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05 2016

Instituierende Praxen. Vorwort zur Neuauflage 2016

Stefan Nowotny / Gerald Raunig

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Mitte 2008, als wir uns daranmachten, die erste Auflage dieses Buchs für die eipcp-Reihe republicart fertigzustellen, konnte man die Krise vielleicht schon irgendwie riechen, fühlen, erahnen. Wir schrieben im Vorwort von einem „allgegenwärtigen Verfall der repräsentativen Demokratien in Europa“ und von „den fortschreitenden sozialen Marginalisierungen in verschiedensten Teilen der Welt, die sich unter anderem als Effekt gegenwärtiger nationaler und transnationaler Institutionen darstellen“. Die Debatten und Kämpfe um Prekarisierung vor allem in der ersten Hälfte der 2000er Jahre sind heute auch als ein Vorschein dessen zu interpretieren, was danach mit vielen verschiedenen Konnotationen als Krise benannt wurde. Doch was sich in den folgenden Jahren an ökonomischen und politischen Verwerfungen, sozia­lem Elend, neuen Rassismen und Krieg auch auf Teile des „Westens“ ausbreiten sollte, war in keiner Weise vorauszusehen. Und von einem baldigen Ende dieser Entwicklungen kann auch heute kaum ausgegangen werden, zumal an den Spiralen ökonomischer Austeritätsdiktate, politisch blinder Strategien militärischer Konfliktaustragung sowie des Abbaus grundlegender sozialer und politischer Rechte unvermindert weitergedreht wird – mit teils katastrophalen Folgen insbesondere dort, wo sich die Effekte der genannten Spiralen am stärksten überlagern und wechselseitig intensivieren.

Einem verallgemeinerten Miserabilismus sei hier dennoch nicht das Wort geredet. Wir sehen uns im Gegenteil dazu angespornt, den Vervielfältigungen instituierender Praxen auch vor dem verhärteten Hintergrund ausweglos erscheinender politischer Entwicklungen zu folgen. Unter Bezugnahme auf die Bruchlinien unseres Buchs wollen wir daher an dieser Stelle drei Komponenten seines Begriffsfelds aktualisieren, die zugleich zentrale Aspekte unseres Verständnisses von instituierender Praxis bilden: (1) die Monstrosität der Instituierung, (2) das Verhältnis von instituierender Praxis und konstituierendem Prozess sowie (3) die Frage der Destitution.

(1) Die Krise brachte auch neue Subjektivierungen, neue Formen von kritischer Haltung und proaktiver Kritik mit sich, und die Debatte um instituierende Praxen und alternative Weisen der Institutionalität gewann dabei neue Brisanz. Zunächst waren es molekulare Formen des Widerstands, die sich an den Brennpunkten der Krise entwickelten: die Proteste und Mobilisierungen an den Universitäten zwischen edu-factory und uni­brennt in den Jahren 2009 und 2010, vor allem aber die Besetzungsbewegungen zwischen Ende 2010 und 2013, vom „Arabischen Frühling“ über 15M in Spanien, den griechischen Syntagma-Platz und die von den USA ausgehenden Occupy-Bewegungen bis hin zu Taksim/Gezi in Istanbul. Zugleich formierten sich auch mikropolitische Praxen, die für die Fragen, die dieses Buch prägen, entscheidende neue Impulse brachten – etwa die Frage, „in welchem Verhältnis Institution und Bewegung zueinander stehen und wie dieses Verhältnis im Sinne einer emanzipatorischen Politik und jenseits einer schroffen Grenzsetzung zwischen den beiden Polen produktiv gemacht werden kann“. In manchen Kontexten verhielt es sich sogar umgekehrt: Von den Diskursen, deren Teil dieses Buch war und ist, führten auch genealogische ­Linien zu den neuen mikropolitischen Praxen und sozialen Bewegungen. Keine Frage, Institutionskritik,­ ­Instituierung und neue Institutionen sind zentrale Aspekte der neuen Linken im mediterranen Raum, und einige der Beteiligten von Universidad Nómada, V de vivienda, Precarias a la deriva1 und Fun­dación de los Comunes sind auch zentrale AkteurInnen der spanischen Bewegung der neuen municipalismos. Die solidarökonomischen Plattformen in Griechenland oder die spanische Plataforma de Afectados per la Hipoteca (PAH) können definitiv als instituierende Praxen gelten, die den alten oder schlicht abgeschafften Institutionen etwas Neues entgegensetzen oder etwas Neues an deren Stelle setzen. In diesen zahllosen Neuformierungen lässt sich die Instituierung als Ereignis verstehen, das mit dem Staatsapparat bricht.

