muss zum Einsturz gebracht werden. Bhabha: Was zwischen Mimesis und Mimikry erscheint, ist ein Schreiben, eine Form der Repräsentation, die die Monumentalität der Geschichte beiseite schiebt und sich über ihre Macht, Modell zu sein, jene Macht, die sie angeblich imitierbar macht, ganz einfach lustig macht. (Aminatta Forna, Wer wir sein sollten, Freitag, Ausgabe 0917, 15.3.2017; Jacqueline Kahanoff, Tarbut BeHithavut [Hebräisch. Kultur im Werden], in: David Ohana Hrsg., Jacqueline Kahanoff, Ben Schnei Olamot [Hebräisch. Between Two Worlds], Jerusalem 2005, S. 123; Homy K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen, 2000, S. 129)

[16] Hier lässt sich fragen, ob die Hierarchie zwischen Zentrum und Rand durch Koordinaten jenseits des Zentrums herausgefordert werden kann? Und welche Rolle spielt dabei die Imitation? Nehmen wir eines von Kahanoffs Beispielen für die Beziehungen zwischen Minderheiten in einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft unter der britischen Kolonialherrschaft in Ägypten. Wenn der Synagogendiener Monsieur Viktor dem koptischen Pater Antonio den Kronleuchter der Synagoge für besonders feierliche Messen leiht, imitiert dann die christliche Messe ein jüdisches Ritual? Wenn Pater Antonio der Synagoge für die hohen Feiertage seine schönsten Kerzenhalter zur Verfügung stellt, werden dann christliche Gebräuche in der Synagoge wiederaufgeführt? Oder handelt es sich dabei um einen Austausch zwischen zwei befreundeten Geistlichen unterschiedlicher Religionen, die auf das Äußerliche, auf die Performance des religiösen Rituals Wert legen, anstatt auf die Herkunft der rituellen Objekte zu achten, die offenbar ebenso für das Ritual der einen wie der anderen Religion gebraucht werden können? (Eva Meyer und Eran Schaerf, Europa von weitem, Film und Hörspiel, Bayerischer Rundfunk/Hörspiel und Medienkunst, 1999; Jacqueline Kahanoff, MiMizrakh Shemesh [Hebräisch. Vom Osten, das Licht], Tel Aviv, 1978, S. 163)

[17] Hourani behauptet, dass der Levantiner unfähig sei, etwas zu erschaffen, dass er nur imitieren könne und das nicht einmal “richtig“, da die Imitation bereits "einen bestimmten Grad an Originalität“ erfordere (Hourani, Ebd.). Der Kontext der arabischen nationalen Bewegung im Werden, in dem dieser Anspruch auf Originalität erhoben wird, ist kein Kunstkontext, der Performances als solche kennzeichnet. Vielmehr ähnelt dieser Kontext einem Markt der Identitäten, wo kolonisierten Subjekten eine neue Identität zugeschrieben werden soll, die bald als Voraussetzung für ihre Einordnung und Rechtsansprüche in Nationalstaaten dienen wird. Auf diesem Markt ist der Levantiner „ein Performer“ (Gil Hochberg, Permanent Immigration: Jacqueline Kahanoff, Ronit Matalon, and the Impetus of Levantinism, Boundary 2 31:2 2004, S. 220), der „durch die äußerlichen Formen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität, Religion oder Kultur“ geht. Er führt sie wieder auf, als ob er sie proben würde. Doch nicht mit dem Ziel, die passende Identität für sich zu finden. Seine Performance zeigt, dass Identität eine Sache der Wiederaufführung und nicht der Herkunft ist. Für das nationalstaatliche Projekt stellt diese Performance eine Bedrohung dar, weil die aufgeführte Identität dem Performer nicht zugeschrieben werden kann, er sie aber auch nicht als Kunstperformance ausgibt. Er verlässt nicht seine sonstigen Rollen im Alltag, um für die Dauer der Aufführung in eine andere Zeit einzutauchen und anschließend wieder in seinen Alltag zurückzukehren. Auch gibt er nicht bekannt, wann seine Performance beginnt und wie lange sie dauert. Wie sollte er auch? Sie ist sein Alltag, der auf Bühnen, die nicht als solche markiert werden, aufgeführt wird. Er bedient sich dabei Formen, denen er sich sogleich entzieht, indem er auf ihren Besitz verzichtet. Er ist ein Schauspieler, der bewusst nicht versucht, mit seinen Rollen identisch zu werden. In dem er sie aufführt, legt er Zeugnis dafür ab, dass Kultur eine Wiederaufführung von Kultur ist; dass Identität weder die Voraussetzung noch das Ergebnis dieser Wiederaufführung ist. Sie ereignet sich.

