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09 2016

Der Kampf für den sozialen Wandel und seine Ankunft in den Institutionen

Montserrat Galcerán Huguet

Aus dem Spanischen von Gerald Raunig

 

 

„Gewöhnen wir uns nie an die Barbarei!“ (Ada Colau)


Die ersten, die zu Beginn des Wahlzyklus im Frühjahr 2014 das Eis brachen, waren Podemos, die kurz zuvor eine schlagkräftige Wahlkampfmaschine ins Leben gerufen hatten. Ihr Erfolg bei den Europawahlen erweckte das Bedürfnis, „die Institutionen zu stürmen“; ein Szenenwechsel drängte sich auf, dessen Entwicklung in jeder Hinsicht ungewiss, aber deswegen nicht weniger dringlich war. In seinem Sog entstanden die munizipalistischen Projekte: Guanyem Barcelona, später Barcelona en Comú, und die verschiedenen Ganemos-Plattformen, die über die gesamte spanische Geographie verteilt auftraten. Ihr zentraler Einsatz war es, Schwung in die städtischen Bewegungen zu bringen und einen Hebel für den Einzug in die Stadtregierungen zu finden. Der Ausgang der Kommunalwahlen von 2014 zeigte den Erfolg ihres Einsatzes.

Diese Initiativen entwickelten sich direkt aus den sozialen Kämpfen der letzten Jahre, vor allem aus der Plattform der von Hypotheken Betroffenen (PAH), wie etwa in Barcelona. In anderen Städten entstammen sie dem Umfeld der besetzten Sozialzentren und der 15M-Bewegung und umfassen Leute, die in den Mareas und verschiedenen Protestbewegungen aktiv waren. Sie formierten sich als sozialpolitische Bewegungen und nicht als politische Parteien im üblichen Sinn.

Vor den Europawahlen im Jahr 2014 war die Debatte aufgekommen, ob es besser wäre, zu diesen anzutreten oder zu den lokalen und regionalen Wahlen im darauffolgenden Jahr. Es wurden verschiedene Argumente erwogen. Gegen ein Antreten zu den EU-Wahlen wurde die geringe Bedeutung und Handlungsfähigkeit einiger weniger unter den 705 Abgeordneten des Europäischen Parlaments ins Spiel gebracht. Dafür sprach, dass es leichter war, die notwendigen Stimmen zu bekommen, wenn das ganze Land in einem einzigen Wahlkreis zusammengefasst war und man so die Fallstricke des extrem ungerechten spanischen Wahlgesetzes umging, das ländliche Gebiete bevorzugt und Minderheiten stark benachteiligt. Izquierda Unida hatte eine Wahl nach der anderen aus diesem Grund verloren. Die Initiator_innen von Podemos beendeten die Diskussion, indem sie mit einer neu gegründeten Partei und ohne großen Organisationsaufwand zu den Wahlen antraten. Ihr Erfolg war unerwartet für alle, auch für sie selbst.

Die Ganemos-Plattformen gingen einen anderen Weg. Alle begannen mit Unterschriftenkampagnen, die für das Projekt bürgen sollten. Guanyem Barcelona und Ganemos Madrid setzten ihre Schwelle bei 30.000 Unterschriften an. Wenn diese erste Bürgschaft nicht erreicht werden würde, schien es nicht angebracht, das Projekt fortzusetzen. Glücklicherweise wurde sie erreicht, und von da an begannen die Debatten über die Organisation und die Diskussionen über den ethischen Kodex; neue politische Optionen erwuchsen aus einem breiten Prozess der Konfluenz, des Zusammenfließens, ohne daraus eine Buchstabensuppe zu machen, sondern von Anfang an auf der Suche nach neuen Vorgangsweisen. In Barcelona diente als Bezugsfigur die Persönlichkeit von Ada Colau, anerkannte Aktivistin der PAH. In Madrid platzierte sich Manuela Carmena nachträglich an der Spitze der Kandidat_innenliste. In A Coruña war es Xulio Ferreiro, in Cádiz José María González Santos „Kichi“, in Zaragoza Pedro Santiesteban.