Zugleich geht es um Dauer, Persistenz, Wiederkehr der Instituierung, damit also auch um eine neue Institutionalität und die Entwicklung von orgischen Staatsapparaten, also Staatsapparaten, die das Prinzip der Repräsentation ausdehnen, überdehnen und durchbrechen. Neue Parteien, neue Staatsapparate, neue Reterritorialisierung. Municipios oder Gemeinden, die keine municipios oder Gemeinden sind, Parteien, die keine Parteien sind, Institutionen, die keine Institutionen sind. Eine neue Politik im Werden, in einem Prozess, in dem der Sinn politischer Handlungen sich nicht an deren Konformität mit etablierten institutionellen Formen entscheidet, sondern an ihrer Fähigkeit, den sozialen Erfahrungen und Herausforderungen einen neuen politi­schen Sinn und diesem neuen Sinn Beharrlichkeit zu verleihen.

Wenn für diese neue Institutionalität Moment und Modus der Instituierung im Vordergrund stehen, ist es indessen von nicht minder großer Bedeutung, die auf Permanenz abstellende Verschließung (in) der Institution zu verhindern und das Persistieren des Neuen nicht auf Kosten der Erneuerungsfähigkeit gehen zu lassen. Gerade in Spanien scheint eine Kette von nicht abreißenden und verschieden zusammengesetzten Instituierungen der Strukturalisierung tendenziell zu entgehen oder ihr etwas entgegenzuhalten zu wissen. Dieses Etwas könnte man mit einem der wiederkehrenden Begriffe dieses Buchs auch Monster nennen. Wenn wir in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre begannen, gerade in Zusammenarbeit mit unseren spanischen KollegInnen das Monster in seiner heterogenen Erscheinungsweise zu bejahen, war eine unsrer diesbezüglichen Thesen: In gewissen Situationen macht es Sinn, Bewegung und Institution nicht strikt gegeneinander zu setzen oder ineinander aufzulösen, sondern ihr Verhältnis im Sinne der Monstrosität zu prozessieren. Genau das scheint etwa in den neuen municipalismos zu geschehen, wenn die Staatsapparate nicht einfach nach erfolgreichen Wahlen übernommen werden, sondern schon vor den Wahlen in militanten Untersuchungen in ihrer Sozialität hinterfragt und dann auch andauernd weiter befragt werden. Das Monster ist hier keineswegs die überbordende Bürokratie des alten Staates, sondern vielmehr die nicht einzuordnenden Störungen zwischen Bewegung und Institution.

(2) Ein weiterer und etwas umstrittener Ausgangspunkt unseres Buchs war der Zusammenhang von konstituierender Macht und instituierender Praxis, von ­Zusammensetzung und Einsetzung. Uns war es dabei wichtig, wie die Institution auch die Konstitution nicht als statische Festlegung zu verstehen, nicht allein als juridisches Problem. Analog zur instituierenden Praxis fragen wir uns noch immer, wie ein konstituierender Prozess zustande kommen kann2, der, situational und translokal zugleich, situierte Sozialität und ihr differenzielles Wissen über die nationalen Grenzen hinaus zu entwickeln vermag. Eine rein juridisch-politische Interpretation des Konstituierenden würde hier viel zu kurz greifen. In Anknüpfung an feministische Debatten zu sozialer Reproduktion und Verletzlichkeit würde es in einem derart breit verstandenen konstituierenden Prozess viel eher um die Produktion des Sozialen gehen. Analog zur nicht-institutionellen Instituierung müsste nach an sozialen Interaktionsformen selbst ansetzenden Produktionsweisen gefragt werden, nach Gefügen der Sorge, cuidadanías, die Schulden nicht mehr als moralisch-ökonomisches Geflecht, sondern als grundsätzliche Verletzlichkeit konzeptualisieren, nach Haltungen, die nicht auf einen Halt, auf einen Standpunkt, eine Posi­tion hinaus wollen, sondern auf ein kritisches (Austausch-)Verhältnis.