[18] „When an individual plays a part he implicitly requests his observers to take seriously the impression that is fostered before them. They are asked to believe that the character they see actually possesses the attributes he appears to possess, that the task he performs will have the consequences that are implicitly claimed for it, and that, in general, matters are what they appear to be.” (Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, Edinburgh, 1956, S. 10).

[19] Er übersetzt: „Ich bin wie jeder, der im Alltag eine Rolle spielt, doch verlange ich nicht von Ihnen zu glauben, dass die Person vor Ihnen tatsächlich die Attribute besitzt, die sie zu besitzen scheint. Ich führe diese Attribute wieder auf, beanspruche aber nicht ihren Besitz. Ich führe sie wieder auf wie der Schauspieler, den Sie auch nicht für die Person halten, die er darstellt. Sie wissen schon, dass ich nie für einen Europäer gehalten werden kann, nicht in Europa, und nicht dort, wo ich herkomme. Zum Glück ist das nicht meine Absicht. Wenn nicht meine Hautfarbe, wird mich mein Akzent verraten. Ich verkörpere die doppelte Sicht: ich bin der, der hingegangen ist und der, der hergekommen ist. Von Ankunft reden wir ein andermal. Prozesse der Ent-Identifizierung bringen mir wenig, bin ich doch seit je unfähig gewesen, mich mit jemandem oder mit etwas, ob im Kino oder bei einer Demonstration, zu identifizieren. Wenn Sie glauben, ich verhalte mich so, weil ich in Wahrheit so bin und nie anders sein könnte, sage ich Ihnen: ‚Ich werde nie mehr von mir sagen, ich sei dies oder ich sei das. Von jetzt an bin ich nicht mehr die Verlängerung eines gegebenen Zustands. Ich bringe die Wahl zwischen zwei sich ausschließenden Möglichkeiten zum Ausdruck, zwischen dem Zustand selbst und der ihn übersteigenden Möglichkeit’ (Eva Meyer, Von jetzt an werde ich mehrere sein, Frankfurt am Main, 2003, S. 5).“ (Paul Esterhazy, Sei echt! Sonst sieht sich der Nationalstaat bedroht, Berlin, 2022, ohne Seitenangaben)

[20] Algier und andere algerische Städte wurden von Frankreich 1830 besetzt, nachdem der algerische Herrscher Hussein Dey den französischen Konsul mit seinem Fliegenwedel schlug, als dieser die Rückzahlung französischer Schulden aus der Zeit der Napoleonischen Kriege ablehnte. (Wikipedia, 7.1.17)

[21] Mit dem Ende der französischen und britischen Kolonien war der Auftritt des Levantiners keinesfalls zu Ende. Seine Rolle wurde jedoch leicht umgeschrieben. Er ist nicht mehr jemand, der die europäische Kultur imitiert und sie dadurch verunreinigt; auch steht er nicht nur den arabisch-nationalen Bestrebungen im Weg, wie Hourani ihn beschrieben hat. In der Presse der 1940er bis 1960er Jahre scheint er auch den jüdischen Staat zu gefährden. Nach der ersten Einwanderungswelle marokkanischer Juden nach Israel (1949) zitiert die israelische Tageszeitung Haaretz einen französischen Diplomaten, der anonym bleiben möchte: „Die Immigration von bestimmtem menschlichem Material zieht die jüdische Nation herunter und führt sie in einen levantinischen Albtraum.“ Die britische Tageszeitung Manchester Guardian beschuldigt den damaligen israelischen Premierminister Ben-Gurion, er würde die junge Nation in den Levantinismus stürzen. ‚What Is Levantinism?’, fragt der israelische Schriftsteller jüdisch-irakischer Herkunft Nissim Rejwan 1961 in seiner Jerusalem Post-Kolumne. „The Levant, he writes, is first and foremost a geographical space, yet Levantinism has less to do with geography than with culture: ‘Levantinism is a cultural [concept] . . . you can come from the Levant and be the opposite of a Levantine: you can hail from Europe and be the epitome of Levantinism.’” Wenn jeder – unabhängig von seiner Herkunft, Levantiner werden kann, ist es klar, dass Levantinismus für die jüdische Nation-im-Werden eine Bedrohung darstellt. (Hochberg, Ebd. S. 220).

