Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

06 2013

Die Mikrophysik des Vergleichs

Für eine Dislozierung des Westens

Naoki Sakai

Übersetzt von Birgit Mennel

Lassen sie mich eingangs die beiden Momente in einem Akt des Vergleichs beschreiben, der in dem Gebiet stattfindet, das ich als vergleichende Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften bezeichne. Diese beiden Momente – den einen können wir als logisch und den anderen als politisch beschreiben – lassen sich immer dann unterscheiden, wenn wir uns in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften auf ein vergleichendes Verfahren einlassen.

Das erste Moment ist die Annahme einer Gattung der verglichenen Elemente. Der Vergleich wird zwischen oder inmitten vereinheitlichter Gegenstände durchgeführt. Diese werden vorläufig so identifiziert, als gehörten sie zu zwei Arten. Gleichzeitig legt der Vergleich den Grund für die logische Dimension der Gattung, innerhalb derer der Artunterschied (diaphora) gefunden, gemessen oder beurteilt wird. Den Arten werden besondere Kulturen, Sprachen, ökonomische Systeme, politische Ideologien usw. zugeschrieben. All diese werden als eine vereinheitlichte Entität und als ein besonderes Beispiel (Art) einer allgemeinen Gruppe (Gattung) vorausgesetzt. Selbst solche Gegenstände wie Kultur und politische Ideologie werden als vereinheitlichte Einheiten betrachtet, wenn wir diese Gegenstände einem Vergleich unterziehen. So vergleichen wir etwa die englische Sprache mit der chinesischen Sprache, da diese beiden besonderen Sprachen der Kategorie der Sprache im Allgemeinen angehören. Solange Englisch als eine Systematizität gilt, ist es eine individuelle[1], eine vereinheitlichte unteilbare Entität. Wir sind jedoch ganz und gar nicht sicher, ob der zu vergleichende Gegenstand – in diesem Fall die englische oder die chinesische Sprache – auf der Ebene des unmittelbar Empirischen existiert, da die traditionelle Logik die Eigenschaft empirischer Existenz manchmal dem Konzept des Einzelwesens zugewiesen hat. Als eine von vielen besonderen Sprachen ist das Englische eine besondere Art der allgemeinen Gattung Sprache. Außerdem muss eine besondere Sprache aber als unteilbare Einheit begriffen werden können, um sie als Einzelwesen betrachten zu können. Das Einzelwesen ist letzten Endes ein individuum, eine nicht weiter teilbare Entität. Der Vergleich erfolgt unter der Annahme, dass dieses grundlegende Verfahren der logischen und formalen Vernunft weiterhin gültig und tragfähig und die Individualität einer besonderen Sprache unstrittig ist.

Das zweite Moment ist die Gelegenheit oder der Ort, an dem wir zu vergleichen gezwungen sind. Der Vergleich findet statt, weil es die Bestimmung des Artunterschieds braucht. In Anwesenheit einer Person, die zu sprechen scheint, bin ich entweder nicht in der Lage zu verstehen, was sie will, oder was sie zu tun plant. Irgendwann weiß ich nicht mehr weiter. Natürlich wird bei einer solchen Gelegenheit irgendwann eine Erklärung dafür erwartet, warum ich und wir nicht mehr weiter wissen. Das Denken bietet möglicherweise eine schematische Erklärung dafür an: Sie spricht Chinesisch, während ich Englisch spreche. Beide Sprachen gehören zur allgemeinen Gruppe der Sprachen, aber wir können uns einander nicht verständlich machen, weil sich das Chinesische vom Englischen unterscheidet.

Lassen sie mich hier für einen Moment innehalten, weil ich nicht glaube, dass sich das, was in diesem Beispiel auf dem Spiel steht, unter das Konzept des Artunterschieds subsumieren lässt.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Bestimmung des Artunterschieds als eine Lösung für unser Ausgangsproblem angeboten wird, das darin besteht, dass wir nicht mehr weiter wissen, als Erwiderung auf die Ratlosigkeit, auf die wir an einem solchen Ort treffen. Sprachdifferenz ist mutmaßlich eine Art von Artunterschied, deren Zweck in einem Hinweis darauf besteht, warum wir uns an einem Ort des Nichtverstehens, der Ratlosigkeit oder der Hilflosigkeit befinden.

Es wird also angenommen, dass die Sprachdifferenz eine Situation verursacht, in der wir wissen müssen, warum wir miteinander nicht mehr weiterwissen. Sprachdifferenz ist eine ernste Angelegenheit, wenn wir einander nicht verstehen, wenn wir unseren Vereinbarungen für die unmittelbare Zukunft nicht vertrauen können. Üblicherweise wird angenommen, dass unsere Soziabilität auf einer ursprünglichen Kommunalität aufbaut, auf unserer Fähigkeit, an ihr unmittelbar und augenblicklich gemeinsam teilzunehmen. Sprachdifferenz wird als Ursache unserer Unfähigkeit teilzunehmen verstanden, sie führt zur Abwesenheit von Kommunalität. Normalerweise – und die Normalität besteht in dieser unberechtigten Annahme, dass Menschen einander verstehen – äußern wir keinen Zweifel an der Verständlichkeit unserer Ausdrucksformen oder unserer Befähigung, die Handlungen und Äußerungen anderer zu verstehen. Der Vergleich wird nur bei jenen Gelegenheiten notwendig, bei denen wir gezwungen sind, uns unterschiedlicher Leute, unterschiedlicher Wesen bewusst zu werden, mit denen wir gemeinsam anwesend sind.

Der Begriff „Differenz“ wird eben durch die Erfahrung von „Unsinn“, „Nicht-mehr-Weiterwissen“ oder „Keinen-Sinn-Ergeben“ gekennzeichnet. Die Bestimmung des Artunterschieds wird etwas dringend und sogar verzweifelt Wichtiges, gerade weil wir uns in der Gegenwart anderer in einer Diskontinuität befinden. Meistens sprechen wir von dieser Begegnung mit einer Diskontinuität mit dem Begriff des Fremden. Bezeichnenderweise bedeutet jedoch das Fremde nicht das Außen oder das Äußere in einem strikt räumlichen Sinn. Denn an diesem Punkt kann Diskontinuität nicht als eine Beziehung in einem gleichmäßig kontinuierlichen Raum repräsentiert werden. Und vor allem ist es wesentlich zu bedenken, dass wir nicht darum nicht mehr weiterwissen, keinen Sinn sehen, weil sich irgendeine Person oder irgendwelche Leute – im Sinne des Artunterschieds – von mir oder uns unterscheiden. Im Gegenteil, insbesondere weil wir nicht mehr weiterwissen, oder weil es keinen Sinn ergibt, versuchen wir, diese Begegnung mit Differenz in der logischen Ökonomie von Art und Gattung zu bestimmen.

In diesem Artikel geht es darum, ob wir Differenz im Sinne von „Unsinn“ oder „Nicht-mehr-Weiterwissen“ als Artunterschied konzeptualisieren können; als den Unterschied, der innerhalb der klassischen Logik in der Ökonomie der Art und Gattung kategorisiert wurde.

Erlauben Sie mir, dass ich mir eine andere Situation vorstelle, in der wir wissen müssen, auf welche Weise wir uns voneinander unterscheiden, warum manche Menschen nicht den Geboten oder Befehlen unterworfen sind, denen ich normalerweise gehorche oder denen ich mich ergebe, warum einige von einer Reihe von Verboten frei sind und andere nicht. Wir vergleichen uns folglich selbst, um herauszufinden, wo wir – in einem praktischen Sinn – anderen gegenüber situiert sind, auf einer Achse dessen, was wir tun müssen. Der Vergleich ist unverzichtbar, gerade weil wir wissen wollen, in welcher Beziehung wir zueinander stehen, wer von uns die Führung übernehmen soll, wer folgen soll, wer für wen von uns arbeiten soll usw. Durch den Akt des Vergleichs verstehen wir die Anordnung unserer Subjektpositionen, die uns begreiflich macht, wer wir im Sinne sozial bestimmter Verhältnisse sind: Geschlecht, Rassisierung, soziale Klasse, Nationalität, Zivilisation, Verwandtschaft, Religion, Kultur, berufliche Qualifikationen usw. Wenn wir uns in der Anordnung der Subjektpositionen nicht finden können, wissen wir auch nicht mehr weiter bzw. wissen wir nicht, wie wir in dieser Situation in Übereinstimmung mit anderen handeln können. Bei solchen Gelegenheiten fühlen wir, dass etwas anders ist, und dass wir uns in einer Weise verhalten sollten, die sich von dem Verhalten unterscheidet, das uns normalerweise oder auf normative Weise abverlangt wird. Es ist jedoch wichtig, festzuhalten, dass dieses Gefühl von Differenz nicht einfach auf die Differenz im Paradigma des Ähnlichen und des Verschiedenen, des Homologen und des Heteronomen reduzierbar ist.

