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11 2007

Praktische Theorien?

Ruth Sonderegger

„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus […] ist, daß der Gegenstand,
die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der
Anschauung
gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis.“
(Karl Marx, 1. These über Feuerbach)

 

In Bezug auf Bourdieus Praxistheorie schien mir immer die Frage am spannendsten, aber zugleich am schwierigsten, ob Bourdieu nicht nur ein Theoretiker der Praxis, sondern auch ein Praktiker der Theorie ist. Oder – in der Terminologie von Marx’ Feuerbach-Thesen gefragt, deren erste Bourdieu seiner Esquisse d’une théorie de la pratique[1] als Motto voranstellt –, ob Bourdieus Theorie nur analysiert und interpretiert oder auch verändert. Diese Frage steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Am Ende möchte ich auch ein paar Vermutungen darüber anstellen, warum der Theorie-Praxis-Komplex Bourdieu letztlich an ästhetische Strategien verweist, die gerade dort nicht vorkommen, wo er künstlerische Felder – etwa das der Literatur, das der Fotografie oder das der Museen – zu Objekten soziologischer Forschung macht.

 
Theorie der Praxis

Was ist so besonders an Praxistheorien? Sind sie, zumal für einen/eine SozialwissenschaftlerIn, nicht das Naheliegendste? Gerade in den Sozial- und Geisteswissenschaften ist es keineswegs selbstverständlich, menschliches Handeln von alltäglichen Praktiken und dem dazugehörigen sens pratique her zu analysieren, welcher – leicht missverständlich – als „sozialer Sinn“ Eingang in die deutschsprachige Diskussion gefunden hat.[2] Mit jenem sens pratique, so die These der Praxistheorie, können wir auch dort präzise navigieren und mitspielen, wo es unmöglich ist, die Regeln einer Praxis zu explizieren oder gar zu verteidigen. Folgt man dieser These, dann werden die so fundamentalen wie scheinbar unscheinbaren Kategorien des Handelns und des/der AkteurIn erschüttert. Diese Kategorien unterstellen nämlich eine Intentionalität, die zum selbstverständlichen Maßstab des Bewussten und Gewussten geworden ist. Alles übrige Agieren muss im Licht dieses Maßstabs als vor- oder unbewusst eingestuft werden.

Dagegen protestiert Bourdieu schon auf der begrifflichen Ebene, indem er statt „AkteurIn“ oder „Subjekt“ konsequent das Wort „agent“ verwendet, womit auf Handelnde verwiesen ist, die immer auch Abgesandte, Handelnde im Namen anderer sind. Man muss sich nur noch einmal in Erinnerung rufen, wie lange Handlungen von der Soziologie und der Philosophie als zweckrationale oder als von expliziten Normen geleitete analysiert wurden,[3] um zu verstehen, was für ein radikaler Schritt das war. Indem Bourdieu die Grundlage des intentionalen Handelns in ansozialisierten Gewohnheiten des Denkens, Wollens, Sich-Bewegens und Empfindens lokalisiert, dreht er nämlich die Verhältnisse um: Intentionales Handeln beruht auf geregeltem Verhalten, zu dem wir keinen wissenden Zugang haben, obwohl wir die damit etablierten und tradierten Normen auf eine geradezu körperliche Weise kennen – oder genauer: Wir leben und sind diese Normen. Dabei bedeutet das Infragestellen individueller Wahlmöglichkeiten Bourdieu zufolge nicht, dass alles dem Zufall anheimgestellt wird oder das Zeitalter einer Zwecklosigkeit ausgebrochen wäre, welche im Kunstkontext besonders gerne angerufen wird. Die Zentralbegriffe seiner Praxisphilosophie, „Feld“ und „Habitus“,[4] stellen ein ingeniöses begriffliches Instrumentarium bereit, um menschliches Handeln auch dort als keineswegs zufällig, aber auch nicht absolut determiniert analysieren zu können, wo Handelnde sich die Regeln weder aussuchen noch sie begründen können.