[22] Nissim Rejwans Kolumne in der Jerusalem Post hieß HaTur HaShuli. Wie auch immer dieser Titel übersetzt würde – Nebensächliche Kolumne oder Die Kolumne am Seitenrand – es steht nicht nur Bescheidenheit dahinter, sondern auch die Wiederaufführung der Haltung einer Macht, die dem, was sich von ihr aus am Rande befindet, eine Nebenrolle zuschreibt.

[23] Der Spiegel berichtet 1965, dass Israelis – wohl Israelis europäischer Herkunft – sich von der – in Anführungsstrichen – „Gefahr des Levantinismus" bedroht sehen und ihre zurückgebliebenen Glaubensbrüder aus Nordafrika im Schnellverfahren assimilieren wollen (Der Spiegel 31/1965). Welches Assimilationskonzept schwebte dem Spiegelautor dabei vor? Das Konzept aus Deutschland, das bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die in Deutschland lebenden Juden glauben ließ, sie wären Deutsche, kann es wohl nicht sein. 1965 hätte ein deutsches Gesellschaftsmodell in Israel ohnehin keinen Zuspruch gefunden. Überdies hatte die jüdische Minderheit in Deutschland ihre Assimilation - wenn auch nicht in freier Wahl - selbst betrieben. Die Assimilationspolitik, die vom französischen Mutterland mit Gewalt in den Kolonien betrieben wurde, um kolonisierte Völker zu „zivilisieren“, kann Der Spiegel auch nicht gemeint haben. „Als nationales Gebilde sind wir im Werden begriffen“, schrieb 1959 die inzwischen nach Israel eingewanderte Kahanoff. Dieses Gebilde „kann nicht in eine Form hinein gegossen und als kleine identische Statuen herausgeschlagen werden.“ Es kann auch nicht wie ein Bild an die Wand gehängt werden. Identität bildet sich in Ereignissen und „[you] cannot hang an event on the wall, only a picture“, wie Mary McCarthy die Vereinnahmung von Ereignisse durch die künstlerische Warenproduktion einmal kommentierte. (Zitiert nach Sven Lütticken, An Arena in Which to Reenact, in: Sven Lütticken Ed., Life, Once More. Forms of Reenactment in Contemporary Art, Rotterdam 2005, S. 21). Im Rahmen der israelischen Schmelztiegelpolitik sollten jüdische Einwanderer mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund sich einer Nation-im-Werden anpassen, zugleich aber wurde diese Politik vom Bild einer europäisch assimilierten Nation dominiert. Gegenüber der dominanten Gruppe Juden europäischer Herkunft, die an der Macht war, fanden sich die Neuankömmlinge aus arabischen Ländern in der Position einer kolonisierten Bevölkerung, der aus Mangel an technischen Kompetenzen nichts anderes zu tun blieb, als zu lernen, Folge zu leisten, sich anzupassen und absorbiert zu werden. Doch „[d]er Mythos oder die Hoffnung auf Einheit des in Israel lebenden jüdischen Volks war so stark, dass diese koloniale Erscheinung“ für beide Bevölkerungsgruppen „verschwommen“ geblieben ist. Ein Anfang der Veränderung dieses Verhältnisses markiert der Aufstand von Wadi Salib, 1959, dem Jahr, in dem Kahanoff den hier zitierten Essay auf Hebräisch veröffentlichte. (Jacqueline Kahanoff, Ambivalent Levantine, in: Mongrels or Marvels, S. 199 u. 209). Ein Bereich, in dem jüdische Migranten aus arabischen Ländern in das Bild der europäisch assimilierten Nation hineinpassten – und zwar als die, die sie waren: arabische Juden – war der israelische Nachrichtendienst. Dort wurden sie für eine spezielle Einheit engagiert und – nicht assimiliert, im Gegenteil – trainiert, sich als Araber auszugeben, also sich selbst wiederaufzuführen, mit dem Ziel, in der arabischen Gesellschaft in Palästina und Nahost verdeckte Operationen auszuführen. „Junge Juden, überwiegend aus Syrien, Irak, Palästina und dem Libanon, mit Arabisch als Muttersprache, wurden also unter zweifelhaften Umständen zu Schauspielern in einem Drama der Zugehörigkeit zur ihnen vertrauten arabischen Kultur, ein Drama, das nicht hätte stattfinden können ohne die Konditionierung, die das jüdische Kollektiv in Palästina durch die zionistische Rahmenerzählung erfuhr“. (Yigal Shalom Nizri, Die Stimme Jaakobs Stimme, die Hände Essaws Hände, in: Eran Schaerf, Frequenzmoduliertes Szenario, herausgegeben von Herbert Kapfer und Joerg Franzbecker, München 2015, S. 338)