In den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften gibt es eine große Auswahl an Vergleichsobjekten. Daher konzentriere ich mich in diesem Artikel auf jene Arten von Objekten, die in diesen Wissenschaften am häufigsten einem Vergleich unterzogen werden: Sprache, Kultur, Nationalität und Zivilisation. In der Folge untersuche ich, wie das zweite Moment des politischen Manövers den Spielraum für den ersten Moment der logischen Kategorisierung vorherbestimmt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Identitätspolitiken in den vergleichenden Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, da dieser Aspekt häufig unbeachtet bleibt – trotz der unbestreitbaren Tatsache, dass der Prozess der Identifizierung auf der Voraussetzung vergleichender Verfahren beruht –. Gerade weil das Verfahren des Vergleichs weder explizit objektiviert, noch als Thema postuliert wird, bleibt die vergleichende Untersuchung von Sprache, Kultur, Nationalität und Zivilisation sehr häufig ignorant gegenüber dem, was dem Vergleich vorausgeht, was ihn erfordert oder was ihn vorbereitet.

Wie ich oben habe durchklingen lassen, werde ich auch das zweideutige Konzept des Einzelnen im Verhältnis zur logischen Ökonomie von Art und Gattung untersuchen. In Verbindung mit Persönlichkeit und Subjektivität weist der Begriff des „Einzelnen“ eine konzeptuelle Instabilität auf: Er wird durch die Ökonomie der Spezifizierung reguliert und ist zugleich ganz und gar jenseits der Art und mit ihr unvereinbar. Diese konzeptuelle Zweideutigkeit des Einzelnen möchte ich in mein Verständnis des Orts des Vergleichs einbeziehen. Dieser Ort ist ein Topos, in dem wir zueinander in Formen artikuliert werden, die ich andernorts „heterolingual“ genannt habe.[2]

Transnationalität und Internationalität

Diesem vorläufigen Leitfaden folgend erlaube ich mir eingangs die Feststellung, dass Nationalität anfänglich eines der vorherrschenden Themen war, wenn es um den Prozess des Vergleichs in der Wissensproduktion der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften ging. Nationalität ist im Wesentlichen eine Figur, ein Schema, ein Entwurf oder ein Bild, das sich aus der Bestimmung des transnationalen oder internationalen Artunterschieds ergibt. Selbstverständlich bleiben sowohl Transnationalität wie auch Internationalität ohne Bezugnahme auf das vergleichende Verfahren unverständlich. Sowohl in der Transnationalität wie auch in der Internationalität geht es darum, zu vergleichen, zu unterscheiden, zu teilen und eine Grenze zu ziehen.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, auf die wachsende Bedeutung der Problematik der „Grenzziehung“ (bordering) in der gegenwärtigen Wissensproduktion hinzuweisen.[3] Diese Problematik muss eigens als eine der „Grenz-Ziehung“, und nicht als eine der „Grenze“ gekennzeichnet werden, weil es hier um viel mehr geht, als um das alte Problem der Grenze, der Abgrenzung sowie der Klassifizierung. Diese Problematik anerkennt nicht nur die Gegenwart von Grenzen, von Regimen der Abgrenzung und Paradigmen der Klassifizierung, sondern wirft zugleich auch ein Licht auf die Prozesse der Grenzziehung, der Spezifizierung des Elements des Vergleichs, des Festlegens der Unterscheidungsmerkmale bei der Abgrenzung sowie der Einschreibung eines kontinuierlichen Raums[4] des Sozialen, vor dessen Horizont die Einteilung erfolgt. Es scheint mir vor allem sehr aussagekräftig, dass Sandro Mezzadra und Brett Neilson diesen Begriff zunächst eingeführt haben, als sie von der „Vervielfältigung der Arbeit“ sprachen.[5] Durch das Konzept der Vervielfältigung der Arbeit fordern Mezzadra und Neilson die konventionelle Kategorisierung der Arbeit sowie die vertraute Vorstellung einer internationalen Arbeitsteilung heraus und wollen „die Orthodoxie infrage stellen, die das globale Spektrum der Arbeit gemäß internationaler Unterteilungen oder stabiler Anordnungen kategorisiert, etwa dem 3-Welten-Modell oder jenen Modellen, die um Binaritäten wie Zentrum/Peripherie oder Nord/Süd geschaffen wurden.“ Es gilt das dynamische und sich ständig verändernde Verhältnis von Arbeit und Macht zu berücksichtigen. Die Welt wird nicht grenzenlos. Im Gegenteil, Grenzen werden neu gezeichnet und ständig vervielfältigt. Die Begrenzungen nationaler Territorien, ethnischer Kulturen und Zivilisationen sind nicht die einzig vorherrschenden Grenzen. Es gibt viele Grenzen, die neu eingeschrieben werden. Folglich verlangt die Analytik der Grenzziehung, dass wir zugleich die Gegenwart der Grenze und die Grenzziehung oder ihre Einschreibung untersuchen.

Im Rahmen dieses Artikels möchte ich auf die Problematik der Grenzziehung  insbesondere deshalb aufmerksam machen, um die Unterscheidung von Transnationalität und Nationalität zu erläutern. Vor allem möchte ich die Verständnisordnung umkehren, in der Transnationalität auf der Basis von Internationalität begriffen wird; dieses Verständnis beruht auf der Annahme, dass Nationalität ursprünglich und Transnationalität irgendwie zweitrangig ist oder daraus abgeleitet wird. Das Transnationale wird immer noch als etwas verstanden, das durch das Hinzufügen des Präfix „Trans-“ zur Nationalität geschaffen wird. Leider behält das Wort „transnational“ eine Morphologie bei, in der das „Trans+Nationale“ erst in Geltung ist, nachdem das „Nationale“ verändert wird. „Transnational“ wird dem „Nationalen“ untergeordnet und schafft so Raum für das irreführende Postulat, dass das Nationale fundamentaler oder grundlegender ist als das Transnationale. Infolgedessen wird das Transnationale als vom Nationalen abgeleitet verstanden. Dieses weitverbreitete Denkmuster lässt sich auf unsere Denkgewohnheit zurückzuführen, der zufolge das Adjektiv „transnational“ einem Ereignis oder einer Situation zugeschrieben wird, die von einer Nationalität nicht eingedämmt werden kann. Ein_e Einzelne_ oder mehrere bewegen sich zum Beispiel über die äußeren Grenzen eines nationalen Territoriums hinaus in ein anderes Territorium. Diese Bewegung wird „transnational“ genannt. Oder ein Unternehmen ist in mehreren nationalen Territorien registriert und führt Projekte durch, die gleichzeitig seine Angestellten unterschiedlicher Nationalitäten in verschiedenen Ländern mobilisieren. Solch ein Unternehmen wird ein „transnationaler“ Konzern genannt. Was ich zuerst betonen möchte, ist die implizite Annahme, die dem Konzept der Nationalität zugrunde liegt, nämlich dass Nationalität nur dann Sinn machen kann, wenn sie vor dem Horizont von Internationalität postuliert wird. Und wir müssen bedenken, dass Internationalität schlichtweg unverständlich bleibt, wenn wir nicht eine bestimmte Form des Vergleichs und der Kategorisierung von Gegenständen der Welt voraussetzen. Internationalität ist im Wesentlichen ein spezifisches historisches Regime des Vergleichs, das innerhalb der Ökonomie von Art und Gattung funktioniert.

Eben aufgrund der Politik des Vergleichs macht Nationalität nur in Verbindung mit Internationalität Sinn. Nationalität wird nur dann vorstellbar, wenn der Schauplatz, an dem Nationen einander gegenübergestellt werden, innerhalb eines Schemas staatlicher Souveränität institutionalisiert ist. So wie das Gefühl der Verschiedenheit in der Erfahrung des „Nicht-mehr-Weiterwissens“ nicht mit dem Artunterschied gleichgesetzt werden darf, so darf auch Transnationalität nicht mit Internationalität verwechselt werden.