Die im sens pratique aufgespeicherten und durchaus körperlichen Regeln sind schwer zu kritisieren. Denn ohne große Distanzierungsleistung kann man sie nicht benennen. Und wenn man sie zu explizieren und zu packen kriegt, präsentieren sie sich im Schein des Natürlichen und Legitimen. So wie es ist, scheint es gut zu sein. Diese Einsicht gibt es in der philosophischen Praxistheorie in einer vertrauensseligen und in einer kulturpessimistischen Geschmacksrichtung. Es ist kein Wunder, dass die eine Hälfte der PraxisphilosophInnen – Wittgenstein ist ihr bekanntester Vertreter – quietistisch wurde und vor lauter Verteidigen des fundamentalen Stellenwerts eingewöhnter Handlungsweisen gegenüber rationalistischen Handlungsverständnissen auch gleich zum Schluss kam, dass das Eingewöhnte das Richtige sei. Heidegger dagegen, der die zweite Fraktion repräsentiert, behauptet, dass der Mensch ein per definitionem gefallenes, andere imitierendes Massen-Wesen ist, das der Sphäre des Man nie entkommen kann; eine Art praxistheoretisch gewendete Erbsündenlehre also.

 
Praxis der Theorie I

Bourdieu interessiert sich für die schon von Wittgenstein und Heidegger ins Zentrum gestellte Trivialität, dass der Mensch ein abgerichtetes Gewohnheitstier ist, nur nebensächlich und ohne abfällig auf die damit umschriebenen Tiere herabzuschauen. Für Bourdieu ist diese Trivialität in ihrer Allgemeinheit nur der Augsangspunkt für das Erforschen sehr spezifischer ein-normalisierter Regeln. Anstatt zu sagen, was zum menschlichen Handeln as such gehört, rekonstruiert Bourdieu gruppen- und klassenspezifisch normierte Gewohnheiten und macht damit auf dreierlei aufmerksam: Viel wichtiger als die allzu menschliche Tatsache, dass Gewohnheiten uns strukturieren, ist es, herauszubekommen, welche verschiedenen Umgangsnormen es auf ein und demselben Praxisfeld gibt, was die Faktoren sind, die die Grenzen zwischen diesen verschiedenen Umgängen festlegen, und welche warum die größte Prägekraft besitzen. So lautet etwa das Ergebnis der Museumsstudie von Bourdieu und Darbel,[5] dass das Elternhaus bezüglich der Frage, wer im Erwachsenenalter ins Museum geht, viel entscheidender ist als die Schule; schulische Einflüsse aber nachhaltiger sind als edukatorische Programme seitens der Museen; dass die Zugänglichkeit der Museen in Polen anders funktioniert als in den Niederlanden oder in Frankreich. Bourdieu interessiert sich also von Anfang an für die Faktoren, die zu verschiedenen Normalitäten auf ein und demselben sozialen Feld führen, und für die Frage, in welchen Machtverhältnissen diese unterschiedlichen Normalitäten zueinander stehen. Dabei kommt auch die Tatsache, dass Bourdieu bestimmte Praxisfelder und nicht andere untersucht, einem Urteil gleich: Dass nämlich an diesen Stellen das Explizieren der Spielregeln besonders notwendig ist, weil der Schein des Natürlichen sich hier hartnäckig und mit struktureller Gewalt einquartiert hat.

Das ist auch eine erste Antwort auf die Frage, inwiefern Bourdieus Praxistheorie in die von ihm analysierten Praktiken eingreift und damit auch eine Praxis von Theorie ist. Es ist ein Ding, auf bestimmte Praktiken als Illustration theoretischer Einsichten zu verweisen und dann möglichst spektakuläre oder auch vollkommen abseitige Beispiele aufzufahren,[6] um einen allzu allgemeinen Punkt der Praxisphilosophie unterhaltsamer zu machen. Es ist etwas völlig anderes, wenn man wie Bourdieu herausbekommen will, für wen es eine Regel ist, im Museum an einer Führung teilzunehmen, und wer derartige Veranstaltungen als Service für die ProletarierInnen und BanausInnen der Kunst abtut. Dabei ist es nicht nur so, dass es Bourdieu nicht um die grundsätzliche Differenz zwischen explizitem Wissen und impliziten Regeln, zwischen know how und know that, geht. Er hat sich – selbstreflexiv wie keine anderen PraxistheoretikerInnen – auch Gedanken über den klassenspezifischen Umgang mit dieser Differenz gemacht. So sind seine Pascal’schen Meditationen[7] der Entstehungsgeschichte der scholastischen Vernunft gewidmet. Diese hat sich immer perfekter auf das Explizieren von know how, also auf das Umwandeln von know how in know that, spezialisiert und zudem dafür gesorgt, dass diese besondere und zunehmend weltverachtende Fähigkeit, welche Muße und ökonomische Unabhängigkeit voraussetzt, mit viel kulturellem und symbolischem Kapital ausgestattet wird.