[24] Es mag am „autobiografischen Stoff“ liegen, der in Kahanoffs Essays „verborgen“ ist, dass die darin beschriebene levantinische Option als kulturelle und nicht als politische Agenda rezipiert wurde. Die „seltsamen Ideen [...] haben mich mitgerissen [...], doch habe ich in ihnen keinen ‚Aktionsplan’ oder ein Programm gesehen, das den Konflikt zwischen uns [Israelis] und unseren Nachbarn mildern könnte, weil ich damals dachte, dass die nationale Dimension, die heutzutage die politische Wirklichkeit diktiert, darin elegant ignoriert würde“. (Sasson Somekh, Al „Alexandria“ [Hebräisch. Über „Alexandria“], in: MiKarov [Aus der Nähe] 2, 1998, S. 25). Kahanoff hat die nationale Dimension nie isoliert behandelt, so wie sie nie irgendein Thema isoliert behandelt hat. Auf der Komplexität von Zusammenhängen zu bestehen ist erst eine politische, dann eine literarische Entscheidung. Über Schriftsteller*innen zu schreiben, „die man nicht national kategorisieren kann“, die „Frucht der langen kolonialen Ära sind“, die „der Dimension ihrer nationalen Identität beraubt wurden“, die „nicht in ihrer Muttersprache schreiben“ und „die Mutation von einer traditionellen zu einer neuen Gesellschaft“ zum Ausdruck bringen, heißt nicht, die nationale Dimension „elegant“ zu ignorieren. Vielmehr heißt es, zu zeigen, dass die nationale Dimension ihre Rolle zu Ende gespielt hat, und nun die Zeit für jenes Subjekt gekommen ist, das dabei erschaffen wurde, um seine Rolle zu spielen: verloren, zerrissen und verzweifelt und dennoch zu leben imstande, „mit einem Bein in seiner Gemeinschaft und dem anderen in Großbritannien“, wie Kahanoff von V. S. Naipaul schreibt. (Jacqueline Kahanoff, Safrut Shel Mutazia Hevratit [hebräisch. Literatur der gesellschaftliche Mutation], in: David Ohana Hrsg., Jacqueline Kahanoff, Ben Schnei Olamot [Hebräisch. Between Two Worlds], Jerusalem, 2005, S. 109-111, erstveröffentlicht in Haaretz, 8.12.72). Nicht zuletzt sieht der Essay From East the Sun (geschrieben 1968, ein Jahr nach der Unterzeichnung des EG-Fusionsvertrags) im politischen Potential des levantinischen Gesellschaftsmodells eine „brauchbare Alternative zu Imperialismus, Neokolonialismus, christlichen, moslemischen, oder Großmachtrivalitäten und Herrschaft“ für eine europäische Gesellschaft von Minderheiten. „In Bezug auf den Mischmasch der Gemeinschaften der Levante erscheint das Konzept des Nationalstaats modern und fortschrittlich. Doch global gesehen dürfte er bereits obsolet geworden sein. Psychologisch gesehen haben Menschen nach wie vor das Bedürfnis, kleineren, behaglicheren Gemeinschaften anzugehören und ihre Geschichten sind ihnen nach wie vor wichtig. Während Europa sich vereinigt, setzen europäische Minoritäten wie Bretonen, Basken, Waliser, Flamen, Iren und Schotten ihre kulturelle Autonomie gegen den alles umfassenden Nationalstaat durch. Darüber hinaus entstehen in Folge von Immigration nach dem Zusammenbruch der europäischen Kolonien neue kulturelle Minderheiten wie Afrikaner, Pakistanis, West-Inder, Vietnamesen und Algerier. Sie bilden neue soziale und kulturelle Enklaven in Europa - ähnlich wie früher fast ausschließlich die Juden – und erheben keine territorialen Ansprüche in ihrer neuen Umgebung. Sie sind nicht und wollen nicht in den Nationalstaat völlig integriert sein oder von ihm absorbiert werden [...] sehr nach der alten levantinischen Vorlage. In anderen Worten, der westliche Nationalstaat wird bereits levantinisiert.“ (Jacqueline Kahanof, Mongrels or Marvels, S. 247-249).