Der relevante Unterschied zwischen dem Prozess der Konstituierung städtischer Listen und jenem einer politischen Partei wie Podemos besteht in der Komponente der sozialen Bewegung: Die Distanz zwischen den Politik-„Profis“ und anderen Personen muss so gering wie möglich sein, sodass diese „neue“ Politik einfach eine Tätigkeit mehr im Leben einer_s jeden werden kann. Erst dann, wenn alle Bewohner_innen eines Territoriums sich versammeln, kommunizieren, diskutieren und gemeinsam Entscheidungen treffen, die sie betreffen, kann die Politik aufhören, das Geschäft einiger weniger zu sein. Wenn andererseits im Bereich der institutionellen Politik Parteien als die einzigen relevanten Akteure vorgesehen sind, verstärkt sich ihre ideologische Identität und die Logik des Wettbewerbs zwischen ihnen. Gleichzeitig verlieren die Bürger_innen oft das Interesse, weil sie sich nicht mehr betroffen fühlen, was sie wiederum daran hindert, die Zügel ihres eigenen kollektiven Lebens in die Hände zu nehmen. Auf lange Sicht erhöht das die Politikverdrossenheit, die im Ernstfall, wie etwa in der Krise, die Betroffenen völlig hilflos zurücklässt, wenn weder Gesetze noch Politiker_innen uns vor den Aggressionen von außer Kontrolle geratenen Finanzen verteidigen können.

Die Stärke der Initiativen entspringt der Handlungsmacht, die viele Menschen in den Kämpfen gegen die Krise wiedererlangten, und sie entspringt auch den Hindernissen bei der Respektierung ihrer Rechte; sie entsteht aus dem Bedürfnis, die eroberten Rechte in Gesetze umzusetzen, der Gefräßigkeit der ökonomischen Kräfte Grenzen zu setzen und das gemeinsame Leben zu schützen; sie entsteht aus dem Wunsch, die Politik als gerechte Verwaltung der kollektiven Probleme wiederaufzunehmen – in der Formulierung von Ada Colau: „Ermächtigung und Solidarität machen uns unaufhaltsam.“[1]

Aus diesen Gründen können die munizipalistischen Listen nicht ohne Weiteres auf politische Parteien beschränkt werden, sondern versetzen das klassische Konzept der Partei in die Krise und entwerfen die ideologische Auseinandersetzung neu: Nicht mehr nur Auseinandersetzung um die für die Verwaltung der Gesellschaft geeigneten Ideen, gehen sie dazu über, sich auf die Mindestanforderungen einer Regierung zu konzentrieren, deren Aufgabe es ist, ein würdiges Leben für alle Menschen sicherzustellen. In dieser Hinsicht bekommt der ethische Kodex grundlegende Bedeutung.

Allerdings wurzelt ein ungelöstes Problem in der Asymmetrie zwischen den Komponenten: zwischen Menschen, die politischen Parteien angehören, und anderen, die an diffuseren Formen wie Vereinen oder sozialen Kollektiven beteiligt sind. In Prozessen der Entscheidungsfindung wird die Asymmetrie besonders sichtbar: Normalerweise verfügen politische Parteien, auch Podemos, über eine vertikale Struktur, die Entscheidungen von oben nach unten übermittelt. Bei den linken Parteien privilegierte das leninistische Modell, um den berühmten „demokratischen Zentralismus“ herum strukturiert, die Figur des „Berufsrevolutionärs“ zu Lasten des Arbeiters, der dem politischen Handeln nur einen Bruchteil seiner Lebenszeit widmen konnte. Ganz zu schweigen davon, wenn im Fall von Frauen mannigfache Arbeitsbereiche mit den aufwendigen Anforderungen einer exklusiven Militanz kollidieren. Obwohl die neuen Partei-Formationen das Konzept des „Berufsrevolutionärs“ aufgegeben haben, verlassen sie sich weiterhin auf Profis, die sich nur dem politischen Handeln widmen, ob institutionell oder nicht, und die definitionsgemäß loyal zu den Spitzen ihrer jeweiligen Formationen stehen, deren Autorität nicht in Frage gestellt wird. Im Gegensatz dazu führte der Typ des Aktivismus, der in den sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren präsent ist, eine porösere Figur ein, die eher auf die horizontalen Prozesse der Entscheidungsfindung bedacht ist, weniger dazu neigt, die Macht an den Spitzen zu konzentrieren, weniger an einer kriegerischen Sprache hängt und aufmerksamer dafür ist, egalitäre Interventionsformen zu ermöglichen. Die feministischen Bewegungen haben eine wichtige Rolle bei diesem Wandel der Organisationsformen gespielt.