 
Praxis der Theorie II

Auch dann, wenn man sie orts- oder besser wohl bereichsspezifisch und machttheoretisch in der Weise Bourdieus praktiziert, statt es beim Allgemeinmenschlichen zu belassen, ist die Praxistheorie nicht ohne Probleme. Die Theorie von den ungewusst beherrschten Regeln birgt nicht nur die Gefahr des Quietismus in sich, sondern auch die einer elitären, strukturalistischen Ideologiekritik. Solche Ideologiekritik schleicht sich dann ein, wenn die auf soziologische oder anthropologische Weise scholastisch gewordene Vernunft prätendiert, alles über die Regeln derjenigen sagen können, die blind nach ihnen handeln; und wenn diese Vernunft überdies kein Interesse daran hat, in die Blindheit auch einzugreifen, sondern stoisch auf sie herabblickt. Dieses Problem ist auch Bourdieu nicht fremd, der sich mit Grund von seinem anfänglichen Strukturalismus zugunsten einer Praxeologie verabschiedet hat, der es um die Vermittlung der TeilnehmerInnen- mit der BeobachterInnenperspektive zu tun ist.

Zu diesem Resultat kommt Bourdieu nicht aus Gutmenschlichkeit, sondern weil er selbstkritisch genug war, um zu sehen, welche Dimensionen von Praktiken er mit einem zu eng strukturalistischen Programm nicht erklären konnte.[8] Der/die strukturalistische BeobachterIn-SoziologIn, der/die die TeilnehmerInnenperspektive ganz durchstreichen will, hat nicht nur zu wenig Sensorium für den situationsbezogen strategischen Einsatz vorgegebener Regeln; er/sie vergisst auch, dass sein/ihr wissenschaftlicher Standpunkt des Bruchs mit der TeilnehmerInnenperspektive auch nur ein Standpunkt ist. Bourdieu reagiert darauf mit der Forderung, den Bruch zu brechen.[9] Damit wendet er sich gegen die elitäre Position jenes/jener SozialwissenschaftlerIn, der/die Regeln rekonstruieren will, von denen die AkteurInnen keine bewusste Ahnung haben. An die Stelle des/der sozialwissenschaftlichen MagierIn, der/die geheime Handlungsgesetze enträtseln kann, tritt der/die selbstreflexive SoziologIn. Er/sie legt sich Rechenschaft ab über das eigene Eingebettetsein in alltägliche, aber auch theoretische Praktiken des Analysierens. Und er/sie ist bestrebt, den ersten Schritt des Bruchs mit der sozialen Welt hinterher mit den Beschränkungen seiner/ihrer unhintergehbaren Teilnehmerschaft zu vermitteln.

Die Frage ist allerdings, ob Bourdieu jemals eine befriedigende Lösung für die Vermittlung der beiden doch so verschiedenen Perspektiven, der des/der TeilnehmerIn und der des/der BeobachterIn, von Distanz und Engagement, gefunden hat. Erst einmal scheint es nämlich, als ob entweder der/die SoziologIn zum/zur distanzlosen TeilnehmerIn werden muss oder die Reflexion auf die BeobachterInnenperspektive diese nur verdoppelt. Beides würde die jeweils andere Perspektive auslöschen.[10] Und dies würde bedeuten, dass mit der selbstreflexiven Objektivierung der soziologischen Distanzierung so etwas wie Engagement ebenso wenig erreicht ist wie mit dem – wie auch immer aufklärerisch gemeinten – Explizitieren verborgener Muster des Agierens. Mit solchem über sich aufgeklärtem Aufklären sind die offengelegten Strukturen noch nicht verändert, und es ist vor allem kein Versuch unternommen, den Analysierten Instrumentarien an die Hände zu geben, diese Einsicht für sich nutzbar zu machen. Es ist ein Ding, mit dem von Bourdieu zitierten Proust zu sagen, „Arme und Beine seien voller verborgener Imperative“[11]. Es ist eine ganz andere Frage, welche Regeln man den Armen und Beinen austreiben und wo man sie zum Tanzen bringen will.