Zur gegebenen Zeit ist die Unterscheidung von Transnationalität und Internationalität das zentrale Anliegen der Politik des Vergleichs. Um die Vorrangigkeit der Transnationalität gegenüber der Nationalität zu behaupten, besteht unsere erste Bewegung demnach in einer Beschreibung der Semantik der Transnationalität, die von der Internationalität unterschieden wird.

Eines der spezifischen Merkmale der modernen Welt ist in ihrer Internationalität zu finden. Die Modernität der modernen Welt hat sich in der Schaffung der internationalen Welt manifestiert. Heute wird Transnationalität im Allgemeinen innerhalb des Schemas der internationalen Welt verstanden. Mit „Schema“ meine ich hier ein bestimmtes Bild oder eine bestimmte Figur, vor deren Hintergrund unser Gefühl der Nationalität begriffen wird. Das Schema der Nationalität ist in das weitere Schema der Internationalität eingelassen, und die eigentliche Beziehung zwischen dem nationalen und dem internationalen Schema wird als die von Art und Gattung verstanden. Aber es ist wichtig festzuhalten, dass die internationale Welt in manchen Regionen, wie etwa in Ostasien, erst im späten 19. Jahrhundert die Oberhand gewann. Das war auch in Afrika, im Nahen Osten, in Südostasien sowie im Pazifik der Fall (sofern mir die Verwendung dieser sehr problematischen geopolitischen Namen für Regionen auf dem Globus zugestanden wird). Ich vermute, dass es sich auch im Norden Europas so verhielt, auch wenn die internationale Welt angeblich lange Zeit vorher etabliert wurde.

In Ostasien war die internationale Welt etwas völlig Neues. Es dauerte mehr als ein Jahrhundert, ehe ostasiatische Staaten das alte Tributsystem aufgaben und sich der neuen zwischenstaatlichen Diplomatie beugten, die durch das internationale Recht diktiert wurde. In diesem Fall – der auf viele andere Regionen des Globus zutrifft – bedeutete die internationale Welt also die Ankunft der kolonialen Modernität. Und in eben diesem Prozess der Einführung der internationalen Welt begann die binäre Entgegensetzung vom Westen und dem Rest als jenes Rahmenwerk zu dienen, in dem die koloniale Hierarchie der Welt global verwirklicht und institutionalisiert wurde.

Selbstverständlich ist die internationale Welt kein ausschließlich auf das 20. Jahrhundert beschränktes Phänomen. Die Teilung der Welt in zwei einander entgegengesetzte Gebiete, den Westen und den Rest, war in der akademischen Welt einige Jahrhunderte lang eine weithin akzeptierte Praxis. Diese Dichotomie kann bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden, als mit dem Westfälischen Frieden 1648 das System des internationalen Rechts eingeführt wurde. Diese Friedensverträge, die auf den Dreißigjährigen Krieg folgten, etablierten vorläufig diese Aufteilung in zwei geopolitische Gebiete. Das erste dieser Gebiete wurde in der Folge „die internationale Welt“ genannt, in der vier Prinzipien beachtet werden mussten: 1) die Souveränität und die Selbstbestimmung des Nationalstaats, 2) die legale Gleichheit von Nationalstaaten, 3) die Vorherrschaft internationaler Gesetze zwischen diesen Staaten und 4) die Nichtintervention eines Staates in die inneren Angelegenheiten des anderen. Das zweite dieser Gebiete war ein geopolitisches Gebiet, das vom ersten Gebiet ausgeschlossen wurde. Diese vier Prinzipien, inklusive der Vorherrschaft internationaler Gesetze, hatten dort keine bindende Kraft. Das erste Gebiet sollte später der Westen genannt werden, während das zweite Gebiet aus „der internationalen Welt“ ausgeschlossen blieb und mit seinen der kolonialen Gewalt unterworfenen Staaten und Bewohner_innen buchstäblich zum „Rest der Welt“ wurde.

In Ostasien erfolgte zum Beispiel die Kolonisierung Koreas durch Japan entsprechend den Protokollen der internationalen Welt. Viele Teile des Globus wurden zudem dem Schema der internationalen Welt gemäß kolonisiert. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts war der größte Teil des zweiten Gebiets zu Kolonien gemacht worden, die einigen wenigen Supermächten gehörten. Doch diese pseudogeographische Bezeichnung des Westens – pseudogeographisch darum, weil der Westen letztlich analytisch keine geographische Bestimmung ist – breitete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus, als sich die internationale Welt erweitern musste, um die gesamte Weltoberfläche zu bedecken. Diese Notwendigkeit war das Ergebnis von drei Entwicklungen: dem kolonialen Wettbewerb zwischen den imperialistischen Staaten; dem Aufkommen Japans und der Vereinigten Staaten als moderne imperiale Mächte; und vor allem, der zunehmenden Verbreitung antikolonialer Kämpfe für nationale Selbstbestimmung. In dieser historischen Beschreibung des Westens lassen sich zwei Faktoren bestimmen, die für die Unterscheidung vom Rest der Welt vorrangig waren: einerseits das Vermächtnis der Kolonialismen und andererseits das Verfahren des Vergleichs, das auf der logischen Ökonomie von Art und Gattung basierte.

Damit eine Kolonie Unabhängigkeit erlangen konnte, mussten die Kolonisierten ihre eigene nationale Souveränität begründen und die Anerkennung anderer souveräner Staaten gewinnen. In anderen Worten, der Prozess der Dekolonisierung bedeutete für eine kolonisierte Nation, in die Ränge der Nationalstaaten in der internationalen Welt einzutreten. Als die Anzahl der Nationen wuchs, die in der internationalen Welt anerkannt waren, wurden die Annahmen von Nationalität und Internationalität akzeptiert, als handle es sich um Naturgegebenheiten. Da die schematische Natur der internationalen Welt irgendwie in Vergessenheit geraten war, wurden sowohl Nationalität wie auch Internationalität enthistorisiert, als ob die Institutionen, die symbolisch die Grenze der nationalen Gemeinschaft kennzeichnen – wie nationales Territorium, nationale Sprache, nationale Kultur, nationale Geschichte usw. – ein natürliches Erbe wären. Folglich ist es nicht überraschend, dass die große Mehrheit der vergleichenden Untersuchungen in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften – die Komparatistik, die vergleichende Rechtswissenschaft, die vergleichende Soziologie und die sogenannten area studies – heute unter die allgemeine Gattung vergleichender Nationalität fallen.

Das Konzept der Transnationalität muss in diesem kritischen Augenblick gestärkt werden. Es muss reaktiviert werden, um die scheinbare Natürlichkeit von Nationalität und Internationalität zu unterminieren und die eigentliche Historizität unserer Annahmen über Nationalität, nationale Gemeinschaft, nationale Sprache, nationale Kultur und Ethnizität aufzuzeigen, die oft mit „dem Gefühl der Nationalität“ in Verbindung gebracht werden. Für die Historisierung des Schemas der internationalen Welt ist die klassische Vorstellung von Nationalität im britischen Liberalismus von entscheidender Bedeutung.

Stuart Mill zufolge bedeutet Nationalität:

„Man kann von einem Teil der Menschheit sagen, dass er eine Nationalität bilde, wenn die dazugehörigen Menschen sich durch gemeinsame Sympathien verbunden fühlen, die zwischen ihnen und irgendwelchen anderen Menschen nicht bestehen, und die da machen, dass sie bereitwilliger miteinander zusammenwirken als mit anderen Leuten, und dass sie wünschen unter derselben Regierung zu stehen, und zwar unter einer Regierung, die ausschließlich entweder durch sie selbst oder durch Personen aus ihrer Mitte gebildet wird. Dieses Gefühl der Nationalität kann aus sehr verschiedenen Ursachen hervorgegangen sein. Bisweilen ist es die Folge von Identität der Rasse und Abstammung. Gemeinsamkeit der Sprache und Religion trägt sehr viel dazu bei. Die Art der geographischen Begrenzung kann ebenfalls zu seinen Ursachen gehören. Die stärkste derselben ist aber immer die Identität des politischen Lebens und der politischen Entwicklung, der Besitz einer nationalen Geschichte und die sich daraus ergebende Gemeinsamkeit der Erinnerungen, sowie die Übereinstimmung in Stolz und Scham, Freude und Leid, die sich an dieselben Ereignisse der Vergangenheit knüpfen.”[6]