Dies impliziert eine Neubewertung des Verhältnisses von Konstitution und Institution, die davon abrückt, Konstitution als vorgängige Zusammensetzung zu verstehen, etwa im Sinne eines in seiner Identität oder seinen Bedingungen fixierten „Wir“, das sich vermittels Institutionen als solches Bestand verleiht. Mit anderen Worten, die Frage der Instituierung kann gegenüber der nach konstituierenden Prozessen nicht als sekundär behandelt werden, sofern das con- der Konstituierung einen Sinn jenseits bestehender Ordnungen von Zugehörigkeit und Verwerfung annehmen soll. Vielmehr setzen sich instituierende Praxis und konstituierende Macht wechselseitig voraus, in einem Prozess, der den Austausch und die gemeinsame Artikulation sozialer Erfahrungen ebenso ermöglicht wie die Eröffnung einer gemeinsamen Zukunft.

Einen solchen Prozess voranzutreiben, oder in mancherlei Hinsicht überhaupt erst in Gang zu setzen, scheint immer wichtiger in einer Situation, in der staatliche Institutionen weniger und weniger Existenzsicherheit und Entfaltungsperspektiven verbürgen, sondern vielmehr umgekehrt dazu in Anspruch genommen werden, die Einzelnen nicht nur an einem staatlichen Wir zu verschulden, sondern auch an den Fährnissen von Spekulationstätigkeiten, die noch nicht einmal diesem Wir jemals verpflichtet waren. Einen solchen Prozess voranzutreiben scheint aber auch deshalb immer wichtiger, weil sich Prekarisierung und kommandierte selbstunternehmerische Subjektivierungen zusehends in Krankheiten der Vereinzelung (Angst, Depression etc.) und instrumentellen Beziehungsformen niederschlagen, die das Vermögen selbst beschädigen, Sozialität neuzukonstituieren. Und schließlich ist ein solcher Prozess natürlich auch gerade dort von zentraler Bedeutung, wo die uns am besten bekannte – nationalstaatliche – Form eines historisch konstituierten und juridisch verfügten Wir in ihrer sozialen Ohnmacht immer deutlicher sichtbar wird: nämlich im Zusammenhang gegenwärtiger Flucht- und Migrationsbewegungen.­ Konstituierende­ Macht verbindet sich hier mit den Praxen all jener Solidaritätsinitiativen und -netzwerke, die sich inmitten staatlicher Restriktionen, rassistischer Politiken und sich vertiefender gesellschaftlicher Bruchlinien nicht darin beirren lassen, dass eine gemeinsame Zukunft ohne die Instituierung neuer sozialer Interaktionsformen nicht zu haben ist – und dass Zukunft nie anders denn als gemeinsame zu haben ist.

(3) Dies führt uns geradewegs zu unserem dritten Punkt: der Frage der Destitution bzw. mannigfaltiger Figuren der Flucht, des Abfallens, des Verrats, der Desertion, des Exodus. Mit dem Begriff der Destitution zielten wir auf die Potenziale „einer Ent-setzung, die nicht von vornherein auf eine performative Neusetzung oder Neueinsetzung modifizierter Rahmenbedingungen des Handelns bezogen ist, sondern auf die Eröffnung eines Felds von sich verändernden Handlungsmöglichkeiten.“ Ein „positives Nein“, das seine Positivität weder aus Selbstpositionierung noch auch aus Op-position bezieht, sondern daraus, das eigene Vermögen den Grammatiken bestehender Konfliktlinien wie auch der Indienstnahme durch dominante Kräfte- und Begehrensformierungen zu entziehen. Ein solches positives Nein ist diagrammatisch, indem es die vorgezeichneten Alternativen bestehender Grammatiken kreuzt und verlässt; und es ist resistent in einem Sinn, der sich nicht aus dem Verneinten ableiten lässt, weil diese Resistenz ihre Wahrheit in der Ausbildung von Kräften hat, die den Versuchen der Indienstnahme standhalten und ihnen ihre Mitwirkung vorenthalten, um das Vermögen dieser Kräfte abseits dominanter Formierungen weiterzuentwickeln. Das Problem der Destitution stellt sich heute weniger denn je einfach als Frage nach einer Absetzung des Alten, die in unmittelbare Neueinsetzung und Neuzusammensetzung mündet. Es stellt sich als Frage nach einer Entsetzung, einer Außerkraftsetzung der Verzweckungen des Lebens und Zusammenlebens, einer Bejahung der einfachen Tatsache, aus der sich diese Verzweckungen beständig nähren, die sie aber zugleich vergessen zu machen oder sogar zu diffamieren suchen: dass Leben und Zusammenleben nämlich ihrer nicht bedarf, um sich zu erfinden.