 
Praxis der Theorie III

Diese Differenz zwischen Engagement und Aufklärung kann man sich am explizitmachenden bzw. kritischen Umgang mit der Amateurfotografie des kleinbürgerlichen und proletarischen Familienalbums seitens Bourdieus einerseits[12] und der Fotografin Jo Spence[13] andererseits klarmachen.[14] Bourdieu analysiert die Albenfotografie, um soziale Regeln der Unterschicht zu rekonstruieren, welche in einem soziologischen Interview kaum zur Sprache kämen. Seine Vorgehensweise macht die Analysierten zu Handelnden und ExpertInnen und stellt zugleich eine Verteidigung der Amateurfotografie als art moyen dar. Spence geht demgegenüber einen Schritt weiter. Sie zeigt in der Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Familienalbum nicht nur – so weit noch in Übereinstimmung mit Bourdieu als einem Anthropologen des Visuellen –, dass visuelle Konstruktionen aufschlussreicher sein können als sprachlich artikulierte, wo es um implizite soziale Regeln geht. Sie unternimmt zudem und in konsequenter Fortsetzung ihrer Recherchen zur Arbeiterfotografie den Versuch, Funktion und Ästhetik der Amateurfotografie am konkreten Fall des eigenen Familienalbums zu kritisieren und neue Album-Regeln zu erfinden. Damit lässt sie Bourdieu hinter sich.

Allerdings hat Bourdieu sich im Elend der Welt[15] und ebenso in einigen späten (Interview-)Äußerungen zumindest in die Nachbarschaft von engagierten Analysepraktiken wie derjenigen von Spence begeben. Das Elend der Welt ist mehr als nur die Veröffentlichung von Interviewmaterial, wie es auch für die früheren Studien von Bourdieu existiert und veröffentlicht hätte werden können. Als an prominenter Stelle in ungewöhnlichem Umfang veröffentlichtes und insbesondere aufgrund der seriellen Komposition ohne Konklusion – damit komme ich auf ästhetisch-rhetorische Strategien von Sozialforschung zu sprechen – hat jenes Interviewmaterial einen praktischen, nämlich nützlichen, Mehrwert. Für die Interviewten deswegen, weil die Gespräche ihnen ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit schenken, und zwar so, dass genau dort keineswegs inexistente Hoffnungen, Wünsche und Alternativen in Erscheinung treten, wo man eine Neigung hat, nur mehr patronisiertes, passiviertes, wenn möglich spektakuläres Elend zu sehen. In vielen Fällen haben die Interviews für die Gefragten offensichtlich auch den Charakter einer Selbstklärung und Selbstdarstellung. Gerade dort, wo die Gespräche in dem Sinn symmetrisch werden, dass die Interviewten das Fragen und bisweilen auch den distanzierten soziologischen Blick übernehmen (lernen), führt das zu einer neuen Einschätzung der eigenen Probleme als gar nicht so eigene. Solche Selbsterfahrungen sind nicht (nur) desillusionierend im Sinn der elitären Ideologiekritik, sondern – im Gegenteil – manchmal auch befreiend. Damit will ich die Probleme von Das Elend der Welt nicht beschönigen – insbesondere was die Auswahl der Befragten und den Mangel an Hintergrundinformationen über ihren sozialen Kontext betrifft, der bisweilen eine merkwürdige Auratisierung des Individuums zur Folge hat.[16]