Im Ergebnis ist es schwierig, derart verschiedene Formen des Verständnisses von politischem Handeln im Rahmen der Plattformen der Konfluenz in Einklang zu bringen, wo Menschen aus verschiedenen Traditionen zusammenkommen, vor allem auch, wenn die Zeichen der Parteiidentität in der neuen Formation schwächer werden. In dieser nehmen seine verschiedenen Komponenten eine neue Konfiguration an und verlieren einen Teil ihrer ursprünglichen Identität. Das ist ihre Stärke, die jedoch einen Punkt ohne Wiederkehr für jene Formationen darstellen kann, die sich in sie integrieren.

Die Konfluenz konstituiert sich ihrerseits nicht als eine neue Partei, die alles davor Gewesene verschlingt, sondern entsteht als gemeinsames Dach, in dessen Schoß die alte Parteidisziplin sich nicht auferlegen kann. Die Protokolle der Organisation und Entscheidungsfindung sind tendenziell viel demokratischer, und doch ist der Prozess nicht ohne Spannungen, wie wir seit 2014 gesehen haben, und wie es sich auch beim relativen Scheitern von Unidos Podemos bei den letzten Parlamentswahlen im Mai 2016 gezeigt hat, die diese Formen in der Architektur des Prozesses selbst nicht respektiert haben.


Die „Ganemos“-Methode

Die munizipalistischen Listen entstanden als Ensemble von vernetzten Dispositiven, um Arbeitsgruppen und Plenarsitzungen herum organisiert, mit Koordinationen, an denen Delegierte aus den verschiedenen Arbeitsgruppen teilnehmen, deren Sitzungen offen sind. Die Entscheidungsgewalt zirkuliert in einer wesentlich horizontaleren Weise als in der klassischen Partei; sie ist nicht in einer Spitze zentriert, deren Entscheidungen verbindlich sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass damit das Chaos ausbricht: Entscheidungen werden zusammen getroffen und respektiert, aber die Sorge um die Vielfalt herrscht ebenso vor wie die aktive Suche nach Konsens und das Erkennen, Bearbeiten und Auflösen von Dissens. Damit wird eine kontinuierliche Dynamik des Fortschritts eingeführt, die die Unterschiede ebenso ausfeilt, wie sie die gemeinsame Arbeit stärkt – durchwegs gestützt auf partizipative und integrative Methodologien.

Die „Ganemos-Methode“ ist so viel demokratischer als jede dirigistische Methode, und auch nicht weniger wirksam, wie das enorme Arbeitspensum, das von den Akteur_innen geleistet wird, unter Beweis stellt. Ihr Verdienst ist ihre enorme soziale Verwurzelung und ihre große Feingliedrigkeit, die sich im intelligenten Einsatz von sozialen Netzwerken ausdehnt. Diese Netzwerke besitzen die hervorragende Fähigkeit, die Breite der Kommunikation und die Verbreitungsgeschwindigkeit der Nachrichten exponentiell zu erhöhen. Mit ihnen bewegen sich täglich Tausende von Bürger_innen, die wir selten in den Versammlungen sehen, die aber deswegen um nichts weniger aktive Mitglieder sind. Die Verbindung mit Podemos, die die endgültige Konfiguration der Wahllisten ermöglichte, steuerte das unbestreitbare Know-how dieser Genoss_innen bei der Verwaltung von Kommunikationsmedien und ihrem Einsatz im Medienverbund bei. Die Rückkopplung zwischen drei Räumen, der territorialen Versammlung, des Medialen und des Virtuellen, ist einer der Schlüssel unserer Handlungsweise.