Wir können nicht die Augen davor verschließen, dass die gegenwärtigen Verhältnisse die Spielräume für das positive Nein der Destitution immer enger werden zu lassen scheinen, indem sie immer weiter gehende Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten aufrichten: Stetig verfeinerte workfare-Strategien besetzen zusehends die Zeiten, Räume und Energien, die der Erprobung anderer Handlungsmöglichkeiten offen stünden, und werden in ihrer Wirksamkeit durch die subjektiven Verunsicherungs- und sozialen Atomisierungseffekte der Prekarisierung unterstützt. Affektive, kognitive und relationale Vermögen werden nicht nur durch postfordistische Arbeitsregime, sondern auch durch Konsum- und Begehrensregime an die herrschenden Verhältnisse gebunden und von ihnen selbst über unmittelbare Funktionalisierungen hinaus durchformt. Globalisierte Produktionsverhältnisse schwächen weder die Verwerfungen internationaler Arbeitsteilung noch auch die der Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit ab, sondern treiben sie weiter und mobilisieren sie in instabilen Geographien. Und dass immer mehr Flüchtende immer weniger Zuflucht und Fluchträume finden, ist spätestens seit dem vergangenen Jahr auch in Europa für niemanden mehr zu übersehen.

Dennoch wohnt gerade den Fluchtbewegungen ein – wenn auch zweifellos extrem fragiles und allzu oft todbringendes – destituierendes Moment inne: nicht nur weil sich Flüchtende den in einem globalen Kräftefeld erzeugten regionalen Verheerungen verschiedenster Art entziehen, sondern auch weil sie die politisch-juridischen Grammatiken und Indienstnahmen der „Aufnahmestaaten“ letztlich ad absurdum führen (Nationalstaatlichkeit, Trennung zwischen „Wirtschaftsmigration“ und „legitimem Asyl“, global differenzierte Ressourcen-, Sorge-, Produktions- oder Müllökonomien, ökologische Ungleichheit, etc.). Die Migrationspolitiken der privilegierten Welt kranken seit langem daran, dass sie das soziale Faktum von Flucht und Migration sowie seine Unumgänglichkeit in der gegenwärtigen Welt zäh verleugnen – und sich als Ausdruck dieser Verleugnung in Phantasmen der Befestigung bestehender politisch-institutioneller Ordnungen ergehen. Wie zwischen instituierender Praxis und konstituierender Macht besteht aber auch zwischen destituierender Resistenz und instituierender Persistenz ein Verhältnis der wechselseitigen Voraussetzung: im Sinne der zur Praxis werdenden Forderung einer Zukunft, die an soziale Erfahrungen anknüpft, welche in den dominanten institutionellen Formen noch nicht einmal artikulierbar sind.

Stefan Nowotny (London) / Gerald Raunig (Zürich), im Februar 2016

http://transversal.at/books/instituierendepraxen

 

1 Vgl. Precarias a la deriva, Was ist dein Streik? Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität. Mit einem Anhang von Marta Malo de Molina, übers. v. Birgit Mennel, eingel. v. Birgit Mennel u. Stefan Nowotny, Wien: transversal texts 2014.

2 Vgl. Antonio Negri / Raúl Sánchez Cedillo, Für einen konstituierenden Prozess in Europa. Demokratische Radikalität und die Regierung der Multituden, übers. v. Gerald Raunig, eingel. v. Isabell Lorey und Gerald Raunig, Wien: transversal texts 2015.