Damit komme ich zum Gebrauchswert für die LeserInnen. Im Unterschied zum Nutzen für die Interviewten, der sich in erster Linie Bourdieus Reflexion und Kritik bestehender Interviewmethoden verdankt, profitieren die LeserInnen von den ästhetischen Darstellungsqualitäten. Wo für die Interviewten die Erfahrungen und Wünsche ihrer NachbarInnen bzw. das soziale Geflecht, dessen Teil sie sind, nur sporadisch zum Thema werden, steht diese offene Totalität, die sich weder auf einen statistischen Durchschnitt bringen noch sich als Plädoyer für die singuläre Erfahrung verstehen lässt, für die LeserInnen des Buches im Vordergrund. Diese merkwürdige Totalität verdankt sich sowohl der Gesprächsführung als auch – und stärker noch – der seriellen Komposition der Interviews. Im Vergleich mit anderen Studien Bourdieus heißt das: Zu den (zweifelsohne aufschlussreichen) Aussagen und Prognosen darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit man an einem bestimmten sozialen Ort welche Wünsche und Interessen hat, tritt im Elend der Welt die Inszenierung der alten, aber nach wie vor aktuellen ideologiekritischen Frage hinzu, wann Wünsche wirklich die eigenen sind und ob man sie von Zwängen unterscheiden kann.

Es ist wohl kein Zufall, dass Bourdieu gleichzeitig an seinem Buch über Flaubert[17] und an den Interviews für Das Elend der Welt gearbeitet hat. Und es ist sicher ebenso wenig zufällig, dass Bourdieu in dieser Zeit immer häufiger auf den französischen Gesellschaftsroman, Karl Kraus, Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek[18] verweist. Während er bei Kraus, Bernhard und Jelinek Techniken der Ironie und des Witzes herausstreicht und bedauert, dass ihm Ähnliches in der Soziologie nicht gelungen sei, betont er an den französischen Romanen deren Analysekraft und Einsicht in Gesellschaftsstrukturen. Immer wieder hebt er Flauberts gerade für die Sozialwissenschaft wichtiges Diktum hervor, in der Kunst müsse das Alltägliche, Banale, Mittelmäßige und Unbedeutende so ernst genommen werden wie das in Rang und Würden Anerkannte. Genau in dieser literarischen Strategie, die nicht nur ein Plädoyer für den Bruch mit der TeilnehmerInnenperspektive ist, sondern mindestens ebenso das Gegenteil, kommen Distanz und Engagement auf eine Weise zusammen, die in den üblichen Veröffentlichungsarten soziologischer Untersuchungen nicht oder kaum möglich ist: Die Flaubert’sche Strategie gibt jedem Einzelfall gleichermaßen viel Raum und depotenziert ihn in seiner Einzigartigkeit, zumal in Kombination mit der Serialisierungstechnik. Und das scheint mir das zentrale Kompositionsprinzip des Interviewprojekts über Das Elend der Welt. Offensichtlich spielen visuelle Strategien dabei aber keine Rolle. Bourdieu mag ein Anthropologe oder Soziologe des Visuellen sein, seine Analysen und Engagements arbeiten nicht mit dem Visuellen. Weder hat Bourdieu seine eigenen Fotos aus der Zeit in Algerien (1955–1960) je auf eine dem Elend der Welt analoge Weise benutzt, d. h. montiert, noch hat er später auf andere visuelle Strategien der Analyse oder gar des Engagements gesetzt. Eine Ahnung davon, wie ein visueller Interviewzusammenhang im Flaubert-Bourdieu’schen Sinn aussehen könnte, eröffnet meines Erachtens Kutlug Atamans „Küba“[19].

 
„Küba“

Die Videoinstallation „Küba“ umfasst 40 in einem Raum versammelte Fernsehgeräte auf Kommoden vor jeweils einem Fernsehsessel. Auf den Monitoren kommen in der Gleichzeitigkeit eines Stimmengewirrs 40 BewohnerInnen des Istanbuler Stadtteils Küba zu Wort, wobei man aufgrund der räumlichen Anordnung der Monitore jeweils nur einem Interviewgespräch wirklich folgen kann. Zwar geht es in den Interviewgesprächen am Rand immer wieder um die Frage, was denn „Küba“ definiert – und es fallen Stichworte wie kurdische community, politisch links oder kommunistisch sein, Kuba, ein unverbrüchlicher und anderswo nie erfahrener sozialer Zusammenhalt, Kleinkriminalität, permanente Gewalt im Innern und noch stärker von außen. Doch letztlich erweist sich dies alles als zweitrangig gegenüber der Frage, wie die Einzelnen ihr rundum bedrohtes Leben auf die Reihe bekommen. Was sich in den Erzählungen von diesen Leben wiederholt, ist eine erdrückende Gewalt – zwischen den Geschlechtern, den Generationen, vor allem aber zwischen dem Innen und dem Außen des Stadtteils – bei gleichzeitiger und paradoxer Insistenz auf Küba als dem Inbegriff von Heimat und Solidarität. So entsteht das Bild eines gesellschaftlichen Randes, mit dem der große Rest der türkischen Gesellschaft, zu der das Küba-Porträt auf komplexe Weise Nein sagt, nichts zu tun haben möchte – außer in der Form von polizeilicher Intervention.