[25] Schwindelerregende Perspektivwechsel kennzeichnen auch diese Szene. Nach der Zugfahrt im Israel der 50er Jahre mit dem europäischen Bettler, der sich zu gut ist, um von Seines-Ungleichen eine Spende anzunehmen, sind wir wieder in Europa. Als wäre das der Ort, wo sich das levantinische Gesellschaftsmodell erst durchsetzen müsste – und zwar gegen das Gedächtnis von der Assimilation. Genauer gesagt sind wir in Berlin Tiergarten, in Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft. Dort erscheint Goffmans Individuum wieder (siehe Fußnote 18) und fragt nach Möglichkeiten, seine Individualität, seine Unteilbarkeit, neu zu programmieren. Magnus Hirschfelds Antwort lautet: Assimilation. Dabei denkt er „in erster Reihe an das Gesetz der Mimikry, die Anpassung an die Umgebung. Das Wort, in dem die alte Benennung des Schauspielers ‚Mime’ steckt, leitet sich von nachahmen ab. Vieles, was für ein Volk typisch erscheint, beruht in Wirklichkeit nur auf Mimikry, teils entstanden durch aktive, mehr oder minder unbewusste Anpassung, teils durch den suggestiven Einfluss von Umgebung und Überlieferung, teils aber auch durch passive Auslese. Die volle Bedeutung der Mimikry wird uns erst klar, wenn wir das Gesetz des Wanderns berücksichtigen. Es wird durch sehr verschiedene Gründe veranlasst - Übervölkerung, Nahrungsmangel, Kriege, Staatsumwälzungen, Verfolgungen, auch durch innere Unruhe, Veränderungstrieb, Unternehmungsdrang, Abenteuersucht, Wissbegier.“ Für Hirschfeld ist also Assimilation ein Sozialisationsprozess des Migranten, der Mimikry und Mime in sich vereint. Ähnlich einem wehrlosen Tier passt er sich der Farbe gefürchteter Tiere an und ähnlich einem Schauspieler ahmt er nach. Bekanntlich können Menschen Farbe bekennen, doch nicht ihre Hautfarbe ändern. Das entscheidende bei Hirschfelds Assimilationsbegriff ist aber, dass das, was „für ein Volk typisch erscheint“, in Wirklichkeit „auf Mimikry“ beruht. Damit gerät die Konstruktion „Volk“ ins Wanken. Wenn das Typische, das, wovon Identität hergeleitet wird und wovon im Nationalstaat wiederum Rechte hergeleitet werden, das Ergebnis einer Nachahmung ist, bedeutet Assimilation die gegenseitige Anpassung zweier Nachahmungskulturen. Ist es das, was Nationalstaaten so bedrohlich erscheint - dass es herauskommt, dass nationale Kultur sich ob gut oder schlecht nachahmen lässt, weil sie ohnehin ein Gebilde aus Nachahmungen ist? (Magnus Hirschfeld, zitiert nach Mein Gedächtnis beobachtet mich, einem Film von Eva Meyer und Eran Schaerf, 2008)

[26] Migrant meint hier wohl nicht allein Migrant*innen, die ein Land für ein anderes verlassen und von ihrer neuen Umgebung oder von sich selbst dazu gezwungen werden, ihre Sehnsucht nach der Heimat (dem Original) zu pflegen, sondern auch innergesellschaftliche Migrant*innen, zwischen Klassen oder Geschlechtern. Magnus Hirschfeld kannte „einen Transvestiten, der jahrelang als Bruder und Schwester lebte; er trat abends in demselben Lokal als zitherspielende ‚Tirolerin’ auf, in dem er als sein angeblicher Zwillingsbruder – er war Postschaffner – Mittag aß, ohne dass der Wirt wusste, dass Bruder und Schwester ein und dieselbe Person war.“ (Zitiert nach Mein Gedächtnis beobachtet mich). Das Begehren, den „gesellschaftlicher Abstand“ zwischen sich und seinem Schulfreund zu überbrücken, der einer anderen gesellschaftlichen Klasse angehört und „ganz geläufig von den Filmen Godards“ spricht, führt den dreizehnjährigen Didier aus dem Arbeitermilieu in die Bildwelt. „Ohne seine Mittel zu besitzen, begann ich, dasselbe Spiel zu spielen. Ich lernte, die anderen zu täuschen. Ich simulierte ein Wissen, das ich gar nicht hatte. Wahrheit, was war das schon? Was zählte, war allein die Erscheinung, das für mich selbst und die anderen konstruierte Bild. Ich ging sogar so weit, seine Schreibweise (die Art, wie er die Buchstaben formte) zu imitieren. Noch heute trägt meine Handschrift Spuren dieser Beziehung, die im Übrigen gar nicht besonders lange anhielt“ (Didier Eribon, Ebd., S. 165)