Die mediale Dimension verdient besondere Aufmerksamkeit: Es wäre naiv zu glauben, dass die Medien einfach die Realität wiedergeben würden. Im Gegenteil: Beständige Bearbeitung re/produziert TV-Persönlichkeiten, die wir nie in natura gesehen haben, überträgt reduzierte Nachrichten, als ob sie Kräftigungspillen wären, vereinfacht, kodifiziert, standardisiert und konstruiert Geschichten, Figuren und Inhalte. Die Zuschauer_innen widmen all dem gewöhnlich eine Art geistesabwesender Aufmerksamkeit, und doch ist es der Rohstoff ihrer Gedanken, Gespräche und letztlich auch ihrer Wahlpräferenzen. Sie stellen, was sie im großen Zauberkasten hören, ihren eigenen Erfahrungen gegenüber, sie begeistern sich, empören sich, und letztlich wählen sie. Die Stimmabgabe ist eine sehr schwache soziale Bindung, aber es ist die einzige, die einem Großteil der Bevölkerung zur Verfügung steht, der, bedenkt man den Mangel an Interesse der Institutionen an ihrer eigenen Durchlässigkeit, keinen Zugang zu ihnen hat.

Die Ganemos-Methode verachtet sie nicht; sie zeigt all jenen Respekt, die nicht wollen, oder es sich nicht leisten können, dass die Politik einen erheblichen Teil ihrer Zeit aufzehrt, sondern ist bestrebt, allen ein höheres Maß an Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten zu bieten. Wir glauben, dass, weil die Menschen in Gemeinschaft leben, die gemeinsamen Angelegenheiten uns alle betreffen; im Grunde sind wir mehr voneinander abhängig und verletzlicher als einsame Wölfe. Sich an den gemeinsamen Angelegenheiten zu beteiligen, ist nicht nur etwas ethisch Würdiges, sondern ein stetig wachsendes Bedürfnis, weil das, was in den politischen Institutionen entschieden wird, Probleme sind, die täglich unser Leben beeinflussen: von den Steuern bis zu den Sozialleistungen, von den Regulierungen unserer Rechte bis zu den staatlichen Auflagen, von solchen grundlegenden Dingen wie Bildung und Gesundheit bis zu anderen nicht weniger wichtigen wie der Bewohnbarkeit unserer Städte, dem Recht auf sauberes Wasser und saubere Luft oder dem Wohlbefinden in Angelegenheiten der öffentlichen Sicherheit.


Der ethische Kodex

Alle munizipalistischen Initiativen setzen zunächst einen ethischen Kodex auf, der auch die üblichen Vorstellungen im Feld der Ethik verändert. Eine etablierte Tradition tendiert dazu, Ethik und Politik voneinander zu trennen, die Ethik also als ein Ensemble von Regeln zu verstehen, die für das Verhalten aller Menschen gültig sein müssen, die Politik aber als die Kunst, die anderen zu regieren. In Folge einer alten Herrschaftstradition scheint die Politik am Rande oder über der Ethik positioniert zu sein. Ein falsches Verständnis von Machiavelli trägt dazu bei, aus der Politik eine Art Ausnahme von ethisch angemessenen Verhaltensweisen zu machen.

Die Frage des ethischen Kodex in den Mittelpunkt der neuen politischen Initiativen zu stellen, kehrt diese Situation um. Es läuft darauf hinaus, die Privilegien der Politiker_innen als Erbe der autoritären Traditionen zu beenden. Dieser Kodex verpflichtet die politischen Vertreter_innen, sich zu einem durchschnittlichen Lohn (2.200,- €) zu bekennen, der unterhalb der beträchtlichen Gehälter von leitenden Unternehmens-Angestellten liegt. Er verpflichtet sie auch, keine Nebeneinkünfte zu haben, ihr Eigentum zu deklarieren, die Finanzverwaltung nicht zu betrügen, keine Geschenke anzunehmen, mindestens fünf Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Amt nicht mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, die in dem Gebiet aktiv sind, in dem die Repräsentant_in ihre Funktion ausgeübt hat etc.