Ähnlich wie Das Elend der Welt unterscheidet „Küba“ sich von soziologischen Erhebungen zu Fragen gesellschaftlicher Unzufriedenheit zunächst einmal dadurch, dass keine Schlüsse gezogen, Verallgemeinerungen angestellt oder Prognosen gemacht werden. Auch die Länge und die Ausführlichkeit der veröffentlichten Interviews, die – sowohl in „Küba“ als auch im Elend der Welt – aufgrund der Zurückhaltung der Interviewenden die Form von monologischen Geschichten annehmen, markieren einen Unterschied gegenüber den üblichen Formaten von Sozialforschung. Doch der Installationscharakter von „Küba“ fügt zur linearen Leseerfahrung, die Das Elend der Welt fordert, etwas Entscheidendes hinzu: die permanente akustische und räumliche Anwesenheit aller Interviewten. Dadurch ist der gesellschaftliche Kontext immer anwesend und entauratisiert den Existenzialismus der individuellen Geschichten, die gerade in Bourdieus Studie nicht ohne Probleme sind.

 
Eine andere (Sicht auf die) Kunst

Bourdieu hat nicht nur KünstlerInnen inspiriert, sondern sich mindestens ebenso von künstlerischen Strategien inspirieren lassen, allerdings kaum in visueller oder räumlicher Hinsicht. Das ist angesichts des exzessiven Fotografierens zu Beginn seiner Tätigkeit als Sozialwissenschaftler in Algerien ebenso erstaunlich wie im Licht seiner Überlegungen zur sozialen Räumlichkeit. Noch erstaunlicher finde ich, dass Bourdieu sich für Kunst lange Zeit hauptsächlich als Einsatz und Währung auf dem Spielfeld der Macht interessiert hat.[20] Den aufklärerischen, gar subversiven und erst recht den engagierten Seiten der Kunst hingegen hat Bourdieu bis in die 1990er Jahre keine Aufmerksamkeit geschenkt.[21] Das bedeutet, dass er ästhetische Techniken als Erkenntnismöglichkeiten lange nicht ernst genommen hat.[22] Wo er es zuletzt doch tat, blieb es bei der Bewunderung einiger KünstlerInnen. Auch dem reflektiertesten aller PraxistheoretikerInnen war es offensichtlich nicht – zumindest sehr lange nicht – möglich, mit den Zwängen des sozialwissenschaftlichen Rationalismus zu spielen und sie mit der Wissenschaftlichkeit der Kunst herauszufordern. Das ist wohl auf das akademische Feld selbst zurückzuführen und mag verstärkt worden sein durch Bourdieus gespaltene Position darin.



[1] Pierre Bourdieu, Esquisse d’une théorie de la pratique, Genf 1972, S. 153.

[2] Pierre Bourdieu, Le sens pratique, Paris 1980; dt.: Sozialer Sinn, Frankfurt a. M. 1987.

[3] Vgl. z. B. Andreas Reckwitz, „Toward a Theory of Social Practices. A Developement in Culturalist Theorizing“, in: European Journal of Social Theory, 5, 2002, S. 243–263.

[4] Unter „Habitus“ ist nicht ein geschlossenes Regelsystem, sondern sind vielmehr Schemata zu verstehen, die bestimmte Möglichkeiten zur Verfügung stellen, und zwar in unendlicher, nicht antizipierbarer Vielfalt. Zum Verhältnis zwischen Habitus und Feld vgl. auch Pierre Bourdieu / Loïc J.D. Wacquant, An Invitation to Reflexive Sociology, Chicago 1992, S. 126 ff., sowie Beate Krais / Gunter Gebauer, Habitus, Bielefeld 2002.