[27] Vgl. die Geschichte von Yoel, dem israelischen Kind, das ein Erfinder werden möchte, wo Kahanoff die Veränderung der Hautfarbe in den Kontext einer technologischen Entwicklung von Kleidung stellt. „Das Kind war nach einem Zoobesuch ganz entzückt von den Körperformen der Tiere, die es dort sah. Insbesondere das Zebra, seine gute Figur und das Muster aus schwarzen und weißen Streifen gefielen Yoel so sehr, dass er wünschte, sich in ein Zebra zu verwandeln. Zuhause nahm er heimlich eine Flasche Tinte und einen Pinsel und bemalte seinen Körper mit schwarzen Streifen. Als seine Mutter ihn am Abend vor dem Baden auszog war sie entsetzt. Sie bürstete seinen Körper bis er rote Beete-rot war. Weinend beschloss Yoel, Erfinder zu werden. Er würde Farben zum Anziehen erfinden, die nur von den Menschen gesehen werden, die verstehen, dass du nicht immer derselbe sein willst. Für alle anderen Menschen bleiben sie unsichtbar.“ Identität wird hier über anzuziehende Farben definiert, die weiter nicht charakterisiert werden, als durch ihre Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit. Damit werden zweierlei Zuschauerkategorien eingeführt: Menschen, „die verstehen“, dass eine Person nicht immer dieselbe sein will, und Menschen, die diese Farben gar nicht sehen und meinen würden, die Person wiedererkannt zu haben. (Jacqueline Kahanoff, Nashim Mikol HaGilim, [Hebräisch. Frauen unterschiedliche Generationen], in: At [Hebräisch. Du], israelischen Frauenzeitschrift, 6. Jahr, Nr. 72, März 1973)

[28] Vgl. Franz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, 1952, dt. Übersetzung Frankfurt a.M. 1980.

[29] Den Begriff Levante hört das Kind zum ersten Mal als es zuhause fragt, warum Clara, seine Großmutter, kein Hebräisch spricht. Für die deutsch assimilierte Jüdin, die 1938 Freiburg im Breisgau verlassen hatte und nach Palästina ging, stand die Levante für eine kulturelle Erschütterung und für den sozialen Abstieg, den sie durch die erzwungene Emigration auch tatsächlich erfuhr. Zeit ihres Lebens in Palästina, später Israel, lernte Clara keine der Landessprachen. (Paul Esterhazy, Sei echt! Sonst sieht sich der Nationalstaat bedroht, Berlin 2022, ohne Seitenangaben)

[30] Mimikry als Technik einer Assimilation, die „Wirklichkeit“ verschleiert, entging natürlich auch nicht dem Propagandaminister des Dritten Reichs. Der Mimikry-Vorwurf unterstellte den Juden, ihre Andersheit zu fälschen, indem sie sich durch Mimikry den Völkern, unter denen sie lebten, bloß äußerlich anpassten, innerlich aber unverändert blieben. Er wurde später als Reaktion auf die Assimilation interpretiert (Kremer, 2007). Der Film, der in dieser Szene im Hintergrund abläuft, bedient sich des antisemitischen Begriffs „Jüdische Mimikry“ und stellt gleich zu Beginn klar: „Die zivilisierten Juden, welche wir aus Deutschland kennen, geben uns nur ein unvollkommenes Bild ihrer rassischen Eigenart. Dieser Film [aber] zeigt Originalaufnahmen aus den polnischen Ghettos, er zeigt uns Juden, wie sie in Wirklichkeit aussehen, bevor sie sich hinter der Maske des zivilisierten Europäers verstecken.“ (Der ewige Jude, 1940, Regie: Franz Hippler, Drehbuch: Eberhard Taubler)

[31] Demnach wäre die Performance des Assimilanten ebenso zum Scheitern verurteilt wie jene des Levantiners, weil beide auf unterschiedliche Weise ihre „Wirklichkeit“, das was sie angeblich eigentlich sind, verschleiern und „bloß äußerlich“ eine andere Kultur wiederaufführen. Erneut fragt er sich, wie sich die levantinische Praxis der Imitation anderer Kulturen von der Anpassung des Assimilanten an eine Leitkultur unterscheidet, die ebenso mit Aneignung und Wiederaufführung kultureller Attribute einhergeht. Besteht der Unterschied darin, dass der Levantiner auf die Authentizität seiner Wiederaufführung verzichtet und keine Besitzansprüche auf die wiederaufgeführte Kultur erhebt, während der Assimilant das Ziel verfolgt, einmal vollständig assimiliert zu sein und als Angehöriger der Leitkultur, die er erworben hat, gesehen zu werden? Macht der Levantiner aus der Flucht vor Zuschreibungen eine Lebenspraxis, die diese Zuschreibung immer aufs Neue infrage stellt, während der Assimilant seine Zuschreibung für eine andere eintauschen will?