Diese Bedingungen mögen, so könnte man argumentieren, dazu führen, dass diejenigen, die höhere Löhne für ihre Funktionen als Fach- oder Führungskräfte von wichtigen Unternehmen verdienen, nicht dafür kompensiert werden, sich in öffentlichen Angelegenheiten zu engagieren. Gut ausgebildete Personen würden so am Rand der institutionellen Politik bleiben. Diesem Argument kann entgegengehalten werden, dass diese Menschen, wenn sie nicht bereit sind, ihre Privilegien für einen gewissen Zeitraum aufzugeben, für die gemeinsamen Angelegenheiten wohl wenig Interesse haben. Es ist nicht logisch zu glauben, dass es bei den heutzutage erforderlichen hohen fachlichen und technologischen Kompetenzen und dem hohen Ausbildungsgrad der Bevölkerung keine Personen mit dem nötigen Wissen jenseits der schmalen Schicht von Fachleuten und hoch qualifizierten Techniker_innen gibt. Vielmehr scheinen die jüngsten Entwicklungen das Gegenteil zu zeigen: eine Vielzahl von ausgebildeten Menschen sind prekär und haben ungeachtet ihrer hohen Ausbildung keine guten Berufsaussichten. Diese hohe Ausbildung politisch zu nutzen, könnte eine sehr gute Idee sein.

Sicherlich kann es nie zu viel technisches Know-how geben, und doch scheint es ein guter Einsatz zu sein, das Band zwischen der institutionellen Politik und den Interessen des herrschenden Kapitalismus zu zerreißen. Dieses Band personalisiert sich in Klientel-Netzwerken, die die repräsentativ-demokratischen Institutionen umgeben und in der Lage sind, viele Gemeinderatsmitglieder zu neutralisieren. Die Maßnahmen der ökonomischen Transparenz des ethischen Kodex sollen dazu dienen, die Schaffung solcher Netze zu verhindern und der langen Geschichte der Korruption ein Ende zu setzen, die die jüngere Geschichte des demokratischen Spanien begleitet. Der ethische Kodex insistiert auf Transparenz, Kontrolle und Rechenschaftspflicht sowie eine Reihe von Maßnahmen gegen die Korruption und gegen eine übermäßige Professionalisierung der Politik, die die Privilegien der Politiker_innen abschirmt und in einem vor den Forderungen der Bürger_innen geschützten Raum platziert.

Ein anderer nicht minder wichtiger Aspekt des ethischen Kodex hat mit der Ablehnung der Finanzierung durch große Banken und mit dem Anspruch zu tun, dass die Mittel aus Crowdfunding, kleinen Spenden und Mikrokrediten kommen, die von Tausenden von Menschen zur Verfügung gestellt werden. Dieser Anspruch soll die Praxis des Bankensystems umkehren, die Finanzierung der Ausgaben der Parteien, insbesondere der Wahlkampagnen, in ein Element des Drucks auf die politischen Entscheidungen zu verwandeln, die ihnen von Nachteil sein könnten. Für die politischen Spitzen einiger verschuldeter Parteien ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, den Forderungen ihrer Sponsor_innen die Stirn zu bieten, die am Ende direkt Gesetzesänderungen verfasst haben; nicht wenige rühmen sich dessen sogar. Also ist die Offenlegung von Lobbyarbeit eine Bedingung der neuen Politik.

Schließlich geht es darum, die Unabhängigkeit der politischen Vertreter_innen durch die in ihrem Umgang mit den ökonomischen Kräften auferlegten Ansprüche zu sichern. Diese Unabhängigkeit können sie zum Nutzen von jenen breiten Schichten der Bevölkerung gebrauchen, die sie letztendlich gewählt haben. Statt sich faktisch wie Oligarchien zu verhalten, sollen die repräsentativen Demokratien die Demokratie erweitern.

Bei aller seiner Relevanz fügt sich der ethische Kodex immer noch in das Regelwerk der repräsentativen Demokratie. Er zielt darauf ab, diese Regeln zu ändern, sie transparenter zu machen, damit sie die Kontrolle der politischen Repräsentant_innen sicherstellen. Aber der Kodex geht nicht über die Logik der Repräsentation hinaus. Es bleibt unbestimmt, wer diese Kontrolle ausüben soll, wie die Verantwortlichkeiten der öffentlichen Verwaltung bestellt werden, wer über das reibungslose Funktionieren der munizipalen Gruppe entscheidet, was geschieht, wenn Repräsentant_innen sich nicht an die Vereinbarung halten ... In den neu gewählten Gruppierungen beginnen wir zu verstehen, dass diese Maßnahmen ungeachtet ihrer Bedeutung nicht den ganzen Ertrag abwerfen, weil uns Hebel dafür fehlen, jene, die bereits an der Macht sind, zur Einhaltung dieser Abkommen zu zwingen. Die Struktur der öffentlichen Institutionen ist derart vertikal und konzentriert so viel Macht an ihrer Spitze, dass es sehr schwer ist, von den unteren Rängen aus jene, die sie besetzen, zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu verpflichten. Offenbar lässt die Realpolitik die institutionellen Ämter mit schwindelerregender Geschwindigkeit die eingegangenen Kompromisse vergessen.