[5] Pierre Bourdieu / Alain Darbel, Die Liebe zur Kunst, Konstanz 2006 (frz. 1966).

[6] So schreibt etwa Theodore R. Schatzki (mit Berufung auf Bourdieu) in seinem praxistheoretischen Klassiker The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, PA, 2002, S. XVIII: „As stated, I defend my social ontology through descriptions of empirical phenomena that illustrate and lend it plausibility. Two examples, in particular, are developed in the following, both in great detail: the medicinal herb business of the Shaker village of New Lebanon, New York, in the mid-nineteenth century, and contemporary day trading on the Nasdaq market.“

[7] Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001 (frz. 1997).

[8] In Sozialer Sinn, a. a. O., S. 23, bezeichnet er die stark von Lévi-Strauss beeinflusste Studie „Das Haus oder die verkehrte Welt“ als seine „letzte Arbeit als unbefangener Strukturalist“. Der/die strukturalistische SoziologIn missversteht Bourdieu zufolge insbesondere die Zeitstruktur der beobachteten Praktiken, weil er/sie zu sehr auf das opus operatum, das Produkt der Praxis, fixiert ist, statt auf ihren Verlauf zu achten.

[9] Vgl. Bourdieu 1987, op. cit., 1. Kapitel, insbes. S. 68.

[10] Das ist auch David Streckers Kritik an Bourdieu. Vgl. David Strecker, Logik der Macht. Zum Ort der Kritik zwischen Theorie und Praxis, Diss. FU Berlin 2006, S. 125 ff.

[11] Vgl. Bourdieu 1987, op. cit., S. 128.

[12] Pierre Bourdieu / Luc Boltanski / Pierre Castel / Jean-Claude Chamboredon / Gérard Lagneau / Dominique Schnapper, Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt a. M. 1981 (frz. 1965).

[13] Vgl. Jo Spence, Beyond the Perfect Image. Photography, Subjectivity, Antagonism, Barcelona 2005. Die darin dokumentierte Arbeit „Beyond the Family Album“ ist 1976 entstanden.

[14] Ausführlicher erläutert habe ich das in „Eine Ästhetik der Kritik muss auch eine Kritik der Ästhetik sein“, in: Jörg Huber et al. (Hg.), Ästhetik der Kritik. Verdeckte Ermittlung, Wien / Zürich / New York 2007, S. 53–65.

[15] Pierre Bourdieu et al., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997 (frz. 1993).

[16] Vgl. diesbezüglich die konstruktive Kritik von Angela McRobbie, „A Mixed Bag of Misfortune? Bourdieu’s Weight of the World“, in: Dies., The Uses of Cultural Studies, London / Thousand Oaks / New Delhi 2005, S. 175–184.

[17] Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, Frankfurt a. M. 1999 (frz. 1992).

[18] Z. B. im Interview „Die Welt entfatalisieren“, in: Josef Jurt (Hg.), absolute. Pierre Bourdieu, Freiburg 2003, S. 13.

[19] Küba. Journey Against the Current, Wien: Thyssen-Bornemisza Art Contemporary 2006.

[20] Dazu kommt das Problem, dass Bourdieu eine Neigung hatte, nur Kunst-Kunst ernst zu nehmen. Vgl. dazu John Miller, „Das (Wasser-)Bett des Prokrustes. Die Definition der Populärkultur in Pierre Bourdieus La Distinction“, in: Beatrice von Bismarck / Diethelm Stoller / Ulf Wuggenig (Hg.), Games, Fights, Collaborations, Ostfildern-Ruit 1996, S. 23–27.

[21] Ein Wendepunkt ist diesbezüglich der Dialog mit Hans Haacke: Pierre Bourdieu / Hans Haacke, Freier Austausch. Für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens, Frankfurt a. M. 1995.

[22] Zu diesem Ergebnis kommen auch Michael Grenfell und Cheryl Hardy in Art Rules. Pierre Bourdieu and the Visual Arts, Oxford / New York 2007.