In Ostasien hat Fukuzawa Yukichi (1835–1901) die britische Diskussion zu Nation und Nationalismus systematisch und nachdrücklich eingeführt. Er gilt heute als einer der führenden Intellektuellen der Aufklärung, der sich in Japan für die Schaffung der modernen Nation einsetzte und der in den 1870ern, einige Jahre nach der Meiji-Restauration, den englischen Begriff Nationalität in kokutai (nationaler Körper) übersetzte. Kokutai wurde als Fetisch benützt, um die Souveränität des japanischen Kaisers zum Ausdruck zu bringen. Das Wort Nationalität oder nationaler Körper war im japanischen Reich im frühen 20. Jahrhundert beinahe sakrosankt und verpflichtend. In seiner Outline of the Theory of Civilizations[7] schloss Fukuzawa indes Mills Erklärungen zu Nationalität und zum Gefühl der Nationalität (kokutai no jô) beinahe wörtlich in seine Darstellung von kokutai ein. Für Fukuzawa war die Herausbildung des Gefühls der Nationalität unter den Bewohner_innen des japanischen Archipels ein absolut unerlässlicher Teil der Konstruktion eines Nationalstaats. Zunächst musste das Fehlen des Gefühls der Nationalität unter den Massen anerkannt werden, die die Inseln Japans unter der Herrschaft feudaler Regierungen bewohnten. Es gab keine Nation Japan, kein Japanisch als Nation. Die Schaffung eines völlig neuen Typs von Gemeinschaft, „Nation“ genannt, erforderte daher die Herstellung des Gefühls der Nationalität. Das Modernisierungsprojekt des Aufbaus einer Nation ging zweifellos mit einer Fülle von technischem Wissen in den Rechtswissenschaften, der Medizin, der Mathematik, den Naturwissenschaften, der Technik, der Landwirtschaft, der Regierung, der Ökonomie, der Waffentechnik usw. einher, aber Fukuzawa und viele andere Intellektuelle sahen, dass für die Modernisierung Japans ein bestimmtes ästhetisches Wissen absolut wichtiger war als alles moderne Wissen: Ihre Aufgabe war im Kern wesentlich ästhetischer Natur und sie wussten, dass es unmöglich war, einen Nationalstaat ohne „das Gefühl der Nationalität“ zu schaffen.

Ohne in der internationalen Welt als ein souveräner Staat anerkannt zu werden, hätten die im japanischen Archipel lebenden Menschen sich indes niemals als eine Nation gegründet oder die moderne internationale Welt betreten. Für Fukuzawa bedeutete die Modernisierung Japans folglich die Schaffung der institutionellen Bedingungen für das Gefühl der Nationalität. Ohne dieses würden die Menschen niemals eine nationale Gemeinschaft bilden. Und nach Fukuzawas Auffassung würden die Japaner_innen ohne das Gefühl der Nationalität weder als Individuum noch als Kollektivität unabhängig werden können.

Kaum war der Begriff Nationalität in Ostasien eingeführt, diente er schon dazu, die Menschen, die zur Unabhängigkeit fähig waren, von jenen zu scheiden, die zur Kolonisierung verdammt waren. Fukuzawa glaubte fest, dass das Vermächtnis des Konfuzianismus beseitigt werden musste, um die Gesellschaft neu zu organisieren, damit sie sich in eine solche moderne Gemeinschaft – nämlich in eine nationale Gemeinschaft – verwandelte, in der das Gefühl der Nationalität die Oberhand gewann. Und wie wir wissen, galt dies nicht nur für Japan. Diese Überzeugung in Bezug auf Modernisierung wurde von vielen nationalistischen Intellektuellen geteilt, wie etwa von Lu Xun in China und Yi Kwangsu in Korea. Der Drang zur Modernisierung sowie das Bestreben, ihre Länder aus der kolonialen Unterjochung zu befreien und in unabhängige Nationalstaaten umzuwandeln, trieb viele nationalistische Intellektuelle in Ostasien dazu, sich in Kämpfen gegen den Konfuzianismus oder gegen andere „feudale Überbleibsel“ in ihren eigenen Gesellschaften zu engagieren. Es ist unbestritten, dass in Ostasien wie auch andernorts, das Problem der Nationalität in einem engen Zusammenhang mit Fragen kolonialer Modernität stand.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sahen nahezu alle Intellektuellen in Ostasien und anderswo im Rest die Einführung der Nationalität als eine absolut notwendige Bedingung dafür, dass Menschen im Rest der modernen internationalen Welt mit kolonialer Modernität  umgehen könnten. Sie verstanden, dass sie die lokalen Massen in ein Volk mit einer Nationalität verwandeln mussten, um sie dazu zu bringen , sich der kolonialen Unterjochung und Erniedrigung zu entledigen. Selbstverständlich war es äußerst wichtig, die Systeme des Industriekapitalismus in ihren eigenen Ländern zu schaffen und die Bevölkerung zu bilden, damit diese zu wissenschaftlicher Rationalität fähig war. Das Schicksal der Nation ließ sich nicht vom Modernisierungsprojekt trennen. Die Modernisierung erforderte die Einführung industrieller Produktionsanlagen, nationale Bildung, ein nationales Transportsystem, eine von der Nationalbank regulierte nationale Währung, ein modernes, auf nationalem Wehrdienst basierendes Militär sowie den Geist wissenschaftlicher Rationalität, der moderne Technologie und industrielle Produktion in die Gesellschaft brachte. All diese für den Aufbau einer Nation notwendigen Institutionen wären jedoch überflüssig, wenn sie nicht vom Gefühl der Nationalität begleitet wären, das die Menschen als eine Nation, als eine Gemeinschaft mit geteiltem Schicksal zusammenfügt. Nationalistische Intellektuelle glaubten fest, dass Menschen unter kolonialer Herrschaft niemals dazu in der Lage wären, die Wirklichkeit kolonialer Modernität zu begreifen, wenn sie nicht eine politische Gemeinschaft namens „Nation“ schaffen würden, einen neuen politischen Bund, geformt nach dem Muster einer „Brüderlichkeit“, die von früheren familiären, verwandtschaftlichen oder tribalen Zugehörigkeiten unabhängig war. Sie waren überzeugt davon, dass sich die indigene Bevölkerung niemals selbst aus den Fesseln der kolonialen Unterjochung befreien würde, wenn sie keine Nation bildete.

Hier ist eine Berichtigung nötig. Ich habe die moderne binäre Gegenüberstellung des Westens und des Rests der Welt als anleitenden Entwurf bzw. als eine Trope eingeführt. Doch es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass dies nicht mehr als eine Trope, ein figurativer Ausdruck ist. Die binäre Gegenüberstellung verleiht uns eine Art synoptische Vision der modernen Welt, aber dieser Vision mangelt es in vielen konkreten historischen Kontexten an Kohärenz. Die Aufgabe der Modernisierung, der sich viele asiatische Intellektuelle ab dem späten 19. Jahrhundert stellten, war auch in jenen geographischen Gebieten und bei jenen Leuten präsent, die als Teil Europas oder des Westens gelten können. Die eigentliche Abgrenzung zwischen dem Westen und dem Rest ist dermaßen willkürlich, dass es unzählige Fälle gibt, in denen bestimmte Regionen der heutigen Europäischen Union wohl auch außerhalb des Westens lokalisiert werden könnten. Einige soziale Schichten der Vereinigten Staaten, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Ruf genossen, das Zentrum des Westens zu sein, weisen beispielsweise eben jene Merkmale einer Vormodernität auf, die üblicherweise dem Rest zugeschrieben werden. Bestimmte Aspekte des Alltagslebens in manchen südostasiatischen Regionen zum Beispiel sind fraglos „westlicher“ als die so mancher Bevölkerungsteile in den Vereinigten Staaten. In Abhängigkeit vom Kontext des Vergleichs verschiebt und äußert sich die eigentliche Unterscheidung zwischen dem Westen und dem Rest ständig. Hier ist es wichtig, uns an die theoretische Bedeutung der von Mezzadra und Neilson eingeführten „Vervielfältigung der Arbeit“ zu erinnern. Unter manchen Umständen wird die Dichotomie des Westens und des Rests fest instituiert. Manchmal ist sie willkürlich und kontingent. Es ist nahezu unmöglich, eine klare Kohärenz zu finden, die die vielen verschiedenen Manifestationen dieser Dichotomie miteinander verbindet. Bei beiden, dem Westen wie dem Rest, handelt es sich zweifellos um historische und mythische Konstrukte, obwohl ich niemals behaupten würde, dass der Westen irreal oder illusionär ist. Doch ich würde in jedem Fall davon absehen, so von ihm zu sprechen, als sei er eine Art transhistorische Substanz oder eine in sich stimmige Analysekategorie.