Die Demokratie neu bestimmen

Im Hintergrund sucht die neue Politik die Demokratie neu zu bestimmen, indem sie Mechanismen einführt, die über die repräsentative Demokratie hinaus in die Richtung einer partizipativen Demokratie, ja sogar gewisser Formen der direkten Demokratie gehen. Ihr Charakter der soziopolitischen Bewegung wird in dieser Tendenz zum Ausdruck gebracht. Dafür ist es nötig, jene Initiativen zu verstärken, die sich auf die direkte Intervention in Gemeinde-Angelegenheiten konzentrieren, in den Stadtvierteln, wenn sie spezifische Institutionen wie die Nachbarschaftsräte schaffen, oder auch in den auf Sektoren bezogenen Foren und Meetings zu Arbeitsbereichen wie Bildung, Gesundheit usw. Die Dezentralisierung der Macht und die Erfahrungen der Nachbarschaftsdemokratie können als wirksame Gegenmacht dienen, die institutionelle Macht zu begrenzen und zu kontrollieren. Das Bewusstsein der Notwendigkeit dieser Gegenmacht impliziert, Ressourcen und Kompetenzen von den zentralen Institutionen zu diesen Brennpunkten der politischen Innovation umzuleiten, die in der Lage sind, den Anstoß für eine neue Institutionalität zu geben. Von Anfang an geht es darum, die problematischen Punkte der Ausübung von Autorität zu erkennen, von der einer ungleichen Gesellschaft inhärenten Konfliktualität auszugehen, um zu versuchen, jene Punkte des Gleichgewichts zu finden, die einen Fortschritt in der Transformation erlauben. Dazu ist es nötig, jenen Initiativen Raum zu geben, die aus dem Sozialen heraus bereits das bestehende System verändern.

In diesem Bemühen geht eine erste Blockade von den etablierten politischen Parteien aus. Sie missbrauchen den Rahmen der Repräsentation und glauben, dass nur Parteien legitime politische Akteure seien. Jeder Versuch, den Rahmen der Diskussion zu erweitern und vor allem politische Entscheidungen auf nicht-repräsentative Räume der direkten Beteiligung umzuleiten, wird als Attentat auf ihre Legitimität gedeutet. Besonders stark ist diese Ablehnung im Fall der partizipativen Budgets und der neuen Foren der Teilhabe im Bezirk. Die Parteien lehnen es ab, dass ein Teil des Budgets direkt von der Bürger_innenschaft entschieden wird; sie glauben, dass dieser Prozess „wenig demokratisch“ sei, weil er übermäßige Entscheidungsmacht an Segmente der Bevölkerung abgibt, die keinerlei Legitimität aufwiesen. Sie ignorieren das Paradoxon, dass je nach Stimmenthaltung der Wahlberechtigten die Gewinner-Partei bei einer Wahl nicht mehr als 30% der Bevölkerung repräsentiert und dennoch behauptet, „für alle“ zu regieren. Unter keinen Umständen akzeptieren sie, dass diese Entscheidungen nicht gewählte Bürger_innen treffen, sei es in der Versammlung von körperlich Anwesenden oder virtuell.

Das Gleiche gilt für die Foren der Nachbarschaftsbeteiligung. Die Parteien weigern sich hartnäckig, diesen Foren Entscheidungskompetenz zuzugestehen, weil sie in Widerspruch mit den repräsentativen Kammern geraten würden. Das bedeutet, dass die Beziehung zwischen Repräsentation und Partizipation, die auf den ersten Blick nicht widersprüchlich erscheinen würde, ein Konfliktpunkt ist, der aus meiner Sicht den restriktiven und oligopolistischen Charakter der politischen Repräsentation beleuchtet und die Illusion freilegt, auf die sie sich stützt. Allerdings erweist es sich als sehr schwierig, diese beiden Formen von Politikverständnis unter einen Hut zu bringen, vor allem angesichts des unbestrittenen Privilegs, dessen sich die Logik der Repräsentation erfreut, und angesichts der Zweifel, die eine Teilhabe erregt, die zumindest bis jetzt in keinem Fall massenhaft ist.