[32] Es ist daher nicht überraschend, dass der deutsche Innenminister Dr. Thomas de Maizière seinen Diskussionsbeitrag zur Leitkultur in Deutschland als Antwort auf die Frage „was uns im Innersten zusammenhält“ verfasst. (BILD am Sonntag, 30.04.2017) Meint er mit „Innerstem“ das eigentliche – echte, authentische, wirkliche - Wesen eines Menschen? Jener dem eigenen Ich angeblich zugehöriger geistiger und seelischer Bereich? Und wie soll sich dieses Wesen mit anderen verbinden, wenn der Mensch zwar gelegentlich außer sich gerät, um von Außen sein Inneres überhaupt erkennen zu können, gelegentlich sich sogar „hinein in die Welt“ wagt, aber ansonsten auch ohne ein Außen auskommt? (Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München, 1959, S. 35)

[33] „In Deutschland war Clara assimiliert, in Palästina lebte sie in zwei oder mehreren Welten, ohne der einen oder der anderen anzugehören. Hätte sie gewusst, dass auf Italienisch il levantino nicht nur Levantiner bedeutet, sondern auch „zerrissener Mensch“, wäre sie dann mit der Levante versöhnt geworden? Als Deutschassimilierte muss sie die von Hourani beschriebene Fähigkeit, äußerliche Formen anderer Kulturen zu imitieren, beherrscht haben. Doch wandte sie diese Fähigkeit nicht auf Attribute der lokalen Kulturen Palästinas an. Wenn sie etwas imitierte, dann – wie viele Migrant*innen - sich selbst. Sie führte vor überwiegend deutschsprachigen Migrant*innen ihr vergangenes, auf Deutsch kultiviertes Selbst wieder auf. 1948 wurde aus der Minderheiten-Gesellschaft unter britischem Mandat in Palästina das ‚gesellschaftliche Versuchslabor Israel’ (Jacqueline Kahanoff, MiMizrakh Shemesh [Hebräisch. Vom Osten, das Licht], Tel Aviv 1978, S. 272) gegründet. Als Jüdin war Clara eine willkommene Probandin.“ (Paul Esterhazy, Sei echt! Sonst sieht sich der Nationalstaat bedroht, Berlin 2022, ohne Seitenangaben)

[34] In dt. Übersetzung wäre der Titel des zweiten Teils von Kahanoffs Roman Jacob’s Ladder (London, 1951) Die Fremde. Vgl. Albert Camu, Der Fremde (Paris 1942), dt. Übersetzung, Düsseldorf 1948.