Übersetzung und Grenzziehung

Die Problematik, die meine Untersuchung in diesem Text leitet, unterscheidet sich deutlich vom nationalistischen Anliegen, das viele asiatische Intellektuelle im 20. und 21. Jahrhundert teilen. Dieser Text ist vielmehr dem Problem verpflichtet, wie wir unsere Phantasie vom Regime des Nationalstaats emanzipieren können, nicht durch eine Negation des Regimes selbst, sondern durch eine Problematisierung der methodologischen Nationalismen, die die Wissensproduktion in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften durchdringen, insbesondere in den akademischen Disziplinen der area studies. Es geht um den Entwurf eines alternativen Bilds einer transnationalen Gemeinschaft. Ich setze die nationalistische Überzeugung aus und weigere mich, Nationalität als etwas Gegebenes zu betrachten. Stattdessen kehre ich die Prioritätenordnung um, während ich mich gleichzeitig unserem Kampf mit der kolonialen Modernität niemals entziehe. Einfach formuliert, ich beginne damit, dass Nationalität ein beschränkter und entstellter Abkömmling der Transnationalität ist. Meine Leitfrage lautet, auf welche Weise die Regeln der internationalen Welt das Transnationale, also die primäre Modalität der Sozialität, begrenzen, regulieren und beschneiden. In diesem Kontext muss ich mich der Frage der Grenzziehung stellen.

Für eine Problematisierung der vorrangigen Stellung von Nationalität und internationaler Welt gilt es zunächst die Tropen der Grenze zu untersuchen.

Es versteht sich von selbst, dass die Grenze nicht natürlich existieren kann. Physische Markierungen wie ein Fluss, eine Bergkette, eine Wand oder selbst eine Linie auf dem Boden werden nur dann zu einer Grenze, wenn sie ein bestimmtes Muster sozialer Aktivität repräsentieren sollen. In dieser Hinsicht ist eine Grenze immer von Menschenhand gemacht und setzt menschliche Sozialität voraus. Nur wenn Menschen aufeinander reagieren, entsteht eine Grenze. Selbst wenn eine Grenze eine Gruppe von einer anderen absondert, unterscheidet oder auf Distanz hält, müssen Menschen in irgendeiner Art von sozialem Verhältnis stehen, damit eine Grenze als eine Markierung oder Repräsentation der Absonderung, Unterscheidung oder Distanz dienen kann. Eine Grenze ist eine Trope, die eine ursprüngliche Sozialität auf paradoxe und unwiderrufliche Weise repräsentiert. Folglich ist eine Grenze sozialen Verhältnissen nachgeordnet. Und diese Verhältnisse können auch Akte des Ausschlusses, der Diskriminierung oder der Zurückweisung beinhalten. Zunächst gibt es einen Akt der „Grenzziehung“. Nur wenn sich Menschen darauf einigen, „Grenzen zu ziehen“, können wir von einer Grenze als einer Institution sprechen. „Grenzziehung“ geht daher immer der Grenze voraus. Die Grenze zu verstehen heißt, zu untersuchen, wie sie eingeschrieben, ausgelöscht, neu gezeichnet oder reproduziert wird.

Vor dieser Grenzziehung ist eine Konzeptualisierung der nationalen Grenze unmöglich. Das nationale Territorium ist daher vor der „Grenzziehung“ unbestimmt. Ebenso ist es unmöglich, vorher eine nationale Sprache zu bestimmen. Daraus folgt, dass wir ohne Bezugnahme auf die „Grenzziehung“ nicht begreifen können, wie sich die Individualität einer bestimmten nationalen Sprache, die tatsächliche unteilbare Einheit einer Sprache durchsetzen konnte, die in der Figur der nationalen Sprache angenommen wird. Und das Verfahren des Vergleichs, mittels dessen Artunterschiede zwischen Sprachen postuliert, gemessen und beurteilt werden, ist unmöglich, wenn nicht die Individualität einer bestimmten Sprache vorausgesetzt wird, die mit einer anderen zu vergleichen ist.

Was also entspricht dieser „Grenzziehung“, wenn es um Sprache geht? Selbstverständlich Übersetzung. Was ich hier vorbringen möchte, ist, dass Übersetzung im Kontext des Schematismus der Bestimmung der Spracheinheiten vorhergeht. Übersetzung wird aber zumeist als Überbrückung der Unterschiede zwischen diesen Spracheinheiten verstanden. Wir müssen daher gegen den allgemeinen Menschenverstand argumentieren, dass es Übersetzung vor der Behauptung einer nationalen oder ethnischen Sprache gibt. Ebenso wie es Transnationalität vor der Nationalität gibt. Kurz, soweit es um die Repräsentation von Sprachen geht, kommt Übersetzung vor der Bestimmung des Artunterschieds. Erst nach der Übersetzung gibt es individuelle Sprachen, die einem Vergleich offen stehen. In anderen Worten, erst nach der Übersetzung sind wir in der Lage, darüber zu sprechen, ob irgendeine andere Sprache der unseren ähnelt oder nicht, und ob es sich um dieselbe oder um eine andere Sprache handelt.

An diesem Punkt können wir einen der Gründe dafür erkennen, dass es notwendig ist, den Akt der Grenzziehung als einen Akt anzusprechen, der dem Vergleich vorhergeht. Wenn der Prozess des Vergleichs im Sinne einer Bestimmung des Artunterschieds ausgelegt wird, muss ein Ort, eine Projektionsfläche oder eine Chôra von Übersetzung geöffnet werden, wo die zu vergleichenden Gegenstände als vergleichbar gegenübergestellt werden. Wenn die Gegenstände nicht auf derselben Ebene oder Projektionsfläche zu finden sind, vor deren Horizont sie verglichen werden, ist die Suche nach einem Artunterschied schlicht unmöglich. Selbstverständlich kann der Vergleichsprozess nicht in Gang gesetzt werden, wenn die zu vergleichenden Gegenstände nicht als vergleichbar vorausgesetzt werden. In anderen Worten, anlässlich einer Diskontinuität, in der wir nicht mehr weiterwissen, unfähig sind zu begreifen, was vor sich geht und Un-Sinn begegnen, können wir nicht einmal beginnen zu vergleichen. Es ist jedoch das Ereignis der Diskontinuität, das nach Übersetzung verlangt. Es versteht sich von selbst, dass das, was in diesem besonderen Kontext unserer Diskussion den Ort des Vergleichs eröffnet, nur die Übersetzung ist. Der Schematismus von Art und Gattung, von Nationalität und Internationalität kommt erst nach der Übersetzung.

Ich kann zur Zeit nicht einschätzen, ob ein Fokus auf „Grenzziehung“ in den verschiedenen Disziplinen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften in Gang gekommen ist. Aber so viel ist gewiss: Ein Bordering Turn muss theoretisch von einem Translational Turn begleitet werden. Grenzziehung und Übersetzung sind Problematiken, die aus derselben theoretischen Perspektive projiziert werden. Ebenso wie es in der Grenzziehung nicht einzig und allein um die Abgrenzung des Landes geht, handelt Übersetzung nicht bloß von der Sprache.

Dieser Artikel stellt eine vorläufige Untersuchung der Diskussion über Übersetzung dar, die sich jenseits des konventionellen Bereichs der Linguistik verortet. Doch als erstes muss die Frage angesprochen werden, wie Sprache aus dem Gesichtspunkt der Übersetzung zu begreifen ist; bzw. wie das konventionelle Verständnis von Übersetzung umzukehren ist, das von der Trope der Übersetzung als Überbrückung oder Mitteilung zwischen zwei getrennten Sprachen abhängt. Lassen Sie mich indes in Erinnerung rufen, dass ich eine Diskursanalyse jenseits des Bereichs der Linguistik vornehme. Dies beinhaltet folglich die Fragen der Figuration, des Schematismus, der Abbildung, der kartographischen Repräsentation sowie der Schaffung von strategischen Positionen. Im konventionellen Verständnis von Übersetzung – das ich andernorts als „den Schematismus der Kofiguration“[8] bezeichnet habe – wird die Trennung der beiden Sprachen bzw. die Grenze zwischen diesen immer schon vorausgesetzt. Diese Sicht auf Übersetzung setzt immer die Einheit der einen und der anderen Sprache voraus, da ihre Trennung als gewiss oder schon gegeben gilt. Sie wird niemals als etwas verstanden, das gezeichnet oder eingeschrieben werden muss. In anderen Worten, die konventionelle Sicht auf Übersetzung weiß nichts von „Grenzziehung“.