Es bedarf auch einer neuen Erzählung – keiner Ideologie im herkömmlichen Sinne, sondern einer Neuinterpretation der Wirklichkeit, die uns erlaubt zu verstehen, wie und warum wir an diesen Punkt gekommen sind, an dem die Mindestbedingungen für ein würdiges Leben im Rahmen von reichen Gesellschaften individualisiert werden. Der Begriff des „Gemeinguts“ gewinnt hier neue Bedeutung, weil er unterstreicht, wie Privatisierungen Formen sind, die dieses Gemeingut Profitinteressen unterordnen, die nicht in die Gesellschaft zurückfließen, von der die Lasten übernommen wurden. Es geht hier nicht nur um die Korruption, die sich ökonomischer Mittel, die aus von der Gesamtheit der Bürger_innen bezahlten Steuern stammen, zur privaten Verwendung bemächtigt, sondern um die Verwendung öffentlicher Institutionen und Regierungsstellen zur Förderung privater Unternehmen, die Dienstleistungen monopolisieren, welche die Verwaltungen bewerkstelligen sollten. Mit dieser Formel driften die öffentlichen Verwaltungen in Richtung von Unternehmen, die den Betroffenen entzogen sind, in den meisten Fällen eine Dienstleistung von niedrigerer Qualität bieten und gleichzeitig die Bedingungen für die Beschäftigten dieser Zentren verschlechtern, wenn sie auch im Gegenzug eine gewisse Verbesserung des oberflächlichen Ansehens erreichen. Privatisierungen und Verschuldung waren die Zauberformeln, um aus öffentlichen Verwaltungen Verkaufsstellen für private Dienstleistungen zu machen. Wenn in den Unternehmen, die diese Leistungen anbieten, Personen, die ein öffentliches Amt innehaben (oder ihre nächsten Verwandten) arbeiten, schließt sich der Kreis mit unendlichen Erwartungen ununterbrochenen Gewinns, dessen Kehrseite eine fortgesetzte Verschuldung der Staatskassen und eine Erhöhung der Steuern ist.

Diese Situation umzukehren bedeutet, die Remunizipalisierung der Dienstleistungen und die Förderung von jenen kooperativen und solidarischen Produktionsweisen ernst zu nehmen, die in der Lage sind, ein anderes städtisches Gewebe zu schaffen. Es bedeutet auch, das Gewebe der Produktion zu verändern, indem mehr Wert auf die Ausbildung gelegt wird, auf die Aufgaben der Pflege und die Dienstleistungen der Sanierung und Umweltverträglichkeit der städtischen Infrastrukturen (Sanierung von Altbauten, Anpassung der Wassernetze, Abfallwirtschaft, technologische Modernisierung etc.).

Heute ist die Bilanz nicht so positiv, wie wir es gerne hätten. Überall tauchen Probleme auf, bei der Remunizipalisierung der privatisierten Dienstleistungen wie bei der Einsetzung von effektiveren Formen der Verwaltung. Ganz zu schweigen von der Einführung von partizipativen Praktiken, die einem großen Teil der Bevölkerung unbekannt sind und die von den Oppositionsparteien direkt boykottiert werden. Die Massenmedien helfen uns auch nicht. Aber wir glauben immer noch, dass unser Einsatz der Mühe wert ist: Hoffentlich kann er sich in ganz Europa verbreiten, und hoffentlich gelingt es einer profunderen und massenhafteren Demokratie, die exzessive Macht europäischer Eliten auszuhebeln, die mit ihrer Politik der Angst dabei sind, die Union zu zerreißen. Jede Transformation in Europa braucht diese neuen Erfahrungen, und wir, die munizipalistischen Regierungen neuer Prägung in Südeuropa, wir brauchen sie dringend. Ohne sie können wir die Konfrontation zwischen unseren tief verschuldeten Staaten und den europäischen Institutionen, die uns geringschätzen, nicht abwenden.

 

 

[1] Ada Colau, Adrià Alemany, ¡Sí se puede!: Crónica de una pequeña gran victoria, Barcelona: Destino 2013, S. 8.