[35] Aufschlussreich ist auch die Szene, wo Clara sich mit ihrer Freundin, Frau Höxter aus Höxter, im Café Meersand trifft, dem berühmten Treffpunkt deutschsprachiger Migrantinnen in Tel Aviv-Jaffa. Auf dem Weg ins Café geht sie an einer Demonstration der israelischen Schwarzen Panther vorbei, der Protestbewegung jüdischer Migranten aus arabischen Ländern. Sie läuft gegen die Nachmittagssonne, sieht also nicht viel, hört aber und kann ungefähr verstehen, dass es um Sprache geht. Nicht direkt um Sprache, aber um Sprache als Mittel der Aufrechterhaltung des herrschenden kolonialen Verhältnisses. „Golda“, rufen die Demonstrant*innen der aus Kiew stammenden Premierministerin zu, „bring uns Jiddisch bei“. Es geht den Demonstranten nicht darum, die Sprache der herrschenden Elite zu lernen, sondern darum, nicht diskriminiert zu werden, weil man diese Sprache nicht beherrscht. Von nun an kehrt sich Claras Geschichte um und spielt in der Zukunft. Sie beginnt Flashbacks zu haben, die besser als Flashforwards bezeichnet würden, da sie sich zwar vergangener Ereignisse bedienen, aber in der Zukunft spielen. Ihre Sprache passt sich dieser vergangenen Zukunft an. Kaum sitzt sie im Café und bestellt wie gewohnt Wiener Melange und Mohrenkopf sagt sie zu Frau Höxter, sie „würde nach Deutschland zurückgehen, um an einer Demonstration teilzunehmen, die in Köln stattgefunden haben wird. Was ist los, fragt Frau Höxter, seit wann bringst du alle Zeitformen in einem Satz unter? Wo ist dein Deutsch geblieben? Nur die Vergangenheit fehlt uns noch. Keine Sorge, sagt Clara, die Vergangenheit wartet auf uns in der Zukunft, bereits jetzt wird sie sich dort breit gemacht haben. Ich wäre doch keine schlechte Statistin in der Demonstration der türkischen Demokraten in Köln gewesen, meinst du nicht? Der deutsche Innenminister wird wohl gekommen sein, um die Demonstranten zu begrüßen, er wird ihnen gesagt haben, ‚Ich bitte Euch, lernt Deutsch!’ Da werde ich ihm gesagt haben, nein nein Herr Minister, Sie müssen sich geirrt haben, mein Deutsch ist recht gut, es lässt sich bloß von einer anderen Kultur leiten als Ihrer. Frau Höxter, die in der Stadt eine Konditorei betreibt, verzieht das Gesicht. Die ganze Zeit wartet sie darauf, dass Clara sagt, dass sie ihre Mohrenköpfe besser findet als die von Meersand. Ach Clara, stöhnt sie, in deinem Alter willst du dich noch politisch engagieren? Und sowieso dachte ich, Jiddisch sei in diesem Land verboten worden damit die neu gezüchteten Israelis sich von ihren Diasporavorfahren besser abnabeln können. Ich bin froh, sagt Clara, immerhin wird der Minister nicht wortwörtlich zur Assimilation aufgerufen haben. Dass würde die türkischen Mitbürger in Verlegenheit gebracht haben, wird doch kurz davor, auf einer Veranstaltung der Europäischen Union türkischer Demokraten in Köln, der türkische Ministerpräsident die Assimilation als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet haben. Solange es nicht um die Türkei gegangen sein wird. Schließlich seien die Kurden in der Türkei lange einem enormen Assimilationsdruck ausgesetzt gewesen und genössen noch heute keine kulturelle Anerkennung (Mein Gedächtnis beobachtet mich). Clara, sagt Frau Höxter leise, ihre Hand auf der Claras, als ich 1915 in Leipzig Konditormeisterin gelernt habe, hieß der Mohrenkopf Indianer-Krapfen. Mein israelischer Konditorlehrling schlug mir neulich ernsthaft vor, den Mohrenkopf mit weißer Schokolade zu machen und in Deutsche Seele umzutaufen. Natürlich sagte er nicht taufen, sondern nennen. Aber wie findest du das?“ (Paul Esterhazy, Sei echt! Sonst sieht sich der Nationalstaat bedroht, Berlin 2022, ohne Seitenangaben)

[36] Die Vorstellung, „in Wahrheit“ zu Hause zu sein und „richtig“ dazugehören, kam mit den deutschen Übersetzungen. „Wer Weltbürger sein will, gehört nirgendwo richtig dazu“ (Frankfurter Rundschau). „Wer sich als Weltbürger fühle, sei in Wahrheit nirgendwo zu Hause“ (Der Spiegel). Auf Englisch sagte die britische Premierministerin May: „If you believe you are a citizen of the world, you’re a citizen of nowhere“. Auf dem Pult, an dem sie sprach, stand „Global Britain“. Das wurde ins Bild übersetzt, fand aber sonst keine Beachtung, außer in einer Radiosendung, in der von einem Jingle der BBC berichtet wurde, „Wherever you are“, hieß es da, „you are with the BBC.“ Die Sendung war noch nicht zu Ende, als in seinen Gedanken bereits ihre Wiederaufführung beginnt. Eine Frau steht im Londoner Hyde Park auf einer Holzkiste und ruft: Citizens of nowhere! You are with the BBC. Eine Gruppe von Passanten ruft im Chor zurück: Proletarians of every country, you are with the BBC. Die Frau ruft zurück: Citizens of nowhere! Unite. Die Gruppe ruft zurück: Every elegant woman is a customer of Marks & Spencer. Die Frau ruft zurück: Wherever you are, you are a customer of Marks & Spencer. Das geht recht lange, bis es von dem Ton unterbrochen wird, der die nächsten Nachrichten ankündigt, was ihn zweifeln lässt, ob die Wiederaufführung im Radio oder im Hyde Park oder nirgendwo stattgefunden hat.