In dieser von der Trope der Übersetzung regulierten Verständnisordnung stoße ich auf eine der Abgrenzungen, die durch die Annahmen von Nationalität und internationaler Welt auferlegt werden. Es ist nötig zu postulieren, dass Nationalität dem Prozess der transnationalen Transaktion vorhergeht, gerade weil sie andernfalls nicht konzeptualisiert werden kann. Ebenso muss angenommen werden, dass die nationale Sprache vor dem Übersetzungsprozess existiert, weil im Vorhinein eine Repräsentation von Übersetzung festgesetzt ist, in der sie die Kluft zwischen zwei voneinander getrennten Sprachen überbrückt. Aus diesem Grund kann die internationale Welt nur als die Gegenüberstellung unterschiedlicher und einander äußerlicher Nationalitäten vorherbestimmt werden. Die Ökonomie der internationalen Welt schließt von Anfang an die Potenzialität dessen aus, was ich „heterolinguale Adressierung“ genannt habe.[9]

Übersetzung beinhaltet nahezu immer eine unterschiedliche Sprache oder zumindest eine Differenz in der Sprache oder eine Differenz der Sprache. Aber um welche Differenz oder Differenzierung geht es hier? Auf welche Weise verlangt sie danach, dass wir unser Verständnis von Übersetzung erweitern? Wir müssen uns von Anfang an vor der statischen Sicht auf Übersetzung hüten, in der es zu einer Substanzialisierung von Differenz kommt. Wir sollten uns nicht der Verdinglichung von Übersetzung beugen, die deren Potenzialität zu Deterritorialisierung und Reterritorialisierung bestreitet. Es ist daher wichtig, die Differenz in der Sprache und die Differenz der Sprache einzuführen, damit wir Übersetzung verstehen können, und zwar nicht im Sinne des Mitteilungsmodells von Äquivalenz und Austausch, sondern vielmehr als eine Form politischer Arbeit, die darin besteht, am schwer zu fassenden Punkt der Diskontinuität im Sozialen eine Kontinuität zu schaffen. Welche Sicht des Vergleichs können wir uns also aneignen?

Die Annahme ist möglich, dass der Typus von Übersetzung entsprechend dem Typus der Differenz in der Sprache oder der Sprache unterschieden werden kann, auf die Übersetzung eine Antwort darstellt. Wenn man Roman Jakobsons berühmter Typologie der Übersetzung folgt, kann man einen Typus der Übersetzung – zwischensprachliche Übersetzung – als ein Projekt der Überwindung von Unvergleichbarkeit bezeichnen. Oder man kann die Nacherzählung  oder die Übersetzung von einem Stil in einen anderen, einer Gattung in eine andere in derselben Sprache als eine Instanz der Übersetzung verstehen (innersprachliche Übersetzung). Ferner kann man die Abbildung eines semiotischen Systems in einem anderem als einen besonders markanten Typus von Übersetzung zitieren (intersemiotische Übersetzung). In dieser Typologie muss jedoch die Einheit einer Sprache als unproblematisch vorausgesetzt werden. Ohne diese Voraussetzung wäre es kaum möglich, in der zwischen-sprachlichen Übersetzung, die zwischen einander äußerlichen Sprachen stattfindet, über eine andere Sprache zu sprechen, die sich von der Originalsprache unterscheidet. Es wäre auch nicht möglich, das Innen einer Sprache zu benennen oder sich in der inner-sprachlichen Übersetzung auf eine Sprache als ein- und dieselbe Sprache zu beziehen. Folglich sind wir gezwungen, zu folgender Frage zurückzukehren: „Um welche Differenz handelt es sich?“.

An diesem Punkt bewegt sich meine Untersuchung von der Frage nach der Differenz in der Sprache oder der Differenz der Sprache zu folgender Frage: Was unterscheidet sich von der Sprache? Das heißt, wir müssen auf die Frage eingehen, was Sprache ist, wie sich das Linguistische vom Außerlinguistischen unterscheidet und wie der Bereich des Linguistischen begründet wird. Im Rahmen der Differenz in der Sprache und der Sprache sind wir indes immer noch in einem Fragemodus gefangen, in dem die Einheit einer Sprache vorausgesetzt wird. Verstehen wir unter Differenz immer noch, dass sich ein Begriff als eine Art von einem anderen Begriff vor dem Hintergrund derselben Allgemeinheit oder Gattung unterscheidet, so wie sich unter Pferden im Allgemeinen ein weißes Pferd von einem schwarzen Pferd unterscheidet? Müssen wir Differenz notwendigerweise als Artunterschied verstehen? Kann die Art von Differenz, die in der Übersetzung auf dem Spiel steht, in den Begriffen Art und Gattung der klassischen Logik adäquat diskutiert werden? Kurz, wird in der konventionellen Sicht auf Übersetzung diese nicht bereits in der Diskussion darüber vorausgesetzt?

Die Welt beherbergt nur eine Menschheit, aber eine Vielzahl von Sprachen. Allgemein wird behauptet, dass wir gerade aufgrund dieser Vielzahl niemals in der Lage sind, Übersetzung zu vermeiden. Unsere Konzeption von Übersetzung beruht nahezu immer auf einer spezifischen Art, die Vielzahl von Sprachen zu erfassen. Es ist nicht überraschend, dass wir oft dazu gezwungen sind, auf die Erzählung von Babel zurückzugreifen, wenn wir versuchen, die Frage der Einheit der Menschheit, aber der Notwendigkeit der Übersetzung zu durchdenken. Können wir indes aus der transhistorischen Perspektive von dieser Einheit in der Vielzahl ausgehen? Können wir uns Diskurse vorstellen, in denen die Idee der Sprache nicht in der Formel der vielen in einer gefangen ist? Sind wir in der Lage, Sprache auf alternative Weise zu begreifen?

Wie erkennen wir die Identität einer jeden Sprache, oder wie rechtfertigen wir die Mutmaßung, dass Sprachen als eine und mehrere Sprachen kategorisierbar sind? Ist Sprache zählbar, wie ein Apfel oder eine Orange, und anders als Wasser? Ist es nicht möglich, über Sprache zum Beispiel im Sinne jener Grammatiken nachzudenken, in denen die Unterscheidung zwischen dem Singular und dem Plural irrelevant ist?

Ich habe bereits wiederholt die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass hier die Einheit der Sprache auf dem Spiel steht, eine gewisse Positivität des Diskurses oder ein historisches Apriori, im Sinne dessen wir eine andere Sprache oder die Differenz in der Sprache verstehen. Um es etwas anders zu formulieren, es geht darum, zu verstehen, wie wir uns selbst ermöglichen, eine Sprache von einer anderen zu unterscheiden und die Sprache als eine Einheit zu repräsentieren.

Meine Antwort auf diese Frage, die ich vor etwa zwanzig Jahren gestellt habe, lautet, dass es sich mit der Einheit der Sprache wie mit Kants regulativer Idee verhält.[10] Sie organisiert die Erkenntnis, ist aber empirisch nicht verifizierbar. Die regulative Idee beschäftigt sich nicht mit der Möglichkeit von Erfahrung; sie ist nicht mehr als eine Regel, die eine Suche in der Reihe empirischer Daten vorschreibt. Sie ist keine Garantie für eine empirisch verifizierbare Wahrheit, sondern im Gegenteil eine Suche nach Wahrheit „de[r] es niemals erlaubt ist, bei einem schlechthin Unbedingten stehen zu bleiben.“[11]

Die regulative Idee liefert daher nur einen Gegenstand in der Idee. Sie bedeutet „wirklich nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird.“[12] Die Einheit der Sprache kann in der Erfahrung nicht gegeben sein, weil sie nur eine regulative Idee ist, die es uns ermöglicht, zusammengehörige Sachverhalte in Bezug auf Sprache zu begreifen und „vermittelst der Beziehung auf diese Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vorzustellen.“[13] Es ist nicht möglich, zu wissen, ob eine besondere Sprache als Einheit existiert oder nicht. Aber indem wir uns der Idee der Einheit einer Sprache anschließen, können wir das Wissen über Sprachen in einer modernen, systematischen und wissenschaftlichen Weise organisieren.

Insofern die Einheit der nationalen Sprache letztlich als ein Schema für Nationalität dient und ein Gefühl nationaler Integration schafft, erschließt die Idee der Einheit der Sprache nicht nur einen Diskurs des naturalisierten Ursprungs einer ethnischen Gemeinschaft, sondern auch das gesamte Imaginäre, das mit der nationalen Sprache und Kultur in Zusammenhang gebracht wird. Eine Sprache mag rein, authentisch, hybridisiert, verunreinigt oder korrupt sein. Aber unabhängig von einer spezifischen Beurteilung, wird nur durch die Einheit einer Sprache als einer regulativen Idee die Möglichkeit geboten, sie zu loben, für authentisch zu erklären, sich über sie zu beklagen oder sie zu missbilligen. Wir alle wissen indes, dass die Institution des Nationalstaats eine relativ neue Erfindung ist. Dies erregt den Verdacht, dass auch die Idee der Einheit der Sprache als Schema für ethnische und nationale Kommunalität eine neue Erfindung sein muss.

Wie sollen wir die Formel von vielen in einer, von der Vielzahl von Sprachen in einer Menschheit verstehen, wenn die Einheit der Sprache als eine regulative Idee oder als Schema für einen Gegenstand in der Idee verstanden werden muss? Für Kant expliziert sich eine regulative Idee in Zusammenhang mit der Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie stellt sicher, dass die empirische Untersuchung einer Wissenschaftsdisziplin niemals eine absolute Wahrheit erreichen wird und daher an kein Ende kommt. Jede wissenschaftliche Wahrheit verändert sich, wenn mehr empirische Daten gesammelt werden. Von Kant wird die regulative Idee näher als ein Schema bestimmt, das heißt, als ein Bild, ein Entwurf,  ein Grundriss oder eine Figur, die nicht ausschließlich der Ordnung der Idee, sondern auch der Ordnung des Sinnlichen angehört. 

Praktische Anwendung des Schemas

Wenn die Einheit der Sprache als eine regulative Idee verstanden wird, folgt daraus, dass diese Einheit der nationalen Sprache es uns ermöglicht, unterschiedliche empirische Daten in systematischer Weise zu organisieren, sodass wir weiterhin nach Erkenntnis von der Sprache streben können. Gleichzeitig liefert uns dies keinen Gegenstand in der Erfahrung, sondern vielmehr ein Ziel in der Praxis, das wir zur Regulierung unserer Verwendungsweisen der Sprache anstreben. Es handelt sich nicht nur um ein epistemisches, sondern auch um ein strategisches und praktisches Prinzip. Folglich kommt darin ein doppeltes Register zum Einsatz: Einerseits bestimmt dieses Prinzip auf epistemologische Weise, was in der Datenbank einer Sprache ein- und ausgeschlossen wird; es legt fest, was sprachlich und was außersprachlich ist, was zu einer bestimmten Sprache gehört und was nicht. Andererseits zeigt und projiziert dieses Prinzip, was wir als unsere eigene Sprache anstreben müssen, was wir als heterogen zu unserer Sprache vermeiden und als unzulässig verwerfen müssen. Die Einheit einer nationalen Sprache als ein Schema gibt uns eine Anleitung, was zu unserer Sprache passt und was nicht, was mit der Korrektheit der Sprache übereinstimmt und was nicht.

Selbstverständlich ist Übersetzung ein Begriff mit viel breiteren Konnotationen als der Überführung einer Bedeutung aus einer nationalen oder ethnischen Sprache in eine andere. Doch mir geht es hier insbesondere darum, Übersetzung gemäß dem Übersetzungsregime abzugrenzen, das die Idee der nationalen Sprache in eine Praxis umsetzt. Ich behaupte, dass die Repräsentation von Übersetzung im Sinne dieses Übersetzungsregimes als ein Schema der Kofiguration dient: Nur wenn Übersetzung durch den Schematismus einer Kofiguration repräsentiert wird, folgt daraus die vermeintliche Einheit einer nationalen Sprache als regulative Idee. Dieses Schema erlaubt es uns, zu imaginieren oder zu repräsentieren, was in der Übersetzung geschieht. Wir können uns selbst ein Bild oder eine Repräsentation von Übersetzung schaffen. Einmal imaginiert, ist Übersetzung nicht länger eine Bewegung in Potenzialität. Ihr Bild oder ihre Repräsentation beinhaltet immer zwei Figuren, die notwendigerweise von einer räumlichen Trennung im Sinne einer Grenze begleitet werden. Insofern es nicht um den Akt der Repräsentation, sondern vielmehr um die Repräsentation oder das Bild von Übersetzung geht, sind wir immer schon in den Tropen und Bildern von Übersetzung gefangen. Solange wir Übersetzung für uns selbst repräsentieren, ist es unmöglich, den Tropen der Übersetzung zu entkommen. Wenn es um Übersetzung geht, handelt es sich in erster Linie um Tropen der Grenze, da die Einheit einer nationalen oder ethnischen Sprache als Schema bereits einhergeht mit einer weiteren Einheit einer anderen Sprache. Die Einheit einer Sprache ist nur als Element von vielen in einer möglich und damit es viele gibt, muss eine Einheit von einer anderen unterscheidbar sein. In der Repräsentation der Übersetzung muss daher eine Sprache deutlich und sichtbar von einer anderen Sprache unterschieden werden. Die Einheit einer Sprache erfordert das Postulat einer Grenze in den Tropen der Übersetzung.

Übersetzung vollzieht sich in verschiedenen Prozessen und Formen, die bis zur politischen Arbeit der Überwindung von Unvergleichbarkeiten reichen, die die Universalität der Soziabilität bezeugt. Das muss nicht auf das spezifische Regime der Übersetzung beschränkt bleiben, sondern kann auch außerhalb des modernen Übersetzungsregimes lokalisiert werden.

Die Moderne ist durch die Einführung des Schemas der Kofiguration gekennzeichnet, ohne die eine Nation oder Ethnizität als eine homogene Sphäre kaum vorstellbar ist. Wie uns Antoine Berman in Bezug auf die intellektuelle Geschichte der Übersetzung und der Romantik in Deutschland lehrte: Die Ökonomie des Fremden, also die Frage, welcher Platz dem Fremden in der Produktion einer inländischen Sprache zugewiesen werden muss, spielte eine entscheidende Rolle in der poietischen – und poetischen – Identifizierung der nationalen Sprache. Die Schaffung einer modernen nationalen Sprache beinhaltet ausnahmslos Institutionalisierungen von Übersetzung gemäß dem Regime der Übersetzung

Wie in den Bewegungen des 18. Jahrhunderts sehr deutlich wurde, etwa in der Romantik in Westeuropa und in den Kokugaku (Nationale Studien) in Japan, waren intellektuelle und literarische Manöver zur Erfindung einer nationalen Sprache mythisch und poetisch eng mit der spirituellen Konstruktion einer neuen Identität verbunden, die später zur Naturalisierung nationaler Souveränität führte. Michael Hardt und Antonio Negri argumentieren, dass diese Vorstellungen „aus dem Souveränitätsverhältnis eine Sache [machen] (oftmals, indem sie diese naturalisieren) und damit jeden noch verbleibenden gesellschaftlichen Gegensatz aus[sondern]. Die Nation ist eine Art ideologischer Abkürzung, mit deren Hilfe versucht wird, die Begriffe der Souveränität und der Moderne von den sie bestimmenden Charakteristika des Gegensatzes und der Krise zu befreien.“[14] Als Grundlage der Legitimierung von nationaler Souveränität und Volkssouveränität diente eine „natürliche“ Sprache des  Volkes; gewöhnliche Leute sprachen sie angeblich in ihrem Alltagsleben. Literaturhistoriker_innen bezeichnen diese historische Entwicklung als die Entstehung der Vernakularsprache. Die Betonung der gewöhnlichen Sprache, der Umgangssprache, ging Hand in Hand mit der Neukonzeptionierung der Übersetzung und dem Schematismus der Kofiguration.

Ich bin hier zur Frage der Beziehung zwischen Übersetzung und Diskontinuität zurückgekehrt und habe skizziert, wie die Vorstellung von Übersetzung im allgemeinen Verständnis durch den Schematismus der internationalen Welt strukturiert wird. (Dieser Schematismus bezieht sich in unserer Repräsentation der Welt auf die logische Ökonomie von Art und Gattung auf der Ebene der Nationalität und der Internationalität). Umgekehrt wird die moderne Figur der Welt als international (also einer Welt, die aus den grundlegenden Einheiten von Nationen besteht) dadurch bestimmt, dass wir Übersetzung als kommunikative und internationale Übertragung einer Mitteilung zwischen zwei ethnolinguistischen Einheiten repräsentieren.

Wir können nur dort eine Sprache als eine Einheit festlegen, wo die Grenze einer Sprache markiert wird, an der Grenze, an der wir auf Unsinn stoßen, der uns zwingt, etwas zu tun, damit wir Sinn erkennen können. Hier spreche ich wiederum nicht von phonetischen Systemen, morphologischen Einheiten oder syntaktischen Regeln einer Sprache, sondern vielmehr über das Ganze einer Sprache als langue. Diese Gelegenheit, Unsinn in Sinn zu verwandeln und etwas im Sozialen zu tun – sich Fremden gegenüber zu verhalten, um ihre Antwort zu bitten, ihre Bestätigung zu suchen usw. – wird im Allgemeinen Übersetzung genannt, vorausgesetzt dass wir die konventionelle Unterscheidung zwischen Übersetzung und Dolmetschen außer Kraft setzen. Die Einheit einer Sprache wird immer im Verhältnis zu einer anderen Einheit repräsentiert. Sie ist niemals allein, sondern immer im Verhältnis zu einer anderen Einheit gegeben.

Einer Dualität des Dialogs ist kaum auszukommen, wenn die Einheit einer Sprache bestimmt wird. Sprache als eine Einheit beschwört fast immer die Kopräsenz einer anderen Sprache herauf. Doch, und ich kann diesen Punkt nicht genug betonen: Der Schauplatz des Vergleichs lässt sich niemals kartographisch mit einer nationaler Grenze auf der geographischen Oberfläche der Erde identifizieren. Die Repräsentation von Übersetzung als Trope der Grenze ist nichts anderes als eine Wirkung der Tropen der Übersetzung, gerade weil Übersetzung nicht nur eine Grenzüberschreitung, sondern auch und in erster Linie ein Akt des Zeichnens der Grenze, der Grenzziehung ist. Der Akt der Übersetzung geschieht an dem Ort, der dem Ort vorausgeht, an dem die Grenze gezogen wird. Folglich bezeichnet der Ort der Übersetzung einen Ort, der jenem Ort innerhalb der internationalen Welt vorausgeht, der kartographisch zugewiesen wird. Der Ort der Übersetzung ist disloziert, er befindet sich außerhalb des Systems der Orte in der internationalen Welt.

Eine Folge der bisherigen Diskussion, die wir nicht vermeiden können, besteht in der Unmöglichkeit, den Platz der Übersetzung innerhalb der Schemata von Nationalität und Internationalität zu verorten. Der Ort der Übersetzung eröffnet den Platz des Vergleichs, aber er lässt sich nicht innerhalb der Anordnung lokalisieren, die bereits durch die Schemata von Art und Gattung vorgezeichnet ist. Er befindet sich nicht innerhalb der internationalen Welt. Im Gegenteil, er macht die Lokalisierung von Nationalität und Internationalität erst möglich – indem er einen Gegenstand innerhalb bereits existierender Koordinatenraster identifiziert. Er eröffnet den Ort des Vergleichs, während er auf einen Platz ohne Verortung verweist.

Mit dem Begriff der Transnationalität will ich nicht die Systematik der Verortung bezeichnen, die durch die logische Ökonomie von Art und Gattung festgelegt ist, sondern stattdessen den Ort der Übersetzung, der den Platz des Vergleichs eröffnet. Während Internationalität innerhalb der logischen Ökonomie von Art und Gattung operiert, unterminiert Transnationalität das Schema von Nationalität und Internationalität und ordnet dieses neu an. In diesem Sinne deterritorialisiert sich Übersetzung. Dieses deterritorialisierende Potenzial der Übersetzung wurde durch den Schematismus der Kofiguration reterritorialisiert. Transnationalität zeigt uns folglich den Ort des Fremden an, der nicht auf die logische Ökonomie von Art und Gattung reduzierbar ist. Gerade weil Übersetzung der Bestimmung des Artunterschieds vorausgeht, ist der konzeptuelle Topos des Fremden, der nach Übersetzung verlangt, nicht in der Internationalität, sondern vielmehr in der Transnationalität vorzufinden.

In diesem Text habe ich versucht, das Projekt der vergleichenden Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften vor dem herrschenden Modus der vergleichenden Nationalität zu retten. Doch mein Text ist alles andere als erschöpfend: ich kann nur andeuten, wie wir möglicherweise das Projekt der vergleichenden Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften in einer anderen Richtung mit einer anderen Dynamik begreifen können.


[1] Die Betrachtung einer ethnischen/nationalen Sprache als individuell ist, gelinde gesagt, fragwürdig. Es ist alles andere als klar, was in unseren Beispielen als „die chinesische Sprache“ bezeichnet wird. Steht diese Bezeichnung für eine ganze Reihe von Sprachen, die in der Volksrepublik China verwendet werden? Steht sie für Sprachfamilien, die durch einige gemeinsame phonetische, syntaktische oder semantische Merkmale miteinander verbunden sind? Oder beinhaltet sie das grammatikalische Regelwerk, das der Staat der Volksrepublik China seiner Bevölkerung als Standardsprache auferlegt? Es ist zweifelhaft, dass die Individualität dieses Individuums die Priorität für das Empirische konstituiert, mit der das Individuum traditionell versehen wurde.

[2] Für den Begriff „heterolingual“ vgl. mein Buch Translation and Subjectivity: On „Japan“ and Cultural Nationalism, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1997, S. 1–17; vgl. weiters den hier veröffentlichten Text „Übersetzung als Filter“, übers. v. Birgit Mennel, der auf Englisch und Französisch erstmals auf der Website von Transeuropéennes publiziert wurde.

[3] Ich habe den Begriff der „Grenzziehung“ von Sandro Mezzadras und Brett Neilsons „Die Grenze als Methode, oder die Vervielfältigung der Arbeit“, (übers. v. Therese Kaufmann/Tom Waibel) übernommen. Dieser Text wurde auf der internationalen Konferenz „Italienisch als Zweitsprache – Bürger_innenschaft, Sprache und Übersetzung“ in Rimini am 4. Februar 2008 präsentiert. Er findet sich nunmehr im Internet (http://eipcp.net/transversal/0608/mezzadraneilson/de) sowie im Sammelband Borders, Nations, Translations. Übersetzung in einer globalisierten Welt, hg. v. translate/eipcp, Wien: Turia + Kant 2008. 

[4] Das Problem der Diskontinuität muss genau darum betont werden, weil Politik aus einer Reihe von Handlungen zur Herstellung von Kontinuität besteht. Es ist wichtig zu betonen, dass teilen nicht bedeutet, Diskontinuität einzuführen. Im Gegenteil, es ist nur möglich zu teilen, wenn der Raum, in den eine Teilung eingeführt wird, bereits ein kontinuierlicher ist. Die Gegenwart der Grenze ist eher ein Zeichen für Kontinuität als für Diskontinuität.

[5] Vgl. FN 3.

[6] John Stuart Mill, Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, Theodor Gumperz (Hg.), übers. v. Eduard Wessel, Leipzig: Fues’s Verlag 1873, S. 220f.

[7] Yukichi Fukuzawa, Bunmei ron no gairyaku, Tokio: Iwanami Shoten 1937.

[8] Vgl. N. Sakai, Translation and Subjectivity, op. cit., S. 1–17 sowie S. 41–71; vgl. diesbez. auch Ders., „Übersetzung als Filter“ in dieser Ausgabe von transversal.

[9] Ibid., S. 1–17.

[10] Vgl. Naoki Sakai, Voices of the Past – the Status of Language in Eighteenth Century Japanese Discourse, Ithaka/London: Cornell University Press 1992, S. 326.

[11] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 472 [B 537 | A 509].

[12] Ibid., S. 583 [B 698, 699 | A 670, 671]; Hervorh. durch den Autor.

[13] Ibid., S. 583 [B 698, 699 | A 670, 671].

[14] Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, übers. v. Thomas Atzert/Andreas Wirthensohn, Frankfurt/New York: Campus 2002, S